hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 971

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 391/07, Beschluss v. 12.09.2007, HRRS 2007 Nr. 971


BGH 1 StR 391/07 - Beschluss vom 12. September 2007 (LG München)

Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung (neue Tatsache: Therapieabbruch, Ausweitung des in Betracht kommenden Opferkreises beim sexuellen Missbrauch von Kindern; mündliche und schriftliche Äußerungen im Strafvollzug zu sexuellen Phantasien).

§ 66b Abs. 1 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung setzt voraus, dass nach der letzten Verhandlung in der Tatsacheninstanz und vor Ende des Vollzuges der verhängten Freiheitsstrafe Tatsachen erkennbar werden, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Betroffenen für die Allgemeinheit hinweisen (BGH NJW 2005, 3078, 3080; NStZ 2005, 561, 562; 2006, 155 f.). Demgegenüber scheiden Umstände, die dem ersten Tatrichter bekannt waren oder die er hätte erkennen und erforderlichenfalls aufklären müssen, als "neue" Tatsachen aus. Das Verfahren nach § 66b Abs. 1 und 2 StGB dient nicht der Korrektur früherer Entscheidungen, in denen derartige Tatsachen bei der Entscheidung über die Anordnung einer Maßregel nach § 66 StGB unberücksichtigt geblieben sind.

2. Anwendung auf einen Einzelfall im Vollzug erweiterten sexuellen Suchverhaltens (Opfer außerhalb des engen Familienkreises) bei vorherigem mehrfachen sexuellen Missbrauch von Kindern in der eigenen Familie.

Entscheidungstenor

Die Revision des Betroffenen gegen das Urteil des Landgerichts München II vom 12. April 2007 wird als unbegründet verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat die nachträgliche Unterbringung des Betroffenen in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 1 StGB angeordnet. Hiergegen wendet sich die Revision des Betroffenen mit der Rüge der Verletzung sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg.

I.

1. Der Betroffene war vom Landgericht München II am 22. November 2001 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 245 Fällen sowie versuchten schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt worden. Hauptsächlicher Gegenstand des Urteils waren sexuelle Übergriffe des Betroffenen auf seine am 9. September 1982 geborene Tochter R. und die am 5. Mai 1987 geborene Tochter A. im Zeitraum zwischen September 1988 und März 2001. Der Betroffene führte die Taten in jeweils ähnlicher Weise aus. Seine Töchter mussten mehrfach sein Glied in den Mund nehmen, mussten ihn oral und mit der Hand befriedigen. Der Betroffene onanierte auch vor den Mädchen, küsste A., leckte ihre Scheide und versuchte auch sein Glied in ihre Scheide einzuführen. Die Vorfälle fanden jeweils in der elterlichen Wohnung statt.

Die Jugendkammer hatte zugunsten des Betroffenen das umfassende, von Schuldeinsicht getragene Geständnis berücksichtigt. Dieses Geständnis erfolgte von Anfang an bereits vor der Polizei und wurde vom Betroffenen in der Hauptverhandlung voll aufrechterhalten. Er brachte von vornherein zum Ausdruck, dass er seinen Töchtern eine belastende Vernehmung in der Hauptverhandlung unbedingt ersparen wollte. Der Betroffene zeigte eine Geständnisbereitschaft in einem Umfange, wie sie bei derartigen Delikten selten vorkommt.

Außerdem hatte die Jugendkammer berücksichtigt, dass der Betroffene bisher strafrechtlich noch nicht in Erscheinung getreten war und auch ihn die Folgen der Straftaten schwer getroffen hatten, weil seine Ehe zerstört war und er seine Arbeitsstelle verloren hatte.

2. Nach den Feststellungen der nunmehr befassten Jugendkammer begann der Betroffene am 2. Oktober 2002 eine Therapie auf der sozialtherapeutischen Abteilung der JVA Amberg, die er am 21. Oktober 2003 abbrach. Nach seiner Rückverlegung in die JVA Straubing wurde der Betroffene am 19. Juli 2004 in die dortige sozialtherapeutische Abteilung aufgenommen. Am 2. Juni 2005 wurde er aus der Behandlungsmaßnahme abgelöst und am 14. Juni 2005 in die JVA Bernau verlegt.

Zum Verlauf der therapeutischen Maßnahmen hat die Jugendkammer folgende Feststellungen getroffen:

In der sozialtherapeutischen Abteilung der JVA Amberg arbeitete der Betroffene zunächst in den Gruppensitzungen und den Einzelgesprächen engagiert mit. Nach etwa einem halben Jahr begann er, die Therapiesitzungen zunehmend zu sexualisieren. Seine Missbrauchsphantasien nahmen zu und gewannen verstärkt an Bedeutung. Er weigerte sich immer mehr, sich auf gruppentherapeutische Prozesse einzulassen und sich aktiv mit dem Bedeutungsgehalt seiner sexuellen Phantasien auseinanderzusetzen und Strategien zur Vermeidung künftiger Sexualtaten zu entwickeln. Im Gegenteil nahm er die Hausaufgabe an, sich binnen einer Woche mit den abgeurteilten Taten auf mindestens einer Seite schriftlich auseinanderzusetzen. Dies nahm er zum Anlass, über mehrere Wochen einen etwa 400-seitigen Bericht zu fertigen.

Neben den abgeurteilten Taten beschrieb er ausführlich sexuelle Erlebnisse und Phantasien mit kleinen Kindern und Mädchen. Dieser Bericht diente dem Betroffenen nicht zur Aufarbeitung der von ihm begangenen Straftaten, sondern als Mittel zur sexuellen Erregung, mit der er auch vor anderen Mitgefangenen aus der Therapiegruppe kokettierte, obwohl diese daran kein Interesse hatten.

Im weiteren Therapieverlauf erklärte er mehrfach, dass er sich nicht mehr recht entscheiden könne, ob er seine Phantasien überhaupt loslassen wolle, wobei er angab, seine Phantasien selbst steuern zu können. Er eröffnete seiner Therapeutin, die, wie auch der Leiter der sozialtherapeutischen Abteilung, ihn nochmals motivieren wollte, dass er definitiv den Abbruch und die sofortige Rückverlegung in die JVA Straubing wünsche.

In der sozialtherapeutischen Abteilung der JVA Straubing war der Betroffene anfangs einsichtig bezüglich des Therapiebedarfs und er war interessiert und motiviert. Seine Bereitschaft nahm jedoch ab Februar 2005 kontinuierlich ab. Absprachen hielt er nicht ein und begann zunehmend, den Therapieinhalt zu sexualisieren, um sich dadurch auch zu stimulieren. In seiner Haftzelle wurden zweimal ein Ordner mit Bildern spärlich bekleideter Kinder bzw. unbekleideter junger Mädchen und junger pubertierender Frauen gefunden. Diese Bilder dienten dem Betroffenen zur sexuellen Stimulation. Auch erledigte der Betroffene seine therapeutischen Hausaufgaben nicht, er brachte vielmehr zum Ausdruck, dass er durch seinen dicken Panzer nichts durchdringen lasse. Im Verlaufe des Vollzuges in der JVA Straubing äußerte der Betroffene gegenüber einem Mitgefangenen zweimal: "Ich stehe auf kleine Kinder und werde mich auch nach der Haft erneut mit Kindern einlassen".

In der JVA Bernau erklärte der Betroffene im Juli 2005 gegenüber Mitgefangenen, nachdem ihn diese in der Anstaltsküche nach seinen Straftaten befragt hatten: "Ich sitze wegen Kindesmissbrauch, stehe dazu und wenn ich rauskomme, mache ich weiter". Im Januar 2006 wurde ein Brief des Betroffenen angehalten, weil auf dem Briefumschlag ein vom Verurteilten selbst gezeichneter (durchgepauster) Säugling (sog. "Windel Winnie") unter einer Bettdecke mit erigiertem Penis (in Form einer eingezeichneten spitzen Erhebung in der Bettdecke am entsprechenden Körperbereich des Kindes) dargestellt war.

In der Hauptverhandlung erklärte der Betroffene, dass er nicht ohne eine Therapie "auf die Menschheit losgelassen werden wolle", auch wenn er schwöre, "niemanden mehr anzurühren".

3. Das Landgericht hat die Voraussetzungen der nachträglichen Sicherungsverwahrung bejaht (§ 66b Abs. 1 StGB). Als neue Tatsachen im Sinne der Vorschrift hat es die konkrete Erweiterung des sexuellen Suchverhaltens auf Opfer außerhalb des engen Familienkreises gewertet. Anhaltspunkte dafür, dass der Betroffene bereits damals ein Kind außerhalb des engsten Familienkreises missbraucht hatte, habe es im Ausgangsverfahren bis zu dessen Abschluss nicht gegeben. Auch eine Wiederholungsgefahr sei für die damalige Jugendkammer nur für die damals bestehende Familienbeziehung oder ähnlich gelagerte familiäre Konstellationen erkennbar gewesen. Beide Sachverständige hätten ausgeführt, dass die Erweiterung des sexuellen Suchverhaltens auf Dritte in einem das Rückfallrisiko deutlich erhöhenden "prognoserelevanten symptomatischen Zusammenhang" stehe. Neu sei aber vor allem die zunehmende Dominanz der Missbrauchsphantasien im Laufe des Strafvollzuges. Auch wenn dem Betroffenen im Ausgangsverfahren eine Vielzahl von Taten zur Last gelegt worden seien, hätten sich die Missbrauchsphantasien erst im Verlauf des Vollzuges derart intensiviert und verselbständigt, dass sie als suchtartig zu bezeichnen seien. Es könne deshalb letztlich dahinstehen, ob bei der Anlassverurteilung eine Form der Pädophilie erkennbar gewesen wäre. Neue Tatsachen lägen dann vor, wenn ausreichende tatsächliche Anknüpfungstatsachen belegten, dass sich eine bekannte oder erkennbare Störung in nicht vorhersehbarer Weise so vertieft und verändert habe, dass sie die Gefährlichkeit des Betroffenen in einem grundsätzlich anderen Licht erscheinen lasse.

Keine neuen Tatsachen stellten dagegen der zweimalige Abbruch bzw. die Ablösung des Betroffenen aus der Therapie dar, weil im Anlassverfahren die Notwendigkeit einer Sexualtherapie überhaupt nicht thematisiert worden sei und der Betroffene keine Therapiewilligkeit bekundet habe.

In seiner Gesamtwürdigung kommt das Landgericht sachverständig beraten zu der Einschätzung, dass beim Betroffenen zwar keine Kernpädophilie zu diagnostizieren sei, sich das Rückfallrisiko aufgrund der Entwicklung zu suchtartigen Missbrauchsphantasien und die Ankündigung gleichartiger einschlägiger Straftaten - ausgehend von einer statistischen Rückfallwahrscheinlichkeit für sexuelle Missbraucher von etwa 35 % - als doppelt so hoch anzusehen sei. Die Jugendkammer hat auch angenommen, dass der Betroffene in absehbarer Zeit nach seiner Haftentlassung erhebliche einschlägige Straftaten begehen werde. Damit sei die geforderte konkrete erhebliche Wahrscheinlichkeit schwerer Schädigung von Personen auch gegenwärtig.

4. Dies hält rechtlicher Nachprüfung stand.

a) Das Landgericht hat die Eingangsvoraussetzungen des § 66b Abs. 1 StGB zu Recht bejaht.

b) Die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung setzt weiterhin voraus, dass nach der letzten Verhandlung in der Tatsacheninstanz und vor Ende des Vollzuges der verhängten Freiheitsstrafe Tatsachen erkennbar werden, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Betroffenen für die Allgemeinheit hinweisen (BGH NJW 2005, 3078, 3080; NStZ 2005, 561, 562; 2006, 155 f.). Demgegenüber scheiden Umstände, die dem ersten Tatrichter bekannt waren oder die er hätte erkennen und erforderlichenfalls aufklären müssen, als "neue" Tatsachen aus. Das Verfahren nach § 66b Abs. 1 und 2 StGB dient nicht der Korrektur früherer Entscheidungen, in denen derartige Tatsachen bei der Entscheidung über die Anordnung einer Maßregel nach § 66 StGB unberücksichtigt geblieben sind.

Nach diesen Kriterien ist das Landgericht, ohne dass der Senat hierzu weitere Ausführungen machen müsste, rechtsfehlerfrei vom Vorliegen "neuer" Tatsachen im Sinne des § 66b StGB ausgegangen und hat im Rahmen einer durchgeführten Gesamtwürdigung rechtsfehlerfrei die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung ausgesprochen.

HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 971

Bearbeiter: Karsten Gaede