HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 1142
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 189/07, Urteil v. 24.10.2007, HRRS 2007 Nr. 1142
1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Landshut vom 20. Dezember 2006 aufgehoben, soweit die Angeklagten von den Vorwürfen des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt und des Erschleichens von Aufenthaltsgenehmigungen freigesprochen worden sind.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat die Angeklagten von den Vorwürfen des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt (§ 266a Abs. 1 StGB), des Erschleichens von Aufenthaltsgenehmigungen (§ 92 Abs. 2 Nr. 2 AuslG aF) und des Überlassens ausländischer Leiharbeitnehmer ohne Genehmigung (§ 15 Abs. 1 AÜG) freigesprochen.
Mit den auf die Sachbeschwerde gestützten Revisionen wendet sich die Staatsanwaltschaft gegen die Freisprüche, soweit diese die Vorwürfe des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt für den Zeitraum bis zum 30. April 2004 sowie des Erschleichens von Aufenthaltsgenehmigungen betreffen. Die Rechtsmittel haben Erfolg. Hinsichtlich der Vorwürfe des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt führen sie allerdings auch insoweit zur Aufhebung der Freisprüche ohne zeitliche Begrenzung.
1. Das Landgericht hat festgestellt:
Der Angeklagte J. F. war Geschäftsführer der L. mit Sitz in Berlin, die beim Ordnungsamt Berlin-Lichtenberg als unselbständige Zweigniederlassung der L. mit Hauptsitz in Ungarn angemeldet war (fortan: Firma L.). Er hatte dem Angeklagten K. F., seinem Bruder, der mehrheitlicher Gesellschafter der Firma L. war, eine weitgehende Vollmacht erteilt, Geschäfte für die Firma zu tätigen. Der Angeklagte J. F. war weiterhin einer von zwei Geschäftsführern der I. -M. -B. mit Sitz in Berlin, die beim Ordnungsamt Berlin-Hohenschönhausen als unselbständige Zweigniederlassung der I.-M.-B. mit Hauptsitz in Ungarn angemeldet war (fortan: Firma IMB). Der Angeklagte J. F. hielt 20%, der Angeklagte K. F. 60% der Gesellschaftsanteile. Diesem hatte der andere der beiden Geschäftsführer eine weitgehende Vollmacht erteilt, Geschäfte für die Firma zu tätigen.
Unter der als Hauptsitz der Firma L. angegebenen ungarischen Adresse befanden sich keine von ihr genutzten Räumlichkeiten. In einer "kleinen Wohnung" unter der als Hauptsitz der Firma IMB angegebenen ungarischen Adresse erfolgten für beide Firmen lediglich die Anwerbung von Personal und die Durchführung administrativer Tätigkeiten für die im Ausland zu erbringenden werkvertraglichen Leistungen.
a) Zu den Vorwürfen des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt:
Die Angeklagten schlossen für die Firmen L. und IMB - der Angeklagte K. F. allerdings nicht als faktischer Geschäftsführer - Werkverträge mit verschiedenen deutschen Unternehmen ab, wonach die Firmen für diese als Subunternehmerinnen tätig werden sollten. Auf Grund der Verträge wurden ungarische Arbeitnehmer bei den deutschen Unternehmen eingesetzt, für die der Angeklagte J. F. den sozialversicherungsrechtlichen Ausnahmetatbestand der Entsendung nach dem Sozialversicherungsabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Ungarn vom 2. Mai 1998 in Anspruch nahm. Die Arbeitnehmer waren nicht in den Betriebsablauf der deutschen Unternehmen eingegliedert, sondern arbeiteten jeweils unter Leitung eines Vorarbeiters der Firma selbständig entsprechend den Werkverträgen.
Beide Firmen waren keine Unternehmen, die in Ungarn jemals die "Schwerpunkttätigkeit" in den Branchen hatten, in denen die Leistungen in den deutschen Unternehmen erbracht wurden (Fleischzerlegung bzw. Montage sowie Schlosser- und Schweißerarbeiten etc.). In Ungarn hatten die Firmen "keine Produktionsstätten". Dort "wurde letztlich nur die Verwaltungstätigkeit beider Firmen ausgeübt", wofür - insgesamt - "nur zwei bis drei Mitarbeiter" beschäftigt wurden. Sämtliche von den Angeklagten in Deutschland eingesetzten Arbeitnehmer verfügten während ihrer Tätigkeit über gültige D/H-101-Bescheinigungen, welche bestätigten, dass die Arbeitnehmer nach Art. 7 des vorbezeichneten Sozialversicherungsabkommens ausschließlich dem ungarischen Sozialversicherungsrecht unterfielen. Diese Bescheinigungen waren von der zuständigen ungarischen Sozialversicherungsbehörde OEP ausgestellt worden. Wären die Arbeitnehmer in Deutschland sozialversicherungspflichtig gewesen, wären an die Einzugsstellen - nach den vom Zeugen W. bestätigten Listen im Anklagesatz - für die Monate August 1999 bis April 2005 Arbeitnehmeranteile von insgesamt 274.932,-- € (Firma L.) sowie 262.411,71 € (Firma IMB) abzuführen gewesen. Ob für die Arbeitnehmer in Ungarn Sozialversicherungsbeiträge entrichtet wurden, ist nicht festgestellt.
b) Zu den Vorwürfen des Erschleichens von Aufenthaltsgenehmigungen:
Für die ungarischen Arbeitnehmer der Firmen L. und IMB wurden zunächst beim Landesarbeitsamt Hessen unter Mitteilung der mit den deutschen Unternehmen abgeschlossenen Werkverträge sowie der von den ungarischen Behörden ausgestellten Unterlagen, insbesondere der D/H-101-Bescheinigungen, sog. Zusicherungsbescheide beantragt. In diesen - daraufhin erlassenen - Bescheiden wurde die spätere Erteilung von entsprechenden Arbeitserlaubnissen auf der Grundlage der Werkverträge zugesichert. Unter Vorlage der Zusicherungsbescheide und der D/H-101-Bescheinigungen wurden bei der deutschen Botschaft in Budapest für die Arbeitnehmer Visa beantragt, die in der Folgezeit auch erteilt wurden. Mit den Visa reisten die Arbeitnehmer in das Bundesgebiet ein, wo ihnen die zuständigen Arbeitsämter auf entsprechende Anträge Arbeitserlaubnisse ausstellten.
Nach Ablauf der zunächst auf drei Monate begrenzten Gültigkeit der Visa wurden sodann bei den deutschen Ausländerbehörden entsprechende Aufenthaltsbewilligungen beantragt. Mit diesen Anträgen wurden jeweils das für den Arbeitnehmer ursprünglich erteilte Visum, die D/H-101-Bescheinigung sowie die ihm erteilte Arbeitserlaubnis vorgelegt. Die Aufenthaltsbewilligungen wurden in der Folgezeit antragsgemäß erteilt; sie waren mit der Auflage versehen, dass die Arbeitnehmer ausschließlich eine konkret umschriebene Tätigkeit im Rahmen der Entsendung ausüben durften.
Feststellungen dazu, inwieweit die jeweiligen Anträge unter Mitwirkung oder auf Veranlassung der Angeklagten gestellt wurden, hat das Landgericht nicht getroffen.
2. Das Landgericht hat die Angeklagten aus rechtlichen Gründen freigesprochen.
a) Eine Strafbarkeit wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt nach § 266a Abs. 1 StGB hat es verneint, weil die ungarischen Arbeitnehmer in Deutschland nicht sozialversicherungspflichtig gewesen seien. Zwar seien beide Firmen nach deutschem Recht keine entsendefähigen Unternehmen.
Das Landgericht hat den D/H-101-Bescheinigungen jedoch insoweit Bindungswirkung zuerkannt. Die Grundsätze, die nach der Senatsrechtsprechung für die innerhalb der Europäischen Union verwendeten E-101-Bescheinigungen gelten (vgl. BGHSt 51, 124), seien auf die D/H-101-Bescheinigungen auf der Grundlage des deutsch-ungarischen Sozialversicherungsabkommens vom 2. Mai 1998 zu übertragen. Insbesondere die Zielsetzungen des Abkommens seien nämlich mit denjenigen der - für die Rechtslage in der Europäischen Union maßgeblichen - Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 vergleichbar. Eine Ausnahme von der Bindungswirkung wäre allenfalls dann in Betracht zu ziehen, wenn die Ausstellung der Bescheinigungen auch nach ungarischem Rechtsverständnis fehlerhaft gewesen wäre. Die ungarischen Behörden seien jedoch anhand der ihnen vorgelegten wahrheitsgemäßen Unterlagen davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen eines Entsendefalls vorlägen; für Gegenteiliges bestünden nämlich keine Anhaltspunkte.
b) Die Angeklagten hätten sich auch nicht nach ausländerrechtlichen Strafvorschriften strafbar gemacht, da die Angaben, die zur Erteilung von Visa und Aufenthaltsbewilligungen für die ungarischen Arbeitnehmer geführt hätten, nicht im Sinne von § 92 Abs. 2 Nr. 2 AuslG aF unrichtig oder unvollständig gewesen seien. Den mit den Anträgen vorgelegten D/H-101-Bescheinigungen komme auch insoweit Bindungswirkung zu. Im Hinblick auf eine Entsendung seien weitergehende Erklärungen indessen nicht abgegeben worden; so habe das Antragsformular für die Aufenthaltsbewilligungen eine Frage nach den Entsendevoraussetzungen nicht enthalten. Überdies hätten die Sachbearbeiter der Ausländerbehörden nicht materiell geprüft, ob tatsächlich Entsendefälle vorgelegen hätten.
3. Die Beschwerdeführerin beanstandet, dass die Wirtschaftsstrafkammer den D/H-101-Bescheinigungen Bindungswirkung zuerkannt hat. Sie macht geltend, die Grundsätze, die nach der Senatsrechtsprechung für E-101-Bescheinigungen gelten (vgl. BGHSt 51, 124), seien hier nicht anwendbar. Das deutsch-ungarische Sozialversicherungsabkommen habe sich von der für die Rechtslage in der Europäischen Union maßgeblichen Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 nicht nur in seinen Zielsetzungen unterschieden. Vor dem Beitritt Ungarns zur Europäischen Union zum 1. Mai 2004 sei auch kein dem Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 227 EG-Vertrag gleichwertiges Beanstandungsverfahren vorgesehen gewesen; ferner habe kein übergeordneter, Art. 10 EG-Vertrag gleichwertiger Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit gegolten. Jedenfalls hinsichtlich ausländerrechtlichen Strafvorschriften dürften aus dem Vorliegen von D/H-101-Bescheinigungen keine derart weitgehenden Schlüsse gezogen werden.
Ferner beanstandet die Beschwerdeführerin die Annahme der Kammer, dass die Ausstellung der D/H-101-Bescheinigungen ungarischem Rechtsverständnis entsprochen habe. Angesichts der Feststellungen, dass in Ungarn kein Umsatz erwirtschaftet und keine werktätigen Arbeitnehmer beschäftigt worden seien, sei nicht nachvollziehbar, dass keine Anhaltspunkte vorlägen, die dieser Annahme widersprächen.
Soweit die Revisionen die (Teil-)Freisprüche von den Vorwürfen des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt angreifen, ist die Beschränkung auf den Zeitraum bis zum 30. April 2004 gegenstandslos; dem Senat ist hier anhand der Urteilsfeststellungen eine selbständige Beurteilung der unterlassenen Beitragsentrichtung ab Mai 2004 verwehrt.
Die Freisprüche halten sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand.
1. Zu den Vorwürfen des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt:
Zu Unrecht nimmt das Landgericht an, die Angeklagten hätten den sozialrechtsakzessorischen Straftatbestand des § 266a StGB deshalb nicht verwirklicht, weil die betroffenen ungarischen Arbeitnehmer nicht der inländischen Sozialversicherungspflicht unterstanden hätten. Vielmehr ergab sich die Pflicht, Arbeitnehmerbeiträge zur deutschen Sozialversicherung zu entrichten, aus § 3 Nr. 1, § 9 Abs. 1 SGB IV, da die Arbeitnehmer nicht im Sinne von § 5 Abs. 1 SGB IV entsandt waren (nachfolgend a)) und abweichende Regelungen des über- oder zwischenstaatlichen Rechts im Sinne von § 6 SGB IV nicht bestanden (nachfolgend b)).
a) Nach deutschem Recht liegt eine Entsendung nicht vor. Denn bereits aus dem Wortlaut des § 5 Abs. 1 SGB IV ("im Rahmen eines ... Beschäftigungsverhältnisses") folgt, dass das Beschäftigungsverhältnis für die Entsendung den Rahmen bilden muss. Jedenfalls in den Fällen, in denen das Beschäftigungsverhältnis - ausnahmsweise - erst mit der Entsendung begonnen hat, ist daher erforderlich, dass infolge der Eigenart der Beschäftigung feststeht oder von vornherein vereinbart ist, dass die Beschäftigung beim entsendenden Unternehmen weitergeführt wird (BSG SozR 3-2400 § 4 SGB IV Nr. 5; vgl. auch BSGE 75, 232). Hierfür ist vorliegend nichts ersichtlich. Im Übrigen hat das Landgericht zutreffend angenommen, dass die Firmen L. und IMB nach deutschem Recht keine entsendefähigen Unternehmen sind.
b) Die in den verfahrensgegenständlichen Bescheinigungen "D/H 101" bestätigte Anwendbarkeit ungarischen Sozialversicherungsrechts führt nicht zu einer Befreiung von der inländischen Sozialversicherungspflicht.
Die D/H-101-Bescheinigungen beruhen - anders als die innerhalb der Europäischen Union verwendeten Bescheinigungen "E 101" - auf einem völkerrechtlichen Vertrag, so dass das Gemeinschaftsrecht keine Anwendung findet (nachfolgend aa)). Bisher hat der Senat ausdrücklich offen gelassen, inwieweit Bescheinigungen auf Grund bilateraler Sozialversicherungsabkommen bindend sein können (vgl. NJW 2007, 1370, 1372, zur Veröffentlichung in BGHSt 51, 224 bestimmt). Er entscheidet diese Rechtsfrage nunmehr dahingehend, dass solche Bescheinigungen, somit auch die verfahrensgegenständlichen D/H-101- Bescheinigungen keine derart weitgehende Bindungswirkung wie die E-101-Bescheinigungen haben (nachfolgend bb)). Der Senat kann dahinstehen lassen, inwieweit ihnen eine beschränkte Bindungswirkung zukommt (nachfolgend cc)); denn die gegenständlichen Beschäftigungsverhältnisse wären hiervon jedenfalls nicht erfasst (nachfolgend dd)).
aa) Rechtsgrundlage für die - vom 1. Mai 2000 bis zum 30. April 2004 maßgeblichen - D/H-101-Bescheinigungen ist nicht das Gemeinschaftsrecht, - sondern das zwischenstaatliche Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Ungarn über Soziale Sicherheit vom 2. Mai 1998 in Verbindung mit der Vereinbarung zur Durchführung dieses Abkommens vom selben Tag. Durch Gesetz vom 7. Oktober 1999 (BGBl II 900) sind Abkommen und Durchführungsvereinbarung Bestandteile des Bundesrechts geworden.
Art. 7 des Abkommens regelt die Versicherungspflicht für Fälle der Entsendung wie folgt: "Wird ein Arbeitnehmer, der in einem Vertragsstaat beschäftigt ist, im Rahmen dieses Beschäftigungsverhältnisses von seinem Arbeitgeber in den anderen Vertragsstaat entsandt, um dort eine Arbeit für diesen Arbeitgeber auszuführen, so gelten in bezug auf diese Beschäftigung während der ersten 24 Kalendermonate allein die Rechtsvorschriften des ersten Vertragsstaats über die Versicherungspflicht so weiter, als wäre er noch in dessen Hoheitsgebiet beschäftigt." Nach Art. 4 Abs. 1 Satz 1 der Durchführungsvereinbarung erteilt in diesen Fällen der zuständige Träger des Herkunftsstaats auf Antrag eine Bescheinigung darüber, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber seinen Rechtsvorschriften unterstehen.
Mit dem Beitritt der Republik Ungarn zur Europäischen Union zum 1. Mai 2004 (A Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 des EU-Beitrittsvertrags vom 16. April 2003, BGBl II 1408) hat die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 vom 14. Juni 1971 (sog. "Wanderarbeitnehmerverordnung", ABlEG L 149 vom 5. Juli 1971 S. 2, fortan: VO 1408/71) das zwischenstaatliche Abkommen über Soziale Sicherheit im Wesentlichen abgelöst. Diese Verordnung, die insbesondere in Art. 14 Abs. 1 lit. a die Entsendung regelt, wird ergänzt durch die Durchführungsvorschriften in der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 vom 21. März 1972 (ABlEG L 74 vom 27. März 1972 S. 1, fortan: VO 574/72), welche in Art. 11 vorsieht, dass der zuständige Sozialversicherungsträger des Herkunftsstaats auf Antrag die Entsendung bestätigt und für einen begrenzten Zeitraum bescheinigt, dass der Arbeitnehmer dessen Rechtsvorschriften unterstellt bleibt (sog. E-101-Bescheinigung).
Dass für Ungarn als einem der beigetretenen Staaten diese Vorschriften des Gemeinschaftsrechts rückwirkend in Kraft gesetzt werden sollten, folgt aus dem EU-Beitrittsvertrag vom 16. April 2003 nicht (vgl. nur B Art. 2, 4, 53 sowie Schlussakte II 13 "Erklärung zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer: Ungarn"). Auch aus Art. 37 ff. des Europa-Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften sowie ihren Mitgliedstaaten und der Republik Ungarn vom 16. Dezember 1991 (Assoziierungsabkommen, BGBl 1993 II 1472) lässt sich nichts Gegenteiliges herleiten (vgl. LSG NW, Beschl. vom 17. Januar 2005 - L 2 B 9/03 KR ER - Rdn. 30).
Die Anwendbarkeit von - milderem - Gemeinschaftsrecht ergibt sich auch nicht aus § 2 Abs. 3 StGB. Dass mittlerweile auch im Verhältnis zu Ungarn E-101-Bescheinigungen Verwendung finden, welche die inhaltsgleichen D/H-101-Bescheinigungen ersetzt haben, berührt nämlich den Inhalt der strafbewehrten Gebotsnorm nicht, sondern betrifft lediglich die verwaltungstechnische Abwicklung der Entsendung (vgl. Eser in Schönke/Schröder, StGB 27. Aufl. § 2 Rdn. 6 f.; ferner BGHSt 50, 105, 120 f.).
bb) Eine Gleichstellung der D/H-101-Bescheinigungen mit den E-101-Bescheinigungen und deren weitgehenden Bindungswirkung ist nicht geboten.
Die Grundsätze, die nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für die europarechtlichen Kollisionsnormen in der VO 1408/71 in Verbindung mit der VO 574/72 gelten (Urteile vom 10. Februar 2000 - Rs. C-202/97, SozR 3-6050 Art. 14 EWGV 1408/71; vom 30. März 2000 - Rs. - C-178/97, Slg. 2000 I, 2005, 2040 ff.; vom 26. Januar 2006 - Rs. C-2/05, AP EWG-Verordnung Nr. 1408/71 Nr. 13), können nicht auf das deutsch-ungarische Sozialversicherungsabkommen und die Durchführungsvereinbarung übertragen werden.
Maßgebend hierfür ist die unterschiedliche Rechtsnatur von herkömmlichen internationalen völkerrechtlichen Verträgen im Vergleich zum einheitlichen Rechtsraum, wie er für die Europäische Union kennzeichnend ist. Die supranationale Rechtsordnung der Europäischen Gemeinschaften fußt auf der Zuweisung von Souveränitätsrechten und damit einhergehend auf der Beschränkung von Souveränitätsrechten ihrer Mitgliedstaaten. Dies schließt ein, dass Behörden und Gerichte eines Mitgliedstaats auf Grund Gemeinschaftsrechts an Entscheidungen aus einem anderen Mitgliedstaat - etwa E-101-Bescheinigungen - gebunden sein können, selbst wenn diese Entscheidungen nicht der Rechtsordnung der Gemeinschaften entsprechen sollten. Mit einer solchen Beschränkung von Souveränitätsrechten korrespondiert andererseits - neben dem Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten (Art. 10 EG-Vertrag) - die Möglichkeit, gegen Entscheidungen aus einem anderen Mitgliedstaat, die der Rechtslage nicht entsprechen, effektiv vorzugehen. So können sich etwa die beteiligten Mitgliedstaaten, sollten sie sich über die Rechtmäßigkeit von E-101-Bescheinigungen nicht einigen können, an die - nach Art. 80, 81 der VO 1408/71 zu Fragen der Auslegung und Durchführung der Verordnung eingesetzten - Verwaltungskommission wenden und anschließend ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 227 EG-Vertrag einleiten.
Eine Auslegung des deutsch-ungarischen Sozialversicherungsabkommens dahingehend, dass die beiden Vertragsstaaten derart weitgehend Souveränitätsrechte wechselseitig übertragen wollten, liegt fern. Insbesondere Wortlaut und Materialien geben hierfür keinen Anhalt. Der unterschiedlichen Rechtsqualität von europarechtlichen Regelungen einerseits und bilateralem völkerrechtlichem Vertrag andererseits erlaubt eine Gleichstellung ohne einen solchen Anhalt indessen nicht. Dies gilt umso mehr, als die in Art. 39 des Abkommens vorgesehenen Möglichkeiten der Streitbeilegung nicht denjenigen innerhalb der Europäischen Union gleichkommen.
Überdies ist die weitgehende Bindungswirkung der E-101-Bescheinigungen deshalb sachgerecht, weil die europarechtlichen Kollisionsnormen - anders als das deutsch-ungarische Sozialversicherungsabkommen - an einen einheitlichen, nämlich gemeinschaftsrechtlich zu bestimmenden Entsendebegriff anknüpfen.
Die Frage der Entsendung ist damit nach dem Gemeinschaftsrecht für alle Mitgliedstaaten im gleichen Sinn verbindlich zu beantworten (vgl. Seewald in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht 54. Lfg. § 6 SGB IV Rdn. 4a m.w.N.). Gerade der gemeinschaftsrechtliche Entsendebegriff setzt unter anderem voraus, dass das entsendende Unternehmen gewöhnlich eine nennenswerte Geschäftstätigkeit im Gebiet des Herkunftsstaats verrichtet. Um dies zu beurteilen, müssen in einer Gesamtschau sämtliche Tätigkeiten des Unternehmens gewürdigt werden. Dagegen kann insbesondere ein Unternehmen, das - wie hier - im Herkunftsstaat bloß interne Verwaltungstätigkeiten ausführt, nicht den Ausnahmetatbestand der Entsendung nach der VO 1408/71 in Anspruch nehmen (vgl. Beschl. der Verwaltungskommission Nr. 181 vom 13. Dezember 2000, ABlEG L 329 vom 14. Dezember 2001 S. 73, Nr. 3 b ii; ferner EuGH, Urt. vom 10. Februar 2000 - Rs. C-202/97, SozR 3-6050 Art. 14 EWGV 1408/71 Nr. 6).
Der Senat teilt infolgedessen nicht die Auffassung, dass für die Frage einer Bindungswirkung die Zielsetzungen des deutsch-ungarischen Sozialversicherungsabkommens - auch vor dem Hintergrund des Assoziierungsabkommens vom 16. Dezember 1991 - entscheidend seien, mögen die Zielsetzungen auch mit denjenigen der VO 1408/71 in mancher Hinsicht übereinstimmen (so aber Jofer/Weiß StraFo 2007, 277, 281 f.).
cc) Den D/H-101-Bescheinigungen könnte allenfalls eine beschränkte Bindungswirkung zukommen.
Zur Prüfung einer etwaigen Bindung ist vom Wortlaut des deutsch-ungarischen Sozialversicherungsabkommens auszugehen. Bei der Auslegung von Sozialversicherungsabkommen kommt dem Vertragstext eine größere Bedeutung als bei der Auslegung rein nationaler Rechtsvorschriften zu (BSGE 72, 25, 31 m. w. N.).
Art. 7 des Abkommens enthält zwar keine abschließende Definition der Entsendung, so dass sich nach Art. 1 Abs. 2 des Abkommens die Einzelheiten ihrer Bedeutung im Grundsatz nach den anzuwendenden Rechtsvorschriften des Herkunftsstaats richten. Artikel 7 regelt jedoch Mindestvoraussetzungen; hiernach liegt ein Fall der Entsendung - nur - vor, wenn ein Arbeitnehmer, der in einem Vertragsstaat beschäftigt ist, im Rahmen dieses Beschäftigungsverhältnisses von seinem Arbeitgeber in den anderen Vertragsstaat entsandt wird, um hier eine Arbeit für diesen Arbeitgeber auszuführen. Für den so umschriebenen Fall bestimmt die Vorschrift, dass in Bezug auf diese Beschäftigung während der ersten 24 Kalendermonate allein die sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften des Herkunftsstaats weiter gelten, als wäre der Arbeitnehmer noch dort beschäftigt.
Sind die Entsendebescheinigungen gemessen an dem Wortlaut des Abkommens inhaltlich offensichtlich unzutreffend, haben die deutschen Behörden und Gerichte die Rechtslage nach deutschem Recht zu prüfen. Eine Bindung an die Bescheinigungen könnte demgegenüber allenfalls bestehen, soweit die Beschäftigungsverhältnisse, für die die Bescheinigungen erteilt wurden, noch vom möglichen Wortsinn des Vertragstexts erfasst werden, mag dieser in Deutschland auch anders ausgelegt werden.
In diesem Sinne versteht der Senat auch die Ausführungen des Bundessozialgerichts in dem Urteil vom 16. Dezember 1999 - B 14 KG 1/99 R (= BSGE 85, 240) zu Entsendebescheinigungen auf Grund des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien über Soziale Sicherheit (ebenso BayLSG, Urt. vom 23. Januar 2007 - L 5 KR 124/05 - Rdn. 31 zum deutsch-polnischen Sozialversicherungsabkommen).
Hiernach sind der "deutsche Sozialleistungsträger und die deutschen Sozialgerichte ... grundsätzlich nicht berechtigt, Entscheidungen des ausländischen Trägers über die nach dessen Recht ... maßgebenden Voraussetzungen für die Entsendung von Arbeitnehmern zu überprüfen. Der deutsche Sozialleistungsträger und die deutschen Sozialgerichte sind allerdings berechtigt zu überprüfen, ob die im anderen Vertragsstaat zuständige Stelle die Vorschriften des Abkommens richtig angewandt hat. Nur insoweit besteht keine Bindung an die Auslegung oder Anwendung des Abkommens durch den im anderen Vertragsstaat zuständigen Träger" (BSG aaO 243).
dd) Eine etwaige beschränkte Bindungswirkung der D/H-101-Bescheinigungen ist für die gegenständlichen Beschäftigungsverhältnisse ohne Bedeutung.
Denn eine solche Bindungswirkung fände nach dem oben Gesagten (s. III.1.b cc)) ihre Grenze dort, wo die Bescheinigungen - wie hier - gemessen am Wortlaut des Abkommens inhaltlich offensichtlich unzutreffend sind.
Gemäß Art. 7 des Abkommens lagen keine Fälle der Entsendung vor. Nach den Feststellungen des Landgerichts trifft es nicht zu, dass die ungarischen Arbeitnehmer in Ungarn beschäftigt waren und im Rahmen dieser Beschäftigungsverhältnisse von den Firmen L. und IMB nach Deutschland entsandt wurden, um eine Arbeit für diese Firmen auszuführen. Vielmehr wurden die Arbeitnehmer in Ungarn nur angeworben, damit sie Arbeitsleistungen in den deutschen Unternehmen erbrachten; es spricht nichts dafür, dass die Arbeitnehmer nach Beendigung der Entsendung weiterbeschäftigt werden sollten.
Die beiden Firmen waren in Ungarn jedenfalls zu keiner Zeit in denselben Branchen (Fleischzerlegung bzw. Montage sowie Schlosser- und Schweißerarbeiten etc.) wie in Deutschland tätig. Im verfahrensgegenständlichen Zeitraum wurde in Ungarn kein Umsatz erwirtschaftet. Dort wurden vielmehr nur interne Verwaltungstätigkeiten durchgeführt, wobei "nur zwei bis drei Mitarbeiter" beschäftigt wurden. Zu diesem Zweck verfügte lediglich die Firma IMB unter ihrer als Hauptsitz angegebenen Adresse über Wohnraum, der von beiden Firmen für Bürotätigkeiten genutzt wurde. Infolgedessen konnte das ungarische Sozialversicherungsrecht nicht - so Artikel 7 - weiter gelten, als wären die Arbeitnehmer noch in Ungarn beschäftigt.
Darauf, ob die Ausstellung der D/H-101-Bescheinigungen durch die zuständige ungarische Sozialversicherungsbehörde OEP der ungarischen Rechtslage entsprach (vgl. BSGE 85, 240, 244: "Rechtsverständnis"), kommt es bei Berücksichtigung des Wortlauts des Abkommens nicht mehr an. Unbeschadet dessen bestünden aber auch Zweifel, ob nach ungarischem Recht Entsendungsfälle vorlagen. Denn § 105 Abs. 1 des ungarischen Gesetzes Nr. XXII von 1992 über das Arbeitsgesetzbuch lautet wie folgt:
"Der Arbeitgeber kann den Arbeitnehmer aus wirtschaftlichen Interessen zeitweilig zu einer Arbeitsverrichtung außerhalb des gewöhnlichen Ortes seiner Arbeitsverrichtung verpflichten (Entsendung). Voraussetzung dessen ist, dass der Arbeitnehmer auch während dieses Zeitraumes seine Arbeit auf Anleitung und Anweisung des Arbeitgebers verrichtet. Es wird nicht als Entsendung angesehen, wenn der Arbeitnehmer seine Arbeit - aus der Natur der Arbeit heraus - gewöhnlich außerhalb der Niederlassung verrichtet."
Mit dem Wortlaut dieser Vorschrift ("außerhalb des gewöhnlichen Ortes") sind die Feststellungen des Landgerichts nur schwerlich in Einklang zu bringen. Auch deswegen und in Anbetracht der räumlichen Ausstattung der beiden Firmen versteht es sich nicht von selbst, dass gegenüber den ungarischen Behörden keine falschen Angaben gemacht wurden, um dem ungarischen Recht nicht entsprechende Entsendebescheinigungen zu erhalten. Die Frage nach der Rechtslage in Ungarn ist eine Rechtsfrage, welche der eigenständigen Beurteilung durch das Revisionsgericht - unabhängig von Mutmaßungen zum "Rechtsverständnis" nicht individualisierter Behördenmitarbeiter - unterliegt. Hierauf kommt es nach dem zuvor Gesagten jedoch nicht an, so dass der Senat dieser Rechtsfrage nicht näher nachzugehen braucht.
ee) Nach alledem muss der Senat nicht der Frage nachgehen, wie es revisionsrechtlich zu beurteilen ist, dass das Urteil davon auszugehen scheint, die D/H-101-Bescheinigungen hätten bereits vor dem Inkrafttreten des Abkommens am 1. Mai 2000 (BGBl II 644), nämlich ab August 1999 (s. I.1.a)) vorgelegen.
2. Zu den Vorwürfen des Erschleichens von Aufenthaltsgenehmigungen:
Die Ausführungen, mit denen die Kammer eine Strafbarkeit nach ausländerrechtlichen Strafvorschriften abgelehnt hat, sind nicht frei von Rechtsfehlern.
Gemäß den obigen Ausführungen (s. III.1.b)) vermag der Senat der Kammer nicht darin zu folgen, dass für die ungarischen Arbeitnehmer schon deshalb keine unrichtigen oder unvollständigen Angaben im Sinne von § 92 Abs. 2 Nr. 2 AuslG aF gemacht worden seien, weil der Inhalt der D/H-101- Bescheinigungen auch insoweit bindend sei. Die Richtigkeit und Vollständigkeit - der Angaben hängt vielmehr von den tatsächlichen Gegebenheiten ab. Hiernach lagen keine Fälle der Entsendung vor.
Zwar wurden bei der Beantragung der Visa und Aufenthaltsbewilligungen keine ausdrücklichen Erklärungen im Hinblick auf eine Entsendung abgegeben.
Es liegt jedoch nahe, dass mit der Vorlage der D/H-101-Bescheinigungen die konkludente Erklärung verbunden war, dass die Arbeitnehmer tatsächlich im Rahmen eines in Ungarn bestehenden Beschäftigungsverhältnisses in das Bundesgebiet entsandt waren. Dass es den Ausländerbehörden im Verfahren über die Erteilung der Aufenthaltsbewilligungen hierauf ankam, ergibt sich schon daraus, dass diese mit einer entsprechenden Auflage versehen wurden.
Wäre aber der Ausnahmetatbestand der Entsendung jeweils konkludent vorgespiegelt worden, wären die Anträge nach den Urteilsfeststellungen - objektiv - "unrichtig" gewesen. Dies hätte daher näherer Erörterung bedurft.
§ 92 Abs. 2 Nr. 2 AuslG aF setzt auch eine materielle Prüfung der Entsendevoraussetzungen durch die Ausländerbehörden nicht voraus. Sein Wortlaut ("um zu") nimmt Bezug auf die Absicht des Täters, mit den unzutreffenden Angaben bestimmte Aufenthaltstitel zu erlangen.
Der Beitritt Ungarns zur Europäischen Union zum 1. Mai 2004 lässt eine etwaige Strafbarkeit der Angeklagten wegen Erschleichens von Aufenthaltsgenehmigungen nach § 92 Abs. 2 Nr. 2 AuslG aF - nunmehr: § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG - unberührt (vgl. BGHSt 50, 105, 120 f.).
HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 1142
Bearbeiter: Karsten Gaede