HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 622
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 113/06, Urteil v. 27.06.2006, HRRS 2006 Nr. 622
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 22. November 2005 mit den zugehörigen Feststellungen, mit Ausnahme derjenigen zum äußeren Tatgeschehen, aufgehoben und die Sache in diesem Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Mit ihrer auf die Sachrüge gestützten Revision beanstandet die Staatsanwaltschaft die Verneinung des Mordmerkmals Heimtücke. Die Revision wird vom Generalbundesanwalt vertreten und erstrebt eine Verurteilung wegen Mordes. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:
Der Angeklagte lebte vorübergehend im Haushalt seiner Cousine M. B., des späteren Tatopfers, zu der er eine intime Beziehung unterhielt. Am Abend des 28. Februar 2005 kamen in ihm unbegründete Eifersuchtsgedanken auf. Er steigerte sich derart hinein, dass er nicht einschlafen konnte. Der Angeklagte, der alkoholabhängig ist, aber seit sieben Jahren abstinent lebte, wurde alkoholrückfällig. Er trank heimlich 0,5 Liter 40 %-igen Calvados. Am nächsten Morgen, dem 1. März 2005, bemerkte M. B. die Alkoholisierung des Angeklagten. Sie erklärte ihm, dass sie mit einem Alkoholiker nichts zu tun haben wolle und äußerte Unverständnis über seine Eifersucht. Im Rahmen dieses Streitgesprächs trat der Angeklagte von hinten an M. B. heran und nahm sie mit seinem rechten Unterarm mindestens 20 bis 30 Sekunden in einen Halswürgegriff. Dadurch erlitt sie leichte Verletzungen im Bereich der inneren Halsorgane. Mit der linken Hand ergriff er nun mit erst jetzt sicher nachweisbarem Tötungsvorsatz ein Küchenmesser und versetzte ihr damit zwei Messerstiche in den Bauchbereich, die die Leber kreuzförmig durchstachen. Dann löste er den Unterarmgriff und fügte ihr einen oberflächlichen Bauchstich und einen oberflächlichen Stich in die linke seitliche Brustwand zu. Danach versetzte er ihr fünf weitere Stiche in den Rücken-, Lenden- und seitlichen Rumpfbereich, wobei sie möglicherweise bereits am Boden lag, sich in einer Drehbewegung befand oder er um sie herumgegangen war. Von diesen Stichen führten drei binnen weniger Minuten zum Tode durch Verbluten und Zusammenbruch der Atmung.
Die Tat erfolgte zwischen 7.00 und 8.00 Uhr, nachdem die beiden Söhne des Tatopfers zur Schule gegangen waren. Der Angeklagte trank nach der Tat noch 0,1 Liter Calvados. Nach vorangegangenen anderen Telefonaten benachrichtigte er um 11.04 Uhr die Polizei. Die ihm um 12.01 Uhr entnommene Blutprobe ergab eine Blutalkoholkonzentration von 2,09 o/oo.
2. Das Landgericht hat das Tatgeschehen als Totschlag gewertet. Auch das Vorliegen des Mordmerkmals Heimtücke hat es ausgeschlossen. Zwar sei das Opfer objektiv arg- und wehrlos gewesen, als der Angeklagte es von hinten in den Unterarmwürgegriff genommen habe, für diesen Zeitpunkt sei aber ein Tötungsvorsatz nicht sicher feststellbar gewesen. Als der Angeklagte dann zum Messer gegriffen habe, sei das Opfer nicht mehr arglos gewesen. Im Übrigen gebe es keinen Nachweis für ein bewusstes Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit durch den Angeklagten. Zwar habe ein gewisses Vertrauens- und Überraschungsmoment vorgelegen. Ein Ausnutzungsbewusstsein wäre aber nur dann nachweisbar, wenn der Angeklagte die Angriffsmöglichkeit von hinten, etwa durch ein Veranlassen der Getöteten sich umzudrehen, gezielt herbeigeführt hätte. Auch spreche die hochgradige Alkoholisierung des Angeklagten gegen eine Bewusstseinsbildung bezüglich der Ausnutzung von Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers.
Im Anschluss an die Anhörung von zwei Sachverständigen ist das Landgericht von einer nicht ausschließbar erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten infolge Alkoholintoxikation im Sinne von § 21 StGB zur Tatzeit ausgegangen.
Die rechtliche Bewertung des Landgerichts zur objektiven und subjektiven Tatseite eines heimtückisch begangenen Mordes ist nicht frei von Rechtsfehlern. Insoweit ist der festgestellte Sachverhalt auch nicht erschöpfend gewürdigt.
1. Die objektiven Voraussetzungen der Heimtücke können selbst dann erfüllt sein, wenn der Unterarmwürgegriff von hinten nicht mit Tötungsvorsatz erfolgte und der Angeklagte einen solchen Vorsatz erst fasste, als er nach dem Messer griff. Dies schließt die Arglosigkeit des Opfers nicht von vornherein aus.
Wesentlich ist, dass der Mörder sein Opfer, das keinen Angriff erwartet, also arglos ist, in einer hilflosen Lage überrascht und dadurch daran hindert, dem Anschlag auf sein Leben zu begegnen oder ihn wenigstens zu erschweren (BGHSt 39, 353, 368; BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 2 m.w.N.). Das Opfer muss gerade aufgrund seiner Arglosigkeit wehrlos sein (BGHSt 32, 382, 384). Allerdings kann nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs das Opfer auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm zwar offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff irgendwie zu begegnen (BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 3, 15). Maßgebend für die Beurteilung ist die Lage bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs. Dabei macht es aber keinen Unterschied, ob der überraschende Angriff von vornherein mit Tötungsvorsatz geführt wird oder ob der ursprüngliche Handlungswille derart schnell in den Tötungsvorsatz umschlägt, dass der Überraschungseffekt bis zu dem Zeitpunkt andauert, zu dem der Täter mit Tötungsvorsatz angreift. In beiden Fällen bleibt dem Opfer keine Zeit zu irgendwie gearteten Gegenmaßnahmen (BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 3).
Jedenfalls letztere Konstellation ist hier gegeben. Nach den Feststellungen des Landgerichts hielt der Angeklagte das Opfer 20 bis 30 Sekunden im Unterarmwürgegriff, den er von hinten ausgeführt hatte, bevor er sich entschloss, es zu töten. Das Opfer hatte in dieser Lage nach Erkennen der Gefahr keine Möglichkeit mehr, sich gegen den Tötungsangriff zur Wehr zu setzen, was die fehlenden Abwehrverletzungen bestätigen. Dann war das Opfer - an den aufgezeigten Maßstäben gemessen - aber auch zu diesem Zeitpunkt infolge Arglosigkeit wehrlos.
2. Die Verneinung eines Ausnutzungsbewusstseins des Angeklagten entbehrt einer tragfähigen Grundlage.
a) Für das bewusste Ausnutzen von Arg- und Wehrlosigkeit genügt es, dass der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit in ihrer Bedeutung für die hilflose Lage des Angegriffenen und die Ausführung der Tat in dem Sinne erfasst, dass er sich bewusst ist, einen durch seine Ahnungslosigkeit gegenüber einem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen (BGH NStZ 2003, 535).
Es ist nicht erforderlich, wie das Landgericht meint, dass der Täter die Angriffsmöglichkeit von hinten durch eigenes Veranlassen gezielt herbeiführt. Wenn der Angeklagte hier seinem Opfer von hinten den Unterarm um den Hals legte und es würgte, so liegt die Annahme nahe, dass er sich des überraschenden Angriffs bewusst war. Die Ausführungen, mit denen das Landgericht ein Ausnutzungsbewusstsein verneint, sind in der rechtlichen Bewertung in zweifacher Hinsicht fehlerhaft. Einerseits bedarf es des bewussten Herbeiführens eines Hinterhaltes nicht, andererseits liegt - wie oben ausgeführt - eine rechtsfehlerhafte Bewertung der Arglosigkeit zugrunde.
b) Soweit das Landgericht ausführt, auch die hochgradige Alkoholisierung des Angeklagten spreche gegen eine Bewusstseinsbildung bezüglich der Ausnutzung von Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers, fehlt dafür jedwede Begründung. Im Hinblick auf die Ausführungen zur nicht ausschließbar verminderten Schuldfähigkeit infolge Alkoholisierung versteht es sich nicht von selbst, dass der Angeklagte den Überraschungseffekt nicht in sein Bewusstsein aufgenommen habe.
Die Alkoholisierung beeinträchtigte danach die Fähigkeit des Angeklagten zur Unrechtseinsicht nicht. Eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit wurde nicht positiv festgestellt, sondern konnte nicht ausgeschlossen werden. Nach Auffassung des Sachverständigen K., der aufgrund der Blutprobe eine maximale Blutalkoholkonzentration von 3,29 o/oo für die Tatzeit von 7.00 Uhr und eine solche von 3,09 o/oo für die Tatzeit von 8.00 Uhr errechnete, zeigte der Angeklagte angesichts dieser Alkoholisierung erstaunlich wenige Ausfallerscheinungen, was darauf schließen lasse, dass er doch nicht ganz trocken gewesen sei. Bei der Berechnung der Tatzeit-BAK hat der Sachverständige den festgestellten Nachtrunk außer Acht gelassen. Unter Berücksichtigung des Nachtrunks bewege sich die erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit - so der Sachverständige - dann "am unteren Ende der Nichtausschließbarkeit".
Das Landgericht hätte bei einer erschöpfenden Würdigung des Sachverhalts diese Ausführungen in seine Erwägungen einbeziehen und sich damit auseinandersetzen müssen.
3. Das Urteil kann danach keinen Bestand haben. Die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen sind von den Rechtsfehlern nicht betroffen und können daher bestehen bleiben. Insoweit ist das Urteil nicht angegriffen.
4. Die Überprüfung des Urteils zugunsten des Angeklagten (§ 301 StPO) hat keinen Rechtsfehler zu seinem Nachteil ergeben.
5. Im Übrigen weist der Senat darauf hin, dass der Begriff der "Erheblichkeit" in § 21 StGB ein Rechtsbegriff ist. Über das Vorliegen seiner Voraussetzungen ist nach ständiger Rechtsprechung vom Gericht in eigener Verantwortung zu entscheiden und nicht vom Sachverständigen. Dabei fließen normative Überlegungen ein (BGHSt 8, 113, 124; 43, 66, 77). Der Tatrichter hat Gelegenheit, auch darüber neu zu befinden.
HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 622
Externe Fundstellen: NJW 2006, 3223; NStZ 2006, 502
Bearbeiter: Karsten Gaede