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HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 31

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 386/05, Beschluss v. 13.10.2005, HRRS 2006 Nr. 31


BGH 1 StR 386/05 - Beschluss vom 13. Oktober 2005 (LG Kempten)

Schwere Vergewaltigung; Hinweispflicht (Änderung des anwendbaren Strafgesetzes; negative Beweiskraft des Protokolls; Protokollberichtigung; wesentliche Verfahrensförmlichkeit).

§ 177 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 StGB; § 177 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1, Abs. 3 Nr. 2 StGB; § 265 StPO; § 274 StPO; Art. 6 Abs. 3 lit. a EMRK

Leitsätze des Bearbeiters

1. Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (seit BGHSt 2, 125) ist eine Berichtigung des Hauptverhandlungsprotokolls vom Revisionsgericht nicht zu berücksichtigen, wenn sie erst nach erhobener Verfahrensrüge vorgenommen wurde und dieser die Grundlage entzieht.

2. Der 1. Strafsenat neigt der Auffassung des 2. Strafsenats zu, der welcher der Rechtsauffassung zuneigt, dass ein ordnungsgemäß berichtigtes Protokoll bei der Frage, ob ein behaupteter Verfahrensfehler tatsächlich vorliegt, auch dann berücksichtigt werden kann, wenn dadurch einer vor der Berichtigung erhobenen Verfahrensrüge der Boden entzogen wird (StV 2005, 256, 257 m. w. N.).

3. Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gilt die Beweiswirkung des § 274 Satz 1 StPO nicht, wenn das Protokoll Fehler hat, die die Eindeutigkeit seines Inhalts in Frage stellen. Das ist namentlich der Fall, wenn es Widersprüche, Lücken oder sonstige offensichtliche Mängel, insbesondere Unklarheiten enthält. Entfaltet das Protokoll keine Beweiskraft, hat das Revisionsgericht im Freibeweisverfahren den Sachverhalt zu ermitteln.

4. Ein Hinweis gemäß § 265 Abs. 1 oder (hier) Abs. 2 StPO ist eine wesentliche Verfahrensförmlichkeit. Dabei ist jedenfalls die Bestimmung in ihrer ziffernmäßigen gesetzlichen Bezeichnung im Protokoll aufzuführen, inwieweit dies auch für tatsächliche Erläuterungen gilt, kann hier dahinstehen.

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Kempten vom 13. Mai 2005 wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Der Angeklagte hat die Nebenklägerin, seine frühere Lebensgefährtin, gewaltsam auf das Bett gedrückt und sich auf sie gesetzt. Als sie äußerte, "sie wolle lieber sterben, als mit dem Angeklagten Sex zu haben", zog er zwei zusammengebundene Kabelbinder aus der Hosentasche und sagte: "Wenn du sterben willst, machen wir das gleich". Unter dem Eindruck dieses Geschehens ließ die Nebenklägerin mehrfachen Geschlechtsverkehr mit dem Angeklagten "über sich ergehen". Deshalb hat das Landgericht den Angeklagten wegen (schwerer) Vergewaltigung gemäß § 177 Abs. 1 Nrn. 1 und 2, Abs. 2 Satz 2 Nr. 1, Abs. 3 Nr. 2 StGB zu Freiheitsstrafe verurteilt. Seine auf mehrere Verfahrensrügen und die Sachrüge gestützte Revision bleibt erfolglos (§ 349 Abs. 2 StPO).

1. Schon in der unverändert zugelassenen Anklage hieß es, der Angeklagte habe in der genannten Situation der Nebenklägerin gedroht, sie mit den Kabelbindern zu erdrosseln. Jedoch war § 177 Abs. 3 Nr. 2 StGB dort bei der Aufzählung der anzuwendenden Vorschriften (§ 200 Satz 1 StPO) nicht genannt.

Im Hauptverhandlungsprotokoll ist festgehalten, dass ein Hinweis erteilt wurde, wonach auch eine Verurteilung nach der dabei auch verlesenen Bestimmung des "§ 177 Abs. 1 Nr. 2 StGB" in Betracht käme. Im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung wurde, wie ebenfalls im Protokoll festgehalten ist, der genannte Hinweis dahin erläutert, dass "mit dem Werkzeug i.S.d. § 177 Abs. 1 Nr. 2 StPO, mit dem der Widerstand gebrochen werden sollte, ... die ... Kabelbinder gemeint" seien.

Hierauf gestützt behauptet die Revision, der Angeklagte sei nicht auf den von der Strafkammer im Urteil angewendeten § 177 Abs. 3 Nr. 2 StGB hingewiesen worden.

a) Dies trifft nicht zu.

(1) Nach Eingang der Revisionsbegründung wurde das Hauptverhandlungsprotokoll ordnungsgemäß dahin berichtigt, dass in den genannten Verfahrenssituationen weder § 177 Abs. 1 Nr. 2 StGB genannt und verlesen noch § 177 Abs. 1 Nr. 2 StPO erläutet wurde, sondern dass § 177 Abs. 3 Nr. 2 StGB genannt, verlesen und erläutert wurde. Die Verteidigung, der diese Protokollberichtigung bekannt gemacht wurde, hat hierzu keine Erklärung abgegeben.

(2) Ein Hinweis gemäß § 265 Abs. 1 oder (hier) Abs. 2 StPO ist eine wesentliche Verfahrensförmlichkeit. Dabei ist jedenfalls die Bestimmung in ihrer ziffernmäßigen gesetzlichen Bezeichnung im Protokoll aufzuführen, inwieweit dies auch für tatsächliche Erläuterungen (hier die Kabelbinder könnten das Werkzeug sein) gilt, kann hier dahinstehen, weil eine entsprechende Protokollierung erfolgt ist (vgl. zusammenfassend Meyer-Goßner StPO 48. Aufl. § 265 Rdn. 33; Hänlein/Moos, NStZ 1990, 481, 482 jew. m. Rechtsprechungsnachweisen).

(3) Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (seit BGHSt 2, 125; w. N. b. Schäfer in FS 50 Jahre BGH 707, 716 f. in Fußn. 62 bis 64) ist eine Berichtigung des Hauptverhandlungsprotokolls vom Revisionsgericht nicht zu berücksichtigen, wenn sie, wie hier, erst nach erhobener Verfahrensrüge vorgenommen wurde und dieser die Grundlage entzieht. Allerdings hat nunmehr der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs mit gewichtigen Gründen Bedenken gegen diese Rechtsauffassung erhoben; er neigt zu der Auffassung, dass ein ordnungsgemäß berichtigtes Protokoll bei der Frage, ob ein behaupteter Verfahrensfehler tatsächlich vorliegt, auch dann berücksichtigt werden kann, wenn dadurch einer vor der Berichtigung erhobenen Verfahrensrüge der Boden entzogen wird (StV 2005, 256, 257 m. w. N.). Der Senat neigt dieser Auffassung ebenfalls zu. Er hält es nicht für eine ungerechte Benachteiligung eines Beschwerdeführers, wenn er nicht "gegen eine nachträgliche Beseitigung" eines "aus dem Protokoll ersichtlichen - in Wirklichkeit nicht vorliegenden - Mangel( s)... durch Protokollberichtigung gesichert" (so BGHSt 2, 125, 127) ist (vgl. auch Schäfer aaO 717 f.). Die Aufhebung eines Urteils und die damit verbundene Zurückverweisung einer Sache führen notwendig zu einer, erfahrungsgemäß oft erheblichen, Verzögerung des Verfahrensabschlusses. Dies mit allen Konsequenzen hinzunehmen kann schwerlich geboten sein, wenn die Aufhebung allein darauf beruht, dass das Revisionsgericht aus Gründen, die sich jedenfalls nicht ausdrücklich aus dem Gesetz ergeben, einen formalen Fehler fingieren muss, der zu seiner Überzeugung in Wahrheit nicht vorliegt. Soweit schließlich bei der Bewertung einer nachträglichen Protokollberichtigung "ein gewisses Misstrauen gegen die Redlichkeit der Urkundspersonen spürbar" (Schäfer aaO 717) wird, gibt es jedenfalls nach den Erfahrungen des Senats keine Anhaltspunkte, die dies rechtfertigen würden (vgl. demgegenüber z. B. BGH StV 1988, 45, wo der Vorsitzende in einer dienstlichen Erklärung zum Revisionsvorbringen dieses bestätigte, sich damit vom Protokollinhalt distanzierte und so den Erfolg einer Verfahrensrüge erst ermöglichte).

(4) Einer abschließenden Entscheidung bedarf es hier aber nicht. Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gilt die Beweiswirkung des § 274 Satz 1 StPO nicht, wenn das Protokoll Fehler hat, die die Eindeutigkeit seines Inhalts in Frage stellen. Das ist namentlich der Fall, wenn es Widersprüche, Lücken oder sonstige offensichtliche Mängel, insbesondere Unklarheiten enthält (vgl. zusammenfassend Schäfer aaO 712; Meyer-Goßner StPO 48. Aufl. § 274 Rdn. 17 jew. m.N.) So verhält es sich hier. Ein Hinweis, wonach auch eine Verurteilung wegen einer bereits in der Anklage aufgeführten Norm in Betracht käme, ist weder rechtlich geboten noch ergibt er einen erkennbaren Sinn. Eine Erläuterung, was ein Werkzeug im Sinne von § 177 Abs. 1 Nr. 2 StPO ist - § 177 StPO betrifft Kosten des Klageerzwingungsverfahrens und besteht nur aus einem nicht untergliederten Satz - wäre nicht nachvollziehbar. Entfaltet das Protokoll aber keine Beweiskraft, hat das Revisionsgericht im Freibeweisverfahren den Sachverhalt zu ermitteln. Die inhaltlich von der Revision nicht bestrittene Protokollberichtigung ergibt, dass entgegen der Behauptung der Revision § 265 Abs. 2 StPO im Blick auf § 177 Abs. 3 Nr. 2 StGB nicht verletzt wurde.

b) Der Senat bemerkt, dass eine Gegenerklärung der Staatsanwaltschaft (§ 347 Abs. 1 Satz 2 StPO), die auf die Protokollberichtigung hingewiesen hätte, die Überprüfung des Revisionsvorbringens hinsichtlich der angeblichen Verletzung von § 265 StPO im Blick auf § 177 Abs. 3 Nr. 2 StGB nicht unerheblich erleichtert hätte (Nr. 162 Abs. 2 RiStBV; vgl. auch BGH StraFo 2003, 379, 380; BGH Beschluss vom 26. November 2003 - 1 StR 407/03; Drescher, NStZ 2003, 296 ff. m. w. N.).

2. Soweit die Revision wegen der Kabelbinder auch die Verletzung von § 265 Abs. 3 StPO rügt, ist verkannt, dass die Drohung mit den Kabelbindern bereits in der Anklageschrift genannt und daher kein im Sinne von § 265 Abs. 3 StPO neu hervorgetretener Umstand ist. Die Revision hat auch insoweit keinen Erfolg, als sie in diesem Zusammenhang zusätzlich darauf hinweist, dass die Äußerung der Geschädigten, sie wolle lieber sterben als mit dem Angeklagten Sex haben (vgl. oben vor 1), in der Anklage nicht genannt sei. Bei dieser Äußerung der Geschädigten handelt es sich nicht um einen Umstand, der die Anwendung eines schwereren Strafgesetzes zulässt, wie dies § 265 Abs. 3 StPO erfordert.

3. Auch die Rüge, § 265 Abs. 4 StPO sei verletzt, greift nicht durch.

a) Die Revision teilt einen entsprechenden Antrag an die Strafkammer mit, in dem es heißt, die Angaben der Geschädigten in der Hauptverhandlung entsprächen nicht ihren Angaben bei der Polizei. Weiter teilt sie den darauf ergangenen Beschluss der Strafkammer mit, wonach die Geschädigte im Wesentlichen die gleichen Angaben wie bei der Polizei gemacht habe.

Dieses Vorbringen entspricht nicht den Anforderungen von § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Zwar waren der Verteidigung ebenso wie der Strafkammer sowohl der Akteninhalt als auch die Angaben der Geschädigten in der Hauptverhandlung bekannt. Ausführungen hierzu waren daher weder in dem genannten Antrag noch in dem darauf ergehenden Beschluss erforderlich. Das Revisionsgericht prüft dagegen die Schlüssigkeit von Verfahrensrügen nur anhand des Revisionsvorbringens. Die genannten Darlegungen der Revision vermitteln dem Senat jedoch nicht die Erkenntnisse, die erforderlich wären, um zu beurteilen, ob (entgegen der Auffassung der Strafkammer) im Hinblick auf die Aussagen der Geschädigten eine wesentliche Änderung des Sachverhalts im Sinne des § 265 Abs. 4 StPO eingetreten ist. Hinsichtlich der in anderem Zusammenhang von der Revision vorgetragenen Differenz bezüglich der Äußerung der Geschädigten kurz vor der Drohung mit den Kabelbindern ist dies jedenfalls nicht der Fall. Auch sonst ergeben die Urteilsgründe keine Differenzen in zentralen Punkten zwischen den früheren Angaben der Geschädigten und ihren Angaben in der Hauptverhandlung.

b) Hinsichtlich des Inhalts der SMS fehlt es an der Darlegung einer etwaigen - ausweislich des Beschlusses der Strafkammer nicht vorliegenden - Differenz zwischen dem diesbezüglichen Akteninhalt (bzw. der hierauf gestützten Anklage) einerseits und dem Ergebnis der Hauptverhandlung andererseits. Die Auffassung der Revision, unabhängig von solchen Differenzen sei ein Aussetzungsanspruch auf jeden Fall gegeben, solange der Verteidigung das in ihrer Anwesenheit angefallene Ergebnis der Beweisaufnahme nicht schriftlich vorliege, geht fehl, ohne dass dies näherer Ausführung bedürfte.

4. Auch die Rüge der Verletzung von § 261 StPO hinsichtlich der genannten SMS geht ins Leere. Zwar trifft es zu, dass Urkunden durch Verlesung in die Hauptverhandlung einzuführen sind (§ 249 StPO). Dies ist jedoch durch die - von der Revision als "neutral" bewertete - Übersetzung durch die Dolmetscherin geschehen, die insoweit als Gutachterin tätig wurde (vgl. BGH NJW 1965,643; BGH NStZ 1985, 466; Gollwitzer in Löwe/Rosenberg StPO 25. Aufl. § 249 Rdn. 32 jew. m. w. N.).

5. Auch die nicht näher ausgeführte Sachrüge ist unbegründet.

HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 31

Externe Fundstellen: NStZ 2006, 181; StV 2006, 286

Bearbeiter: Karsten Gaede