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Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 535/01, Beschluss v. 24.04.2002, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 1 StR 535/01 - Beschluss vom 24. April 2002 (LG München I)

Wirksamkeit der Zustellung des Urteils an den Prozessbevollmächtigten; Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts; Vorwegvollzug; Reihenfolge des Vollzuges von Maßregel und Strafe; Maßregelvollzug; Anforderungen an die Begründung des Vorwegvollzuges.

§ 346 StPO; § 67 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Gem. § 67 Abs. 1 StGB ist möglichst umgehend mit der Behandlung des kranken Rechtsbrechers zu beginnen, da dies am ehesten einen dauerhaften Erfolg verspricht. Daher ist regelmäßig die Maßregel der Besserung und Sicherung vor der Strafhaft zu vollziehen. Eine Abweichung von dieser Regelabfolge des Vollzuges bedarf eingehender Begründung. Will der Tatrichter sie darauf stützen, dass ein an die Maßregel anschließender Strafvollzug den Maßregelerfolg wieder zunichte machen könnte, so müssen dafür überzeugende Gründe vorliegen.

Entscheidungstenor

1. Der Beschluss des Landgerichts München I vom 21. September 2001, mit dem die Revision des Angeklagten gegen das Urteil dieses Landgerichts vom 3. Juli 2001 als unzulässig verworfen worden ist, wird aufgehoben.

2. Auf die Revision des Angeklagten wird das vorbezeichnete Urteil im Rechtsfolgenausspruch dahin geändert, dass die Anordnung des Vorwegvollzuges eines Teils der Freiheitsstrafe vor der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus entfällt.

3. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird als unbegründet verworfen.

4. Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels und die der Nebenklägerin dadurch im Revisionsrechtszug erwachsenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Überdies hat es bestimmt, dass zwei Jahre der Freiheitsstrafe vor der Maßregel zu vollziehen sind. Die Revision des Angeklagten hat das Landgericht mit Beschluss vom 21. September 2001 als unzulässig verworfen (gemäß § 346 Abs. 1 StPO), weil das Rechtsmittel nicht fristgerecht begründet worden sei. Dieser Beschluss unterliegt der Aufhebung. Die Revision des Angeklagten ist mit der Maßgabe unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO, dass die Anordnung des teilweisen Vorwegvollzuges von Freiheitsstrafe vor der ausgesprochenen Maßregel zu entfallen hat.

I. Der Verteidiger des Angeklagten hat am Tage der Zustellung des Verwerfungsbeschlusses des Landgerichts "Wiedereinsetzung in den vorigen Stand" beantragt. Dieser Antrag ist als solcher nach § 346 Abs. 2 StPO auszulegen. Er hat Erfolg. Entgegen der Auffassung des Landgerichts war die Begründung der Revision hier nicht verfristet. Die Zustellung des schriftlichen Urteils an Rechtsanwalt G. am 10. August 2001 war unwirksam, weil sich dessen Vollmachtsurkunde zu diesem Zeitpunkt nicht bei den Akten befand (§ 145a Abs. 1 StPO). Mithin wurde die Revisionsbegründungsfrist erst durch die spätere, erneute Zustellung des Urteils an den hierzu bevollmächtigten Verteidiger des Angeklagten, Rechtsanwalt S., in Lauf gesetzt. Die Revision ist nach allem fristgerecht begründet worden (vgl. zu den Einzelheiten zutreffend die Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 4. März 2002).

II. Das Rechtsmittel des Angeklagten führt zur Aufhebung der Anordnung des teilweisen Vorwegvollzuges von Freiheitsstrafe vor der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus, ist im übrigen indessen unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

Die Voraussetzungen eines Vorwegvollzuges nach § 67 Abs. 2 StGB liegen nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen nicht vor.

Der Bundesgerichtshof hat wiederholt hervorgehoben, dass nach der Grundentscheidung des Gesetzgebers in § 67 Abs. 1 StGB möglichst umgehend mit der Behandlung des kranken Rechtsbrechers begonnen werden soll, da dies am ehesten einen dauerhaften Erfolg verspricht. Richtschnur für die Frage des Vorwegvollzuges der Strafe ist das Rehabilitationsinteresse des Verurteilten. Gerade bei längerer Strafdauer muss es darum gehen, den Angeklagten frühzeitig zu heilen oder jedenfalls zu behandeln, um seiner Erkrankung entgegenzuwirken. Eine Abweichung von der Regelabfolge des Vollzuges bedarf eingehender Begründung. Will der Tatrichter sie darauf stützen, dass der an die Maßregel anschließende Strafvollzug den Maßregelerfolg wieder zunichte machen könnte, so müssen dafür überzeugende Gründe vorliegen (vgl. nur BGH NStZ 1986, 428; BGHR StGB § 67 Abs. 2 Vorwegvollzug 7, Vorwegvollzug, teilweiser 4, 10, 11, 12, 13).

Diesen Anforderungen wird die vom Landgericht bestimmte Ausnahme nicht gerecht. Die Strafkammer führt aus, der Angeklagte habe sich zunächst gegenüber einer Therapie ablehnend gezeigt. Durch den Vorwegvollzug solle die Bereitschaft zu einer Therapie verstärkt werden. Eine sinnvolle Therapie sei, wie auch der Sachverständige ausgeführt habe, nur am Ende eines Freiheitsentzuges möglich. Ein langjähriger Strafvollzug werde die positiven Auswirkungen einer Therapie wieder gefährden, weil ein in der Therapie erarbeitetes und eingeübtes Verhalten wieder "verschüttet" werde. Die Therapie habe nur dann Aussicht auf dauerhaften Erfolg, wenn das in ihr erlernte Verhalten unmittelbar in praktische Bewährung übergehe.

Diese Erwägungen vermögen die Anordnung im vorliegenden Falle nicht zu tragen. Sie erweisen sich angesichts der im übrigen zur Erkrankung des Angeklagten getroffenen Feststellungen - worauf auch der Generalbundesanwalt zutreffend hinweist - als nicht hinreichend substantiiert. Auf der Grundlage eines psychiatrischen und eines psychologischen Sachverständigengutachtens ist die Strafkammer zu dem Ergebnis gekommen, dass der Angeklagte aufgrund eines langdauernden chronischen Alkoholmissbrauchs und einer hirnorganischen Wesensänderung an einer krankhaften seelischen Störung leide. Es bestünden in somatischer Hinsicht Auffälligkeiten (Ekzeme an den Händen, grenzwertige Leberausdehnung). Neurologisch sei die Gangprobe unsicher, der Blindgang erschwert und das Vibrationsempfinden vermindert. Unter weiterer Bezugnahme auf die Sachverständigen wird in den Urteilsgründen ausgeführt, der Angeklagte habe einen weitschweifigen, umständlichen Gedankengang gezeigt, vermehr misstrauisch gewirkt und paranoide Ideen anklingen lassen. Deutliche Beeinträchtigungen hätten sich auch hinsichtlich der feinmotorischen Bewegungskontrolle, der kognitiven Fähigkeiten und er optischen Merkfähigkeit gezeigt.

Leidet der Angeklagte aber an einer hirnorganischen Wesensänderung, die sich als krankhafte seelische Störung im Sinne des § 20 StGB erweist, so bedarf diese nach der Grundentscheidung des Gesetzgebers der umgehenden Behandlung. Das gilt hier zumal im Blick darauf, dass die Strafkammer - wie auch der psychiatrische Sachverständige - mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgeht, der Angeklagte werde aufgrund der erheblichen chronifizierten hirnorganischen Schädigung in einer vergleichbaren Belastungssituation wiederum ähnlich aggressiv reagieren wie bei der Tat. Überdies ist nicht nachvollziehbar dargetan, inwiefern durch andauernden Vollzug von Freiheitsstrafe die Therapiebereitschaft des Angeklagten noch weiter geweckt und die Einsicht in die Erforderlichkeit seiner Behandlung herbeigeführt werden kann, nachdem er sich zum Zeitpunkt der Urteilsfindung bereits seit mehr als einem Jahr in Haft befand.

Der Senat schließt aus, dass ein neuer Tatrichter hierzu weitergehende Feststellungen zu treffen vermag. Er entscheidet deshalb in der Sache selbst dahin, dass die Anordnung des teilweisen Vorwegvollzuges entfällt (§ 354 Abs. 1 StPO entsprechend).

Der Senat sieht davon ab, den Angeklagten aus Billigkeitsgründen teilweise von der Belastung mit Kosten und notwendigen Auslagen freizustellen, weil er insgesamt keine Verkürzung der ihm auferlegten Rechtsfolgen erreicht hat (vgl. § 473 Abs. 4 StPO).

Bearbeiter: Ulf Buermeyer