Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 543/00, Urteil v. 20.03.2001, HRRS-Datenbank, Rn. X
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 21. Juli 2000 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier Fällen, davon in drei Fällen in Tateinheit mit unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt und den Verfall eines Geldbetrages von 108.000 DM angeordnet. Die Revision des Angeklagten, mit der er ein Prozeßhindernis geltend macht und die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt, hat keinen Erfolg.
Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Der Erörterung bedarf nur die Rüge des Beschwerdeführers, das Landgericht habe, ohne ihn zuvor auf diese Möglichkeit hinzuweisen, durch vorläufige Teileinstellung des Verfahrens ausgeschiedene Taten bei der Beweiswürdigung zu seinen Lasten verwertet.
1. Die Rüge bezieht sich auf folgende Vorgänge:
Die - ohne Änderungen zugelassene - Anklage legte dem Beschwerdeführer zur Last, in 56 Fällen ein Verbrechen des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge jeweils in Tateinheit mit unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge begangen zu haben, und zwar von 1987 bis 1992 in 52 Fällen - Gesamtmenge ca. 11.600 Kilogramm Haschisch - und von 1993 bis 1997 in vier Fällen - Gesamtmenge 160 Kilogramm Haschisch -. In der vom 28. Juni 2000 bis 21. Juli 2000 dauernden Hauptverhandlung hat das Landgericht zu allen 56 Fällen umfassend - insbesondere durch Vernehmung des Hauptbelastungszeugen L. - Beweis erhoben. Am 21. Juli 2000 hat es auf Antrag der Staatsanwaltschaft, zu dem die Verteidigung keine Erklärung abgab, bezüglich der ersten 52 Fälle das Verfahren gemäß § 154 Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt. Unmittelbar darauf ist die Beweisaufnahme geschlossen worden. Einen Hinweis darauf, daß das Gericht den der vorläufigen Einstellung zugrundeliegenden Verfahrensstoff bei der Beweiswürdigung zu verwerten gedenke, verzeichnet die Sitzungsniederschrift nicht.
Das Landgericht hat die Verurteilung des Angeklagten wegen der vier verbliebenen Taten im wesentlichen mit den Angaben des Zeugen L. begründet. Seine Überzeugung von der Glaubwürdigkeit dieses Zeugen hat es auch auf Teile des der vorläufigen Einstellung zugrundeliegenden Verfahrensstoffs gestützt.
2. Die Rüge dringt nicht durch.
In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist dem Grundsatz nach anerkannt, daß durch vorläufige Einstellung des Verfahrens ausgeschiedene Taten - selbst wenn sie prozeßordnungsgemäß festgestellt worden sind - auch bei der Beweiswürdigung nur dann zu Lasten des Angeklagten verwertet werden dürfen, wenn dieser zuvor auf die Möglichkeit einer solchen Verwertung hingewiesen worden ist (vgl. BGHSt 31, 302, 303; BGHR StPO § 154 Abs. 2 Hinweispflicht 1, 2 [= NJW 1996, 2585, 2586] und 3). Der Grund hierfür liegt darin, daß die Verfahrenseinstellung regelmäßig einen Vertrauenstatbestand begründet. Eine faire Verfahrensgestaltung, aber auch der Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs gebieten es dann in der Regel, einen Hinweis zu erteilen, wenn der Tatrichter solchen Verfahrensstoff doch zu berücksichtigen gedenkt.
Dieser Grundsatz gilt indessen nicht ausnahmslos. Ein ausdrücklicher Hinweis ist dann entbehrlich, wenn ein Vertrauenstatbestand nach dem Gang der Hauptverhandlung nicht geschaffen werden konnte (BGH NJW 1985, 1479; NStZ 1987, 133, 134; bei Kusch NStZ 1992, 225; NStZ 1994, 195; NJW 1996, 2585, 2586; vgl. auch BVerfG-Kammer NStZ 1995, 76), mag in solchen Fällen ein ausdrücklicher Hinweis auch zweckmäßig sein. Ein Vertrauen des Angeklagten kann nur dort verletzt sein, wo es zuvor geschaffen worden ist, wo also der Angeklagte durch den Beschluß nach § 154 StPO in eine Lage versetzt worden ist, die sein Verteidigungshandeln beeinflußt hat und bei verständiger Einschätzung der Verfahrenslage auch beeinflussen konnte.
Hier konnte das ersichtlich nicht der Fall sein: Das Landgericht hat an mehreren Hauptverhandlungstagen zu allen 56 angeklagten Fällen umfassend Beweis erhoben. Die vorläufige Teileinstellung hinsichtlich der ersten - im Tatvorwurf erheblich gewichtigeren - 52 Fälle ist erst erfolgt, als die Beweisaufnahme abgeschlossen war. Die Beweisaufnahme gestaltete sich für alle 56 Fälle identisch, indem der Hauptbelastungszeuge L., auf dessen Bekundungen es entscheidend ankam, die Tatvorwürfe durchgehend bestätigt hat. Zu der Teileinstellung hat sich das Landgericht nicht entschlossen, weil es hinsichtlich der hiervon betroffenen Fälle Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Zeugen L. hatte, sondern weil es hier den Bekundungen des Zeugen weniger konkrete Anhaltspunkte bezüglich der genauen Tatmodalitäten entnehmen konnte als bei den vier verbliebenen - zeitlich jüngeren - Fällen. Dies war auch der Verteidigung bewußt, die selbst hinsichtlich aller angeklagten Fälle von einer unzureichenden Konkretisierung der Tatvorwürfe ausging und deshalb eine Einstellung des Verfahrens nach § 260 Abs. 3 StPO beantragt hat. Die Verfahrensweise des Landgerichts setzte erkennbar voraus, daß es hinsichtlich der noch abzuurteilenden Fälle verurteilungsgeneigt war. Hier konnte - wie der Zusammenhang der Urteilsgründe ohne weiteres ergibt - eine Verurteilung des Angeklagten nur erfolgen, wenn das Landgericht den Zeugen L. für glaubwürdig erachten würde. In dieser besonderen Verfahrenssituation konnte die Verteidigung nicht darauf vertrauen, das Landgericht werde die Glaubwürdigkeit dieses Zeugen auf der gleichsam selektiven schmalen Tatsachengrundlage des noch verbliebenen Verfahrensgegenstands beurteilen. Für die Prüfung des Wahrheitsgehalts der Bekundungen des Zeugen L. bedurfte es - auch für den Angeklagten unübersehbar - einer Bewertung des Gesamtgeschehens einschließlich des Zustandekommens und der weiteren Entwicklung der Rauschgiftkontakte zwischen dem Angeklagten und dem Zeugen. Gerade wenn sich aus denjenigen Sachverhalten, die dem ausgeschiedenen Verfahrensstoff zugrundelagen, Anhaltspunkte ergeben hätten, die Glaubwürdigkeit des Zeugen L. in Zweifel zu ziehen, war der Tatrichter im Blick auf seine Aufklärungspflicht und das Gebot einer lückenlosen Beweiswürdigung gehalten, diese nicht außer acht zu lassen; die Verteidigung hatte ihrerseits unverändert allen Anlaß, hierauf zurückzugreifen, wenn sie der Auffassung war, der Zeuge L. sei unglaubwürdig und deshalb könne auch in den verbliebenen, noch zur Aburteilung stehenden Fällen eine Verurteilung auf seine Aussage nicht gestützt werden. Angesichts dieser besonderen Umstände, unter denen die Verfahrensbeschränkung erfolgt ist, konnte ein Vertrauen auf Nichtverwertung des ausgeschiedenen Verfahrensstoffs nicht erwachsen.
Bearbeiter: Karsten Gaede