HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 779
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 371/23, Urteil v. 17.04.2024, HRRS 2024 Nr. 779
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Deggendorf vom 10. Mai 2023 wird verworfen.
Die Kosten des Rechtsmittels und die hierdurch dem Verurteilten erwachsenen notwendigen Auslagen werden der Staatskasse auferlegt.
Das Landgericht hat den Verurteilten mit Urteil vom 26. Juli 2016, rechtskräftig seit dem 12. Oktober 2016, wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 19 Fällen, davon in drei Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Jugendlichen, und wegen sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen in 15 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt und die Anordnung der Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66a StGB vorbehalten.
Mit Urteil vom 10. Mai 2023 hat das - sachverständig beratene - Landgericht nunmehr die Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung abgelehnt.
Die hiergegen gerichtete, auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision der Staatsanwaltschaft, die vom Generalbundesanwalt nicht vertreten wird, ist unbegründet. Die Ablehnung der Anordnung der Sicherungsverwahrung im Nachverfahren (§ 66a Abs. 3 Satz 2 StGB) hält, soweit revisionsgerichtlicher Überprüfung zugänglich (vgl. dazu BGH, Urteil vom 11. Mai 2010 - 1 StR 40/10 Rn. 30 ff.), rechtlicher Nachprüfung stand.
Der Generalbundesanwalt hat dazu in seiner schriftlichen Stellungnahme, auf die er in der Hauptverhandlung vor dem Senat Bezug genommen hat, ausgeführt:
„1. Gemäß § 66a Abs. 3 Satz 2 StGB ist die Sicherungsverwahrung im Nachverfahren anzuordnen, wenn die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ergibt, dass von ihm erhebliche Straftaten zu erwarten sind, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. Eine Hangfeststellung ist im Nachverfahren nicht vorausgesetzt (BGH, Beschluss vom 4. Februar 2021 - 4 StR 448/20). Die Gefährlichkeitsprognose ist auf der Grundlage einer Gesamtwürdigung aller prognostisch relevanten Umstände zu entwickeln. Sie erfordert eine umfassende Analyse der Täterpersönlichkeit und seiner bisherigen Legalbiographie. Anders als bei § 66b StGB a.F. ist nicht erforderlich, dass substantiell neue Tatsachen festgestellt worden sind. Erforderlich, aber auch ausreichend ist, dass die Gefährlichkeitsprognose unter Einbeziehung neu hinzutretender prognoserelevanter Umstände seit Anordnung des Vorbehalts der Maßregel nunmehr eindeutig positiv begründet werden kann. In die Gesamtwürdigung einzubeziehen sind dabei insbesondere die mit Fortschreiten des Lebensalters eintretende Haltungsänderung, die Wirkung des langjährigen Strafvollzugs sowie die Frage, ob und inwieweit der Verurteilte von den besonderen Behandlungsangeboten zu profitieren vermochte. Daneben ist auch die konkrete Entlassungssituation des Verurteilten in den Blick zu nehmen und zu prüfen, ob eine bestehende Gefährlichkeit durch flankierende Maßnahmen wie Auflagen und Weisungen, Therapiemaßnahmen oder durch die Unterbringung in einer betreuten Wohneinrichtung auf ein vertretbares Maß reduziert werden kann. Zu dieser umfassenden Würdigung ist allein das Tatgericht berufen, dem dabei ein Beurteilungsspielraum eingeräumt ist (BGH, Beschluss vom 17. Mai 2021 - 1 StR 90/21 mwN).
2. Gemessen hieran gibt es gegen die Erwägungen des Landgerichts zur Gefährlichkeitsprognose nichts zu erinnern.
a) Die sachverständig beratene Strafkammer hat der Beurteilung den zutreffenden Prüfungsmaßstab zugrunde gelegt (UA S. 48 ff.) und vermochte sich nach Abwägung sämtlicher für die Prognoseentscheidung relevanten Umstände nachvollziehbar und mit tragfähiger Begründung nicht mit der erforderlichen Sicherheit davon zu überzeugen, dass von dem Angeklagten nach Haftentlassung weiterhin die Gefahr zur Begehung erheblicher Straftaten im Sinne der Vorschrift ausgeht.
b) Ein Darstellungs- oder Erörterungsmangel ist nicht erkennbar.
Die Kammer hat sich ausführlich mit den Anlasstaten des Verurteilten, seinem Verhalten in der Haftanstalt sowie den protektiven Faktoren nach der Haftentlassung auseinandergesetzt. Sie kam dabei dem Sachverständigen folgend nach eigener Prüfung nachvollziehbar zu dem Ergebnis, dass sich das von dem Verurteilten ausgehende Risiko seit dem Vorbehalt der Sicherungsverwahrung im Urteil vom 26. Juli 2016 deutlich gesenkt habe (UA S. 50 f., 61 ff.). Schon dies spricht gegen die Anordnung der Sicherungsverwahrung im Nachverfahren. Denn selbst wenn im Ausgangsverfahren die Gefährlichkeit mit hinreichender Sicherheit festgestellt wurde - was vorliegend gerade nicht der Fall war - setzt die Anordnung der zunächst vorbehaltenen Sicherungsverwahrung voraus, dass sich diese Überzeugung auch in der nachfolgenden Gesamtwürdigung, die auch die Entwicklung der verurteilten Person im Vollzug einbezieht, bestätigt, also jedenfalls nicht abschwächt (BT-Dr. 17/3403 S. 31; BGH, Beschluss vom 17. Mai 2021 - 1 StR 90/21). In dem Ausgangsverfahren konnte schon ein Hang des Angeklagten zur Begehung von gleichgelagerten Straftaten nicht mit der erforderlichen Sicherheit festgestellt werden. Konkrete Ausführungen zur Gefährlichkeitsprognose enthalten die Urteilsgründe des Ausgangsverfahrens nicht (UA S. 26 ff.). Vor diesem Hintergrund musste sich die Kammer gehalten sehen, Umstände festzustellen, die die Wahrscheinlichkeit zur Begehung neuer Straftaten zur hinreichenden Sicherheit verfestigen (vgl. auch BGH, Beschluss vom 17. Mai 2021 - 1 StR 90/21). Dies ist vorliegend gerade nicht gelungen; das Risiko hat sich aufgrund der durch den Verurteilten ergriffenen Maßnahmen nach der nachvollziehbaren Wertung des Landgerichts weiter verringert.
c) Unabhängig davon steht auch der Umstand, dass die Therapieanweisung nach § 68b Abs. 2 StGB nicht strafbewehrt ist, der Ablehnung einer negativen Gefahrenprognose nicht entgegen.
Nachvollziehbar ist das Landgericht zu der Überzeugung gelangt, dass die im Rahmen der Führungsaufsicht zur Verfügung stehenden strafbewehrten und nicht strafbewehrten Weisungen ausreichend sind, um dem bestehenden restlichen Rückfallrisiko des Verurteilten adäquat zu begegnen (UA S. 65).
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist bei der Anordnung der Sicherungsverwahrung im Nachverfahren regelmäßig zu prüfen, ob einer noch bestehenden Gefährlichkeit mit milderen Mitteln begegnet werden kann, um die Gefahr für die Allgemeinheit auf ein vertretbares Maß zu reduzieren (BGH, Beschluss vom 17. Mai 2021 - 1 StR 90/21). Dem Sachverständigen folgend konnte sich das Landgericht davon überzeugen, dass sich das Rückfallrisiko des Verurteilten durch eine Sexualtherapie weiter herabsetzen ließe. Die Urteilsgründe zeigen, dass die Kammer dabei nicht aus dem Blick verloren hat, dass die Verletzung der Therapieweisung nicht sanktioniert werden kann. Das Landgericht durfte jedoch davon ausgehen, dass der Verurteilte einer Therapieanweisung auch ohne unmittelbaren Sanktionsdruck Folge leisten wird. So hat es rechtsfehlerfrei festgestellt, dass die Auswirkungen der Persönlichkeitsstörung des Verurteilten durch die langjährige Suchtmittelabstinenz, die in der Haft erfolgten therapeutischen Maßnahmen und die Berufsausbildung bereits deutlich abgenommen haben. Der Verurteilte habe bereits in der Haft seine Therapiebereitschaft und sein Durchhaltevermögen unter Beweis stellen können. Hierdurch sei eine Nachreifung erkennbar, die mit ambulanter therapeutischer Unterstützung eine Konsolidierung unter offenen Bedingungen ermöglicht (UA S. 62).“
Dem schließt sich der Senat an.
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 779
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede