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HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 760

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 510/23, Urteil v. 24.04.2024, HRRS 2024 Nr. 760


BGH 5 StR 510/23 - Urteil vom 24. April 2024 (LG Kiel)

Beweiswürdigung zum Tötungseventualvorsatz (lebensgefährliche Gewalthandlung; Indizwirkung); gefährliche Körperverletzung; Mitttäterschaft (Zurechnung; Tatplan; Vorsatz).

§ 212 StGB; § 15 StGB; § 25 Abs. 2 StGB; § 224 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Bei einem Messerstich in den Oberschenkel kann es sich - je nach den Umständen des Einzelfalles - schon für sich genommen um eine äußerst gefährliche Gewalthandlung handeln, die auf beiden Vorsatzebenen ein wesentliches auf bedingten Tötungsvorsatz hinweisendes Beweisanzeichen darstellt. Das kann insbesondere dann gelten, wenn es sich um besonders gewalttätige Messerstiche handelt, die mit erkennbar sehr hohem Blutverlust einhergehen.

2. Handlungen eines anderen Tatbeteiligten, mit denen nach den Umständen des Falles gerechnet werden muss, werden vom Willen des Mittäters umfasst, auch wenn er sich diese nicht eigens vorgestellt hat; ebenso ist er für jede Ausführungsart einer von ihm gebilligten Straftat verantwortlich, wenn er mit der Handlungsweise seines Tatgenossen einverstanden oder sie ihm zumindest gleichgültig war.

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Kiel vom 3. Juli 2023 wird verworfen.

Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels und die hierdurch dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Auf die Revision des Nebenklägers wird das vorbenannte Urteil mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht tätige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung und unter Einbeziehung anderweitig erkannter Strafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt sowie eine Einziehungsentscheidung aufrechterhalten. Die hiergegen mit der Sachrüge geführte Revision des Angeklagten bleibt ohne Erfolg. Das mit dem Ziel einer Verurteilung auch wegen versuchten Totschlags eingelegte Rechtsmittel des Nebenklägers führt mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts zur Aufhebung des Urteils.

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Am 9. Mai 2022 ging der Angeklagte gegen 22.30 Uhr in Begleitung von zwei Personen in einen in N. gelegenen Park. Dort hielt sich bereits eine Gruppe um den Nebenkläger auf, der kurze Zeit nach Ankunft des Angeklagten auf diesen zuging. Wie schon mehrfach in der Vergangenheit entwickelte sich zwischen ihnen abermals eine verbale Auseinandersetzung. Der Angeklagte verließ anschließend allein den Park, kehrte aber nach etwa 15 bis 30 Minuten mit mindestens zwei weiteren Personen zurück, um sich am Nebenkläger „vor allem“ wegen der verbalen Auseinandersetzung zu rächen. Der Angeklagte und seine Begleiter rannten jeweils mit einem Messer bewaffnet gemeinsam aus einem Gebüsch und suchten den Nebenkläger. Dieser saß mit dem Rücken zum Gebüsch auf einer Treppe und bemerkte die Angreifer nicht. Als diese den Nebenkläger, der „in der Zwischenzeit schnell aufgestanden war“, erreicht hatten, stach ihm der Angeklagte tatplangemäß mit einem Messer mit einer Klingenlänge von mindestens 20 cm in den Oberschenkel. Fast zeitgleich führten die beiden anderen Angreifer Stich- und Stoßbewegungen in Richtung der Beine und des Oberkörpers des Nebenklägers aus. Der Messerangriff dauerte „allenfalls ein paar Minuten“ an; in dieser Zeit sprachen die Angreifer weder untereinander noch zum Nebenkläger. Als dieser „wahrscheinlich, wenngleich nicht feststellbar“ sein Fahrrad zu Verteidigungszwecken erhoben hatte, flüchteten der Angeklagte und seine Begleiter. Ihnen war bewusst, dass die Messerstiche bei dem Nebenkläger potentiell lebensgefährliche Verletzungen hervorrufen konnten.

Dieser erlitt mehrere, teilweise stark blutende Stich- und Schnittverletzungen am linken Oberschenkel und eine Verletzung am Hinterkopf. Eine Hautdurchtrennung an der linken Außenseite des Brustkorbes führte zu einem Pneumothorax. Infolge der Verletzungen an Oberschenkel und Brustkorb bestand für den Nebenkläger akute Lebensgefahr.

2. Das Landgericht hat das Verhalten des eine Tatbeteiligung in Abrede stellenden Angeklagten als gefährliche Körperverletzung gewertet. Es hat die Varianten der gemeinschaftlichen Begehung (§ 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB), der Verletzung mittels eines gefährlichen Werkzeugs (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB) und der lebensgefährdenden Behandlung (§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB) sowie aufgrund eines gemeinsamen Tatentschlusses der Angreifer, den Nebenkläger zu verletzen, eine mittäterschaftliche Tatbegehung (§ 25 Abs. 2 StGB) angenommen.

Das Vorliegen eines Tötungsvorsatzes hat es hingegen „nach einer Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände“ (affektive Erregung des Angeklagten, Spontaneität der Tat, Messerstiche in Beinregion, Motivationslage, keine einschlägigen Vorerkenntnisse) abgelehnt. Der Angeklagte habe „die Gefahr der Tötung nicht erkannt oder jedenfalls darauf vertraut (…), ein solcher Erfolg werde nicht eintreten.“

II.

Die Revision des Angeklagten ist unbegründet, da die Nachprüfung des Urteils keinen Rechtsfehler zu seinem Nachteil ergeben hat.

III.

Die Revision des Nebenklägers hat hingegen Erfolg, denn die Prüfung des Tötungsvorsatzes weist Rechtsfehler zugunsten des Angeklagten auf.

1. Bedingt vorsätzliches Handeln setzt voraus, dass der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt (Wissenselement) und ihn billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen mit ihm abfindet (Willenselement). Bei äußerst gefährlichen (Gewalt-)Handlungen liegt es nahe, dass der Täter mit der Möglichkeit rechnet, das Opfer könne zu Tode kommen, und - weil er mit seinem Handeln gleichwohl fortfährt - einen solchen Erfolg billigend in Kauf nimmt. Eine hohe und zudem anschauliche konkrete Lebensgefährlichkeit der Tatausführung stellt mithin auf beiden Vorsatzebenen das wesentliche auf bedingten Tötungsvorsatz hinweisende Beweisanzeichen dar. Gleichwohl kann im Einzelfall das Willenselement des Eventualvorsatzes fehlen, etwa wenn der Täter trotz erkannter objektiver Gefährlichkeit der Tat ernsthaft und nicht nur vage auf ein Ausbleiben des tödlichen Erfolges vertraut (Fehlen des Willenselements). Das Vertrauen auf einen glimpflichen Ausgang lebensgefährdenden Tuns darf indes nicht auf bloßen Hoffnungen beruhen, sondern muss sich auf Tatsachen stützen (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 14. Februar 2024 - 5 StR 215/23 Rn. 9 mwN).

2. Den sich daraus ergebenden Anforderungen wird das Landgericht bei seiner beweiswürdigenden Gesamtschau in mehrfacher Hinsicht nicht gerecht. Im Einzelnen:

a) Die Strafkammer hat als vorsatzkritischen Umstand gewertet, dass der Angeklagte nur „Messerstiche in die Beinregion“ gesetzt habe. Dabei hat sie aber außer Acht gelassen, dass dieser Messerstich zu einer akuten Lebensgefahr für den Nebenkläger führte. Zudem hat sie die für glaubhaft erachteten Angaben des Nebenklägers, an seinem Oberschenkel sei „das Messer auf einer Seite hinein- und auf der anderen Seite wieder herausgekommen“, und des Zeugen L., dass aus dem Oberschenkel des Nebenklägers „das Blut herausgespritzt habe“, nicht berücksichtigt. Die Strafkammer hat daher aus dem Blick verloren, dass es sich bei dem Stich in den Oberschenkel schon für sich genommen um eine äußerst gefährliche Gewalthandlung gehandelt haben könnte.

b) In diesem Zusammenhang hat das Landgericht nicht berücksichtigt, dass die zur ebenfalls als akut lebensbedrohlich eingeordneten Verletzung des Brustkorbes führenden Stiche dem Angeklagten zuzurechnen sein könnten. Insoweit gilt:

Handlungen eines anderen Tatbeteiligten, mit denen nach den Umständen des Falles gerechnet werden muss, werden vom Willen des Mittäters umfasst, auch wenn er sich diese nicht eigens vorgestellt hat; ebenso ist er für jede Ausführungsart einer von ihm gebilligten Straftat verantwortlich, wenn er mit der Handlungsweise seines Tatgenossen einverstanden oder sie ihm zumindest gleichgültig war (vgl. BGH, Urteil vom 6. Januar 2021 - 5 StR 288/20, NStZ 2021, 287, 288). Angesichts des gemeinsamen Zustürmens auf den Nebenkläger und des vorhersehbar dynamischen und unübersichtlichen Kampfgeschehens hätte das Landgericht die Frage erörtern müssen, ob der Angeklagte derart lebensgefährliche Handlungen seiner Mittäter billigend in Kauf genommen hat. Dies gilt umso mehr, als das Landgericht zur angenommenen Mittäterschaft der gefährlichen Körperverletzung ausgeführt hat, dass die Angreifer aufgrund eines gemeinsamen Tatentschlusses handelten, sie den Nebenkläger mit Messern verletzen wollten, der Angeklagte „tatplangemäß“ zuerst zustach und die beiden Mittäter fast zeitgleich handelten.

c) Das Landgericht hat zudem als vorsatzkritischen Umstand berücksichtigt, dass es sich um eine Spontantat gehandelt habe. Diese Annahme ist weder tragfähig belegt, noch hat die Strafkammer in diesem Zusammenhang die naheliegende Frage erörtert, ob einer Spontantat bereits der zeitliche Ablauf entgegenstehen könnte, da der Angeklagte erst etwa 15 bis 30 Minuten nach Verlassen des Parks bewaffnet zurückkehrte.

d) Die Überzeugung des Landgerichts, der Angeklagte habe „jedenfalls darauf vertraut“, ein tödlicher Erfolg werde nicht eintreten, ist auch im Übrigen nicht tragfähig belegt.

3. Das Urteil beruht auf den aufgezeigten Rechtsfehlern. Der Senat kann nicht ausschließen, dass die Strafkammer ohne diese das Vorliegen eines Tötungsvorsatzes bejaht hätte. Ob das Absehen von einer Verurteilung wegen eines versuchten Tötungsdelikts gleichwohl Bestand haben könnte, weil nach den Urteilsfeststellungen ein strafbefreiender Rücktritt anzunehmen wäre, kann der Senat nicht prüfen, weil das Landgericht - aus seiner Sicht folgerichtig - die hierfür notwendigen Feststellungen zum Rücktrittshorizont des Angeklagten nicht getroffen hat.

Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung. Der Senat hebt die Feststellungen insgesamt auf, um dem neuen Tatgericht umfassende und widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen (§ 353 Abs. 2 StPO) und weist darauf hin, dass bei gleichbleibenden Feststellungen die Prüfung des Mordmerkmals der Heimtücke in Betracht zu ziehen sein wird.

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 760

Bearbeiter: Christian Becker