HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 724
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 13/24, Beschluss v. 03.04.2024, HRRS 2024 Nr. 724
1. Auf die Revision des Angeklagten Y. wird das Urteil des Landgerichts Schwerin vom 11. Juli 2023, soweit es ihn betrifft, im Strafausspruch aufgehoben; die zugehörigen Feststellungen bleiben jedoch aufrechterhalten.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision des Angeklagten Y., an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision des Angeklagten Y. und die Revision des Angeklagten N. werden verworfen.
3. Der Angeklagte N. hat die Kosten seines Rechtsmittels und die dem Nebenkläger dadurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten N. wegen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit besonders schwerer räuberischer Erpressung und mit gefährlicher Körperverletzung unter Einbeziehung früher gegen ihn verhängter Strafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren und den Angeklagten Y. wegen Raubes in Tateinheit mit räuberischer Erpressung sowie mit gefährlicher Körperverletzung unter Einbeziehung früherer Entscheidungen zu einer (einheitlichen) Jugendstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten Y. hat mit der Sachrüge in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist sie ebenso wie die Revision des Angeklagten N. unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
1. Der den Angeklagten Y. betreffende Strafausspruch hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Das Landgericht hat zwar zu Recht Jugendstrafrecht angewendet, weil Y. die nunmehr abgeurteilte Tat am 1. Januar 2020 als Jugendlicher im Sinne von § 1 Abs. 2 JGG beging. Es hat auch rechtsfehlerfrei gemäß § 17 Abs. 2 JGG die Verhängung einer Jugendstrafe für erforderlich erachtet. Durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnet jedoch, dass es die Jugendstrafe „gemäß § 31 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 32 JGG analog“ unter Einbeziehung eines Strafbefehls des Amtsgerichts Schwerin vom 17. Januar 2023 gebildet hat, mit dem gegen Y. wegen einer Tat, die er am 11. November 2021 als Heranwachsender begangen hatte, eine - noch nicht erledigte - Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je 15 Euro festgesetzt wurde. Zur Begründung hat das Landgericht ausgeführt:
Eine analoge Anwendung des Rechtsgedankens des § 32 JGG, wonach bei Straftaten in verschiedenen Altersstufen eine einheitliche Rechtsfolge zu bilden sei, sei auch in der hier gegebenen Konstellation geboten, weil sie sich nicht relevant von dem in § 105 Abs. 2 JGG geregelten Sachverhalt unterscheide. Sinn und Zweck der Vorschrift, eine möglichst einheitliche Lösung zu erreichen, anstatt Maßnahmen unverbunden nebeneinander stehen zu lassen, gelte auch hier. Ohne Einbeziehung der Geldstrafe würde der Angeklagte zudem unangemessen benachteiligt.
Dem kann nicht gefolgt werden.
a) Das Landgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für eine einheitliche Rechtsfolgenentscheidung nicht vorliegen.
Nach § 31 Abs. 1 Satz 1 JGG setzt das Gericht Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel oder Jugendstrafe abweichend von den nach allgemeinem Strafrecht geltenden Bestimmungen der §§ 53 ff. StGB einheitlich fest, wenn es über mehrere Straftaten eines Jugendlichen zu befinden hat. Dies gilt gemäß § 31 Abs. 2 Satz 1 JGG grundsätzlich auch dann, wenn die Taten teilweise bereits in einem anderen Verfahren abgeurteilt wurden. § 32 JGG erweitert das jugendstrafrechtliche Prinzip der einheitlichen Rechtsfolgenentscheidung auf Fälle mehrerer Straftaten, die teilweise nach Jugendstrafrecht und teilweise nach allgemeinem Strafrecht zu ahnden wären, dahin, dass einheitlich das Jugendstrafrecht gilt, wenn das Schwergewicht bei den Straftaten liegt, die nach Jugendstrafrecht zu beurteilen wären (§ 32 Satz 1 JGG), und dass anderenfalls einheitlich das allgemeine Strafrecht anzuwenden ist (§ 32 Satz 2 JGG); dies gilt nach dem unmissverständlichen Wortlaut des § 32 Satz 1 JGG jedoch nur dann, wenn die Taten „gleichzeitig abgeurteilt werden“, also Gegenstand desselben Verfahrens sind. Wurde ein Teil der Straftaten schon in einem anderen Verfahren abgeurteilt, kommt eine einheitliche Rechtsfolgenentscheidung nur unter den Voraussetzungen des § 105 Abs. 2 JGG in Betracht. Danach ahndet das Gericht die Tat eines Heranwachsenden nach dem Jugendstrafrecht, wenn es die Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 JGG als erfüllt ansieht und der Angeklagte wegen eines Teils seiner Straftraten bereits rechtskräftig nach allgemeinem Strafrecht verurteilt wurde. In diesem Fall wendet das Gericht grundsätzlich gemäß § 31 Abs. 2 Satz 1 JGG gleichermaßen einheitlich das Jugendstrafrecht an wie bei mehreren Taten eines Jugendlichen, die teilweise schon in einem anderen Verfahren abgeurteilt wurden.
Demnach sind die Voraussetzungen für eine einheitliche Rechtsfolgenentscheidung hier nicht erfüllt. Entgegen § 32 JGG wurde der Angeklagte Y. wegen einer seiner in Rede stehenden Straftaten bereits in einem anderen Verfahren rechtskräftig verurteilt, und entgegen § 105 Abs. 2 JGG beging er die jetzt abzuurteilende Tat nicht als Heranwachsender, sondern als Jugendlicher.
b) In einer solchen Konstellation kommt eine einheitliche Rechtsfolgenentscheidung entgegen einer teilweise im Schrifttum vertretenen Auffassung (vgl. Streng, Jugendstrafrecht, 6. Aufl., Rn. 289; Schatz in Diemer/Schatz/Sonnen, JGG, 8. Aufl., § 32 Rn. 16; Ostendorf, JGG, 11. Aufl., § 32 Rn. 9) auch nicht in entsprechender Anwendung der §§ 32, 105 Abs. 2 JGG in Betracht. Voraussetzung für eine Analogie ist das Vorliegen einer dem Gesetzgeber nicht deutlich gewordenen unbeabsichtigten (planwidrigen) Regelungslücke (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Oktober 2020 - 1 ARs 3/20, NStZ-RR 2021, 52, 54 mwN). Daran fehlt es hier (vgl. BGH, Urteile vom 13. Oktober 1977 - 4 StR 451/77, BGHSt 27, 295; vom 12. Oktober 1989 - 4 StR 445/89, BGHSt 36, 270, 272; MüKo-StGB/Laue, 4. Aufl., § 105 JGG Rn. 45; Eisenberg/Kölbel, JGG, 25. Aufl., § 105 Rn. 65; Brunner/Dölling, JGG, 14. Aufl., § 105 Rn. 39; Laubenthal/Baier/Nestler, Jugendstrafrecht, 3. Aufl., Rn. 530; Krauth, Festschrift für Lackner, 1987, S. 1057, 1061).
Es entspricht dem erklärten Willen des Gesetzgebers, die einheitliche Sanktionierung von in verschiedenen Alters- und Reifestufen begangenen Taten durch § 32 des Jugendgerichtsgesetzes vom 4. August 1953 (BGBl. I, S. 751) auf den Fall ihrer gleichzeitigen Aburteilung zu beschränken (vgl. BGH, Urteile vom 6. Mai 1960 - 4 StR 107/60, BGHSt 14, 287, 289; vom 13. Oktober 1977 - 4 StR 451/77, BGHSt 27, 295, 296; vom 31. Oktober 1989 - 1 StR 501/89, BGHSt 36, 294, 295; Beschluss vom 7. August 2019 - 4 StR 189/19, BGHSt 64, 178, 183 f.). Dies ergibt sich aus den Gesetzesmaterialien (vgl. dazu im Einzelnen BGH, Beschluss vom 7. August 2019 - 4 StR 189/19, aaO). Danach sollte die Beschränkung auf den Fall der gleichzeitigen Aburteilung „für das Rechtsgefühl kaum erträgliche Vorteile für den Verurteilten (…) in der Strafbemessung“ vermeiden (vgl. BT-Drucks. Nr. 4437, S. 7), die sich daraus ergeben können, dass seine früher nach allgemeinem Strafrecht abgeurteilte Tat nur deshalb mit einer vergleichsweise milden (einheitlichen) Jugendstrafe geahndet wird, weil er außerdem schon als Jugendlicher straffällig geworden war (vgl. dazu Krauth, aaO, S. 1057, 1058 ff.; Streng, Jugendstrafrecht, 6. Aufl., Rn. 286).
Die Einfügung von § 105 Abs. 2 JGG durch das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch vom 2. März 1974 (BGBl. I, S. 469) hat daran nichts geändert. Den Gesetzesmaterialien lässt sich entnehmen, dass der Gesetzgeber mit dieser Regelung die Einbeziehung einer Verurteilung des Angeklagten nach allgemeinem Strafrecht in eine einheitliche Rechtsfolgenentscheidung nach dem Jugendstrafrecht nur für den Fall ermöglichen wollte, dass der Angeklagte die aktuell abzuurteilende Tat als Heranwachsender beging, nicht jedoch für den Fall, dass er zur Tatzeit noch Jugendlicher war. Denn der Vorschrift liegt die Annahme zugrunde, dass die Anwendung des Jugendstrafrechts gemäß § 105 Abs. 1 JGG in dem neuen Verfahren trotz der vorangegangenen Verurteilung des Angeklagten nach allgemeinem Strafrecht auf einer genaueren Persönlichkeitserforschung beruht, die zu der Erkenntnis geführt hat, dass der Angeklagte entgegen der dem früheren Urteil zugrundeliegenden Bewertung doch noch einem Jugendlichen gleichzusetzen ist, so dass eine Korrektur der ursprünglich getroffenen Entscheidung geboten erscheint (vgl. BT-Drucks. 7/550, S. 332 f.; BGH, Urteile vom 13. Oktober 1977 - 4 StR 451/77, BGHSt 27, 295, 296 f.; vom 6. August 1986 - 3 StR 281/86, NStZ 1987, 24; vom 12. Oktober 1989 - 4 StR 445/89, BGHSt 36, 270, 273). Das kommt in den hier in Rede stehenden Fällen von vornherein nicht in Betracht, weil die jugendstrafrechtliche Ahndung der Tat, die der Angeklagte als Jugendlicher beging, nicht darauf schließen lässt, dass seine frühere Verurteilung nach allgemeinem Strafrecht unrichtig war (vgl. BGH, Urteil vom 12. Oktober 1989 - 4 StR 445/89, BGHSt 36, 270, 273).
2. Das Urteil beruht auf dem Rechtsfehler. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Landgericht den Erziehungsbedarf des Angeklagten ohne Einbeziehung des Strafbefehls vom 17. Januar 2023 geringer veranschlagt und auf eine niedrigere Jugendstrafe erkannt hätte.
3. Die Sache bedarf insoweit neuer Verhandlung und Entscheidung. Die zugehörigen Feststellungen können aufrechterhalten bleiben, weil sie von dem Rechtsfehler unberührt sind (§ 353 Abs. 2 StPO).
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 724
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede