HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 379
Bearbeiter: Holger Mann
Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 1255/23, Beschluss v. 02.02.2024, HRRS 2024 Nr. 379
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Der in der Justizvollzugsanstalt Heilbronn inhaftierte Beschwerdeführer wendet sich mit seiner am 4. August 2023 eingegangenen Verfassungsbeschwerde gegen Beschlüsse des Landgerichts Heilbronn und des Oberlandesgerichts Stuttgart. Mit seinem gemäß § 109 Abs. 1 StVollzG gestellten Antrag verfolgte er das Ziel, die Justizvollzugsanstalt zu verpflichten, die auf der Grundlage eines mit dem Land Baden-Württemberg geschlossenen Konzessionsvertrages durch einen privaten Betreiber, das Unternehmen (…) erhobenen Telefongebühren „auf das ortsübliche Niveau“ zu senken. Das Landgericht wies seinen Antrag als unbegründet zurück und das Oberlandesgericht verwarf seine hiergegen erhobene Rechtsbeschwerde als unzulässig und wies die sich daran anschließende Gegenvorstellung zurück. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und von Art. 19 Abs. 4 GG.
1. Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil sie unzulässig ist. Der Beschwerdeführer hat die Einhaltung der Monatsfrist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG nicht substantiiert aufgezeigt.
a) Die allgemeine Begründungslast des § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG verlangt von einem Beschwerdeführer im Zweifelsfall die schlüssige Darlegung, dass die einmonatige Frist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG zur Erhebung und Begründung der Verfassungsbeschwerde eingehalten ist, sofern dies nicht ohne Weiteres aus den Unterlagen ersichtlich ist (vgl. BVerfGK 14, 468 <469>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Februar 2021 - 2 BvR 428/18 -, Rn. 2; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 29. April 2021 - 2 BvR 1543/20 -, Rn. 6).
b) Diesen Anforderungen ist der Beschwerdeführer nicht gerecht geworden. Für den Fristbeginn entscheidend ist vorliegend gemäß § 93 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG die gemäß § 120 Abs. 1 Satz 2 StVollzG, § 35 Abs. 2 Satz 2 StPO von Amts wegen vorzunehmende formlose Mitteilung des angegriffenen Beschlusses des Oberlandesgerichts vom 27. September 2022 als der nach der einschlägigen Verfahrensordnung letztinstanzlichen Entscheidung. Die am 5. Juli 2023 erhobene Gegenvorstellung gehörte weder zum Rechtsweg noch war deren Einlegung zur Wahrung des Grundsatzes der Subsidiarität erforderlich (vgl. nur BVerfGE 122, 190 <197 ff.>; BVerfGK 13, 382 <387>), sodass sie die Frist zur Erhebung der Verfassungsbeschwerde nicht offenhalten konnte. Zwar teilt der Beschwerdeführer mit, der Beschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 27. September 2022 habe ihn nicht von Amts wegen, sondern erst nach seiner schriftlichen Aufforderung auf Erteilung einer in vollständiger Form abgefassten Entscheidung vom 22. Mai 2023 und einer weiteren Nachfrage vom 16. Juni 2023 am 5. Juli 2023 erstmalig erreicht. Träfe dies zu, so wäre mit der am Freitag, den 4. August 2023, eingegangenen Verfassungsbeschwerde die Frist noch eingehalten worden. Der Beschwerdeführer legt in diesem Zusammenhang aber nicht dar, wie sich die von ihm aufgestellte Behauptung mit seiner im fachgerichtlichen Verfahren unter dem 5. Juli 2023 getätigten Aussage, er habe von dem Beschluss des Oberlandesgerichts vom 27. September 2022 erst im Rahmen einer Akteneinsicht vom 1. Juni 2023 Kenntnis erlangt, und dem weiteren Umstand vereinbaren lässt, dass er ausweislich seines Schreibens vom 8. Februar 2023 bereits an diesem Tag, also am 8. Februar 2023, Einsicht (auch) in die betreffende Akte genommen hat. Vor diesem Hintergrund drängt sich der vom Beschwerdeführer nicht schlüssig entkräftete Eindruck auf, er passe seine Ausführungen zum Zugang des ausweislich des Abgangsvermerks bereits am 29. September 2022 an ihn auf den Weg gebrachten Beschlusses ungeachtet der wirklichen Vorgänge den jeweiligen prozessualen Erfordernissen an.
c) Eine Wiedereinsetzung von Amts wegen nach § 93 Abs. 2 Satz 4 Halbsatz 2 BVerfGG, die nur dann möglich ist, wenn bis auf den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand alle übrigen Voraussetzungen erfüllt sind (vgl. BVerfGE 122, 190 <204>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Dezember 2012 - 2 BvR 659/12 -, juris, Rn. 15; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 15. Februar 2023 - 1 BvR 2349/22 -, Rn. 18), kommt nicht in Betracht. § 93 Abs. 2 Satz 4 Halbsatz 2 BVerfGG entbindet nicht von der Obliegenheit, innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist die für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand relevanten Tatsachen vorzutragen und sie - dies gegebenenfalls auch noch nachträglich nach Ablauf der Frist - glaubhaft zu machen (BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 15. Februar 2023 - 1 BvR 2349/22 -, Rn. 18). Daran fehlt es hier. Weder trägt der Beschwerdeführer zum Vorliegen eines für die Fristversäumung kausalen unverschuldeten Hinderungsgrundes vor noch ist ein solcher ersichtlich.
2. Daher muss offenbleiben, ob die angegriffenen Beschlüsse des Landgerichts und des Oberlandesgerichts den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Pflicht zur Sachaufklärung aus Art. 19 Abs. 4 GG gerecht geworden sind.
a) Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt (vgl. BVerfGE 67, 43 <58>; stRspr). Die Gerichte sind verpflichtet, bei der Auslegung und Anwendung des Prozessrechts einen wirkungsvollen Rechtsschutz zu gewährleisten (vgl. BVerfGE 77, 275 <284>). Der Bürger hat einen Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl. BVerfGE 35, 382 <401 f.>; stRspr). Daraus folgt grundsätzlich die Pflicht der Gerichte, die angefochtenen Verwaltungsakte in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig nachzuprüfen (BVerfGE 84, 34 <49>). Die fachgerichtliche Überprüfung kann die rechtsstaatlich gebotene Beachtung des geltenden Rechts und den effektiven Schutz der berührten materiellen Rechte nur gewährleisten, wenn sie auf zureichender Aufklärung des jeweiligen Sachverhalts beruht. Im Strafvollzugsverfahren hat das Gericht im Rahmen der Amtsermittlungspflicht von sich aus die zur Aufklärung des Sachverhalts notwendigen Maßnahmen zu treffen (vgl. allgemein BVerfGE 101, 275 <294 f.>; BVerfGK 4, 119 <129>; vgl. auch BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 17. März 2021 - 2 BvR 194/20 -, Rn. 51 m.w.N.; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 3. November 2021 - 2 BvR 828/21 -, Rn. 29 ff.). Um dem Gebot effektiven Rechtsschutzes zu genügen, darf ein Gericht auf die Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten daher nur verzichten, wenn Beweismittel unzulässig, schlechterdings untauglich, unerreichbar oder für die Entscheidung unerheblich sind. Dagegen darf es von einer Beweisaufnahme nicht schon dann absehen, wenn die Aufklärung besonders arbeits- oder zeitaufwändig erscheint (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Februar 2020 - 2 BvR 1719/19 -, Rn. 22).
b) Gemessen an diesen Maßstäben begegnet es verfassungsrechtlichen Bedenken, wie das Landgericht, ohne - soweit ersichtlich - die in der Justizvollzugsanstalt von dem Anbieter (…) konkret erbrachten Leistungen ermittelt zu haben, die sich im Bereich der Gefangenentelefonie mit Blick auf die unter Umständen durch den Anbieter bereitzustellende Infrastruktur und notwendige Sicherheitsvorkehrungen von den im extramuralen Bereich erbrachten Leistungen unterscheiden mögen, zu der Feststellung gelangt, die angebotenen Tarife seien „marktgerecht“. Einer von dem Beschwerdeführer verschiedentlich angeregten „Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Marktgerechtigkeit“ bedürfe es daher nicht. Als einzigen Vergleichswert stellt das Landgericht insoweit auf die von der (…) AG als dem „in Deutschland marktführende[n] Telekommunikationsanbieter“ im Rahmen des vorherigen Konzessionsvertrags angebotenen Tarife ab, ohne sich Gewissheit darüber zu verschaffen, dass diese noch der aktuellen Marktlage entsprechen, und ohne der Frage nachzugehen, ob und gegebenenfalls welche Anbieter neben dem Unternehmen (…) und der (…) AG auf dem relevanten Markt für Gefangenentelefonie miteinander konkurrieren.
c) Auch hinsichtlich der Vereinbarkeit des Beschlusses des Oberlandesgerichts vom 27. September 2022 mit Art. 19 Abs. 4 GG bestehen verfassungsrechtliche Zweifel. Art. 19 Abs. 4 GG fordert zwar keinen Instanzenzug. Eröffnet das Prozessrecht aber eine weitere Instanz, so gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG dem Bürger auch insoweit eine wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl. BVerfGE 40, 272 <274 f.>; 54, 94 <96 f.>; 122, 248 <271>; stRspr). Soweit der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts vom 27. September 2022 den mit Blick auf den Beschluss des Landgerichts vom 10. September 2021 bestehenden verfassungsrechtlichen Bedenken nicht abhilft, liegt auch insoweit ein Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG nahe.
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 379
Bearbeiter: Holger Mann