HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 378
Bearbeiter: Holger Mann
Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 637/23, Beschluss v. 27.02.2024, HRRS 2024 Nr. 378
1. Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
2. Die einstweilige Anordnung vom 19. Mai 2023, wiederholt durch Beschluss der Kammer vom 7. November 2023, wird damit gegenstandslos.
3. Der Freistaat Bayern hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.
1. Gegen die Beschwerdeführerin wurden mehrere Strafverfahren wegen Diebstahls und Widerstands gegen beziehungsweise tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte und Beleidigung, Besitzes von Betäubungsmitteln, versuchter Körperverletzung mit Bedrohung und Beleidigung sowie gefährlicher Körperverletzung geführt, die miteinander verbunden wurden.
2. Mit Beschluss vom 17. März 2021 ordnete das Amtsgericht Augsburg die Einholung eines Sachverständigengutachtens zu der Frage der Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) beziehungsweise verminderten Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) und den Voraussetzungen der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) an. Die Beschwerdeführerin brachte in der folgenden Zeit jedoch wiederholt zum Ausdruck, an einer Exploration nicht mitwirken zu wollen. In zwei Gutachten nach Aktenlage erklärte der gerichtlich bestellte Sachverständige, ohne weitergehende Untersuchungen keine abschließende Beurteilung abgeben zu können und befürwortete eine Unterbringung zur Beobachtung und Vorbereitung eines Gutachtens nach § 81 StPO. Zu einem denkbaren Untersuchungskonzept erklärte er, es sei ein Explorationsgespräch vorgesehen. Sollte dieses nicht zustande kommen, sei eine mehrwöchige Beobachtung geplant, um anhand erneuter Verhaltensauffälligkeiten einen diagnostischen Rückschluss zu ziehen. Bei gegebenem Einverständnis seien auch laborchemische Untersuchungen sinnvoll.
3. Mit Beschluss vom 27. März 2023 ordnete das Amtsgericht Augsburg die Unterbringung der Beschwerdeführerin zur Vorbereitung eines Gutachtens über ihren psychischen Zustand für die Dauer von höchstens sechs Wochen an. Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde verwarf das Landgericht Augsburg mit Beschluss vom 13. April 2023.
4. Mit Urteil vom 16. Oktober 2023 sprach das Amtsgericht Augsburg die Beschwerdeführerin wegen Schuldunfähigkeit frei. Eine Unterbringung nach § 63 StGB lehnte es ab und erklärte, auf Grundlage der nach Aktenlage erstellten Gutachten sei nicht davon auszugehen, dass von der Beschwerdeführerin in der Zukunft eine erhebliche Gefahr ausgehe.
Mit Beschluss vom 19. Dezember 2023 hob das Amtsgericht Augsburg den Beschluss vom 27. März 2023 auf.
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde vom 16. Mai 2023 rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG) und ihres Rechts auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG).
1. Sie macht im Wesentlichen geltend, das Untersuchungskonzept ziele auf eine unzulässige Totalüberwachung ab. Die Beschwerdeführerin solle in ihrem Alltagsverhalten und bei sämtlichen Interaktionen mit anderen Personen beobachtet werden. Eine solche Maßnahme würde ihr verfassungsrechtlich gewährleistetes Schweigerecht unterlaufen. Mit einem Einverständnis zu Untersuchungshandlungen sei nicht zu rechnen. Es sei nicht nachvollziehbar, wie der Zweck der Untersuchung erreicht werden könne, da sie sich in der schlichten Beobachtung des Verhaltens der Beschwerdeführerin erschöpfen werde.
2. Die Beschwerdeführerin steht auf dem Standpunkt, auch nach Aufhebung des Unterbringungsbeschlusses und rechtskräftigem Freispruch sei der Verfassungsbeschwerde stattzugeben. Es bestehe nach wie vor ein Rechtsschutzinteresse. Der Verfassungsbeschwerde komme bereits grundlegende Bedeutung zu. Zudem bestehe Wiederholungsgefahr. Gegen die Beschwerdeführerin werde in einem weiteren Verfahren wegen Ladendiebstahls ermittelt. Die Frage der Schuldfähigkeit der Beschwerdeführerin werde wieder zu klären sein.
1. Mit Beschluss vom 19. Mai 2023 hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts einem Antrag der Beschwerdeführerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung stattgegeben und die Vollziehung des Beschlusses vom 27. März 2023 bis zu einer Entscheidung über die Hauptsache, längstens aber für sechs Monate, untersagt. Mit Beschluss vom 7. November 2023 hat die Kammer die einstweilige Anordnung für höchstens weitere sechs Monate verlängert.
2. Zudem hat die Kammer die Verfassungsbeschwerde dem Bayerischen Staatsministerium der Justiz und dem Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof zugestellt. Der Generalbundesanwalt hat zu der Verfassungsbeschwerde Stellung genommen und im Wesentlichen erklärt, die Verfassungsbeschwerde sei unbegründet, da das Untersuchungskonzept nicht auf eine unzulässige Totalbeobachtung abziele, sondern auch anderweitig Erkenntnisse verspreche. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hat die Akten des Ausgangsverfahrens vorgelegt und zunächst von einer Stellungnahme abgesehen. Abschließend hat es erklärt, es sehe die Verfassungsbeschwerde nach dem Freispruch als erledigt an.
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Die Annahmegründe nach § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Der Verfassungsbeschwerde kommt weder grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte der Beschwerdeführerin angezeigt. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig. Das Rechtsschutzziel der Beschwerdeführerin hat sich erledigt (1.). Weder hat die Beschwerdeführerin hinreichend substantiiert dargelegt noch ist sonst erkennbar, dass das Rechtsschutzbedürfnis weiterhin fortbesteht (2.).
1. Soweit sich die Beschwerdeführerin weiterhin gegen die Beschlüsse des Amtsgerichts Augsburg vom 27. März 2023 und des Landgerichts Augsburg vom 13. April 2023 wendet, hat sich das Rechtsschutzziel erledigt. Die Aufhebung des Beschlusses des Amtsgerichts und der rechtskräftige Freispruch haben dazu geführt, dass die Beschwerdeführerin durch die angegriffenen Entscheidungen nicht länger beschwert ist. Der aufgehobene amtsgerichtliche Beschluss entfaltet ihr gegenüber keine belastenden Wirkungen mehr. Der verfassungsgerichtliche Rechtsschutz ist damit nicht mehr notwendig, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung abzuwehren oder zu beseitigen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 3. November 2015 - 2 BvR 2019/09 -, Rn. 21).
2. Nach Erledigung des ursprünglichen Begehrens besteht ein Rechtsschutzbedürfnis nur in eng begrenzten Ausnahmefällen fort (vgl. BVerfGE 49, 24 <52>; 81, 138 <140>; 91, 125 <133>; 119, 309 <317>; stRspr). Ein solcher Ausnahmefall liegt nicht vor.
a) Ein fortbestehendes Rechtsschutzinteresse kann nicht damit begründet werden, dass anderenfalls die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung unterbliebe und der gerügte Grundrechtseingriff besonders belastend erscheint (vgl. BVerfGE 81, 138 <140>; 91, 125 <133>; 97, 298 <308>; 119, 309 <317>), denn die Verfassungsbeschwerde warf keine Fragen von grundsätzlicher Bedeutung auf.
Eine verfassungsrechtliche Frage von grundsätzlicher oder allgemeiner Bedeutung ist aufgeworfen, wenn die Verfassungsbeschwerde geeignet ist, das objektive Verfassungsrecht zu wahren sowie seiner Auslegung und Fortbildung zu dienen. Es muss geboten sein, im öffentlichen Interesse trotz der Erledigung der Hauptsache zur Sache zu entscheiden und den Ausgang des Verfahrens nicht vom Wegfall der Beschwer abhängig zu machen (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 1. Oktober 2008 - 1 BvR 2733/04, 1 BvR 2782/04 -, juris, Rn. 15, unter Verweis auf BVerfGE 98, 218 <242 f.>).
Die Verfassungsbeschwerde hat keine Fragen aufgeworfen, die grundsätzlicher Klärung durch das Bundesverfassungsgericht bedürfen. Die entscheidungserheblichen verfassungsrechtlichen Fragestellungen zur Zulässigkeit einer Unterbringung nach § 81 StPO sind insbesondere auch unter dem Gesichtspunkt der Aussagefreiheit des Angeklagten bereits geklärt. So ist nach der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Unterbringung unzulässig, wenn sich der Betroffene weigert, die erforderlichen Untersuchungen zuzulassen beziehungsweise an ihnen mitzuwirken, und ein Erkenntnisgewinn nur bei Anwendung verbotener Vernehmungsmethoden oder eine andere Einflussnahme auf die Aussagefreiheit des Betroffenen zu erwarten ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Oktober 2001 - 2 BvR 1523/01 -, Rn. 20). Darüber hinaus ist die Anordnung der Unterbringung und Beobachtung auch dann unverhältnismäßig, wenn das Untersuchungskonzept darauf abzielt, den Betroffenen in seinem Alltagsverhalten und seiner Interaktion mit anderen Personen zu beobachten. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht steht einer derartigen „Totalbeobachtung“ unüberwindbar entgegen. In einem solchen Fall wäre der Betroffene nur noch Objekt staatlicher Erkenntnisgewinnung (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Oktober 2001 - 2 BvR 1523/01 -, Rn. 22). Über die Verfassungsbeschwerde hätte allein unter Anwendung dieser Grundsätze entschieden werden können. Dabei wäre maßgeblich darauf abzustellen gewesen, dass das sachverständige Untersuchungskonzept bereits so dürftig war, dass eine verlässliche Prüfung der Einhaltung der rechtlichen Grenzen der Befugnis nach § 81 StPO nicht möglich war.
b) Ein fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis kann weiter nicht damit begründet werden, dass sich die durch den angegriffenen Hoheitsakt einhergehende Belastung auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher die Beschwerdeführerin nach dem regelmäßigen Geschäftsgang eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kaum erlangen konnte und ihr Grundrechtsschutz anderenfalls in unzumutbarer Weise verkürzt würde (vgl. BVerfGE 9, 89 <93 f.>; 107, 299 <311>; 153, 1 <32 Rn. 75> m.w.N.). Der Beschluss des Amtsgerichts, mit dem die Unterbringung zur Beobachtung angeordnet wurde, wurde nicht vollzogen. Wegen der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ergangenen Entscheidung der Kammer konnte er nicht umgesetzt werden und sind die angeordneten Eingriffe nicht zur tatsächlichen Wirksamkeit gelangt.
c) Auch die Gefahr der Wiederholung eines Eingriffs kann ein Interesse an einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung im vorliegenden Fall nicht rechtfertigen. Dies setzt die hinreichend konkretisierte Möglichkeit voraus, dass die Beschwerdeführerin erneut ähnlichen Hoheitsakten ausgesetzt wird, die sie bereits angegriffen hat (vgl. BVerfGE 91, 125 <133>; 103, 44 <58 f.>; 104, 220 <223>; 116, 69 <79>; BVerfGK 6, 260 <263>). Eine rein theoretische Möglichkeit einer Wiederholung reicht dafür nicht, ohne dass irgendwelche Anhaltspunkte benannt werden oder ins Auge fallen, die für eine gewisse Wahrscheinlichkeit der Realisierung dieser Möglichkeit sprechen (vgl. BVerfGE 81, 138 <141 f.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 2. März 2011 - 2 BvR 576/09 -, juris, Rn. 2; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Dezember 2013 - 2 BvR 1373/12 -, Rn. 4; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 3. November 2015 - 2 BvR 2019/09 -, Rn. 26). Es ist vorliegend nicht konkret erkennbar, dass erneut die Anordnung der Unterbringung droht. Die Beschwerdeführerin hat lediglich allgemein vorgetragen, dass gegen sie weitere Ermittlungen geführt werden. Daraus ergibt sich aber nicht, dass eine Wiederholung der hier angegriffenen Maßnahmen konkret droht.
d) Ebenso wenig ist eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wegen etwaiger Fortdauer der Beeinträchtigung auch nach Aufhebung des angegriffenen Hoheitsakts erforderlich (vgl. BVerfGE 33, 247 <257 f.>; 69, 161 <168>; 81, 138 <140>). Hierzu bestünde auch bei Anerkennung eines besonderen Rehabilitationsinteresses Veranlassung (vgl. zu dieser Fallgruppe BVerfGE 148, 267 <278 f. Rn. 28>; 148, 296 <341 f. Rn. 108>).
Tatsächliche Konsequenzen der Unterbringung, die eine nachträgliche Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der Maßnahme geboten erscheinen lassen würden, sind aber im vorliegenden Fall nicht erkennbar. Ebenso wenig ist ersichtlich, dass sich die Beschwerdeführerin auf ein besonderes Rehabilitationsinteresse stützen könnte.
Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin beruht auf § 34a Abs. 3 BVerfGG. Danach kann das Bundesverfassungsgericht die volle oder teilweise Erstattung von Auslagen auch dann anordnen, wenn die Verfassungsbeschwerde erfolglos geblieben ist. Dies gilt auch, wenn sie, wie hier, nicht zur Entscheidung angenommen wurde (vgl. BVerfGE 36, 89 <92>; BVerfGK 7, 283 <302 f.>). Die Anordnung der Auslagenerstattung steht im Ermessen des Gerichts und setzt voraus, dass besondere Billigkeitsgründe vorgetragen oder ersichtlich sind (vgl. BVerfGE 7, 75 <77>; 20, 119 <133 f.>; 85, 109 <114 ff.>; 87, 394 <397 f.>; 89, 91 <97>; 133, 37 <38 f. Rn. 2>; stRspr).
Die Anordnung der Auslagenerstattung entspricht unter Abwägung aller besonderen Umstände des Falls der Billigkeit. Insbesondere ist zu Gunsten der Beschwerdeführerin zu berücksichtigen, dass das Amtsgericht selbst noch vor der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache von der angeordneten Maßnahme nach § 81 StPO Abstand genommen und dieser für die Aufklärung des Sachverhalts im Ergebnis keine Bedeutung mehr beigemessen hat. Dass die Beschwerdeführerin die Verfassungsbeschwerde in Verkennung der verfahrensrechtlichen Lage noch weiterverfolgt hat, zwingt jedenfalls im vorliegenden Fall nicht dazu, ihr die Auslagenerstattung ganz oder teilweise zu versagen (vgl. BVerfGE 85, 109 <116 f.> m.w.N.).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 378
Bearbeiter: Holger Mann