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HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 294

Bearbeiter: Fabian Afshar

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 185/23, Urteil v. 14.12.2023, HRRS 2024 Nr. 294


BGH 3 StR 185/23 - Urteil vom 14. Dezember 2023 (LG Wuppertal)

Entschuldigender Notstand (nicht anders abwendbare Gefahr: Inanspruchnahme behördlicher Hilfe); Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Neuregelung; überwiegendes Beruhen der Anlasstat auf den Hang).

§ 35 StGB; § 64 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

Der Entschuldigungsgrund des § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB setzt voraus, dass der Täter in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit eine rechtswidrige Tat begeht, um die Gefahr von sich, einem Angehörigen oder einer anderen ihm nahestehenden Person abzuwenden. Nicht anders abwendbar ist die Gefahr dann, wenn bei einer Ex-ante-Betrachtung kein milderes, gleichermaßen zur Gefahrenabwehr geeignetes Mittel vorhanden ist. Als anderweitige Abwendungsmöglichkeit in diesem Sinne ist grundsätzlich die rechtzeitig mögliche Inanspruchnahme behördlicher Hilfe vorgreiflich.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 1. Februar 2023 im Maßregelausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen (Fälle II.2. und 3. der Urteilsgründe im Folgenden: Fälle II.2. und 3.) sowie wegen Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (Fall II.1.) unter Einbeziehung weiterer Strafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Zudem hat es seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet und einen Vorwegvollzug der Strafe vor der Maßregel bestimmt. Die hiergegen mit der allgemeinen Sachrüge geführte Revision des Angeklagten hat die Aufhebung des Maßregelausspruchs zur Folge; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet.

1. Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen unterstützte und beriet der hinsichtlich des Anbaus von Hanf versierte Angeklagte die Betreiber einer Cannabisplantage bei der Aufzucht der Pflanzen. Auf diese Weise arbeitete er Schulden seines Schwagers ab. Einer der Betreiber hatte angekündigt, dass dem Schwager „ins Knie geschossen“ werde, sollten die Rückstände nicht ausgeglichen werden; eine Drohung, die der Angeklagte „ernst nahm und ernstnehmen durfte“ (Fall II.1.). Zwei weitere Cannabisplantagen betrieb er in eigener Regie (Fälle II.2. und 3.).

Soweit es die Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt betrifft, hat die Strafkammer unter Zugrundelegung der zum Urteilszeitpunkt geltenden Rechtslage mit dem psychiatrischen Sachverständigen ausgeführt, der erforderliche symptomatische Zusammenhang zwischen Tat und Hang sei gegeben, weil der Angeklagte, bei dem aufgrund jahrelangen regelmäßigen Konsums von Cannabis und Kokain eine psychische Abhängigkeit von diesen Betäubungsmitteln vorliege, die hier gegenständlichen Taten „jedenfalls auch“ zur Beschaffung ausreichender Finanzmittel für deren Erwerb begangen habe.

2. Die auf die Sachrüge veranlasste materiellrechtliche Überprüfung des Urteils hat weder zum Schuldspruch noch zum Strafausspruch einen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

Der Erörterung bedarf lediglich der Schuldspruch in Fall II.1.. Dieser ist entgegen den Ausführungen in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts rechtsfehlerfrei. Ein sachlichrechtlicher Mangel ergibt sich insbesondere nicht daraus, dass das Landgericht die Prüfung eines entschuldigenden Notstandes nach § 35 Abs. 1 StGB nicht vorgenommen hat, denn hierzu bestand kein Anlass. Im Einzelnen:

Der Entschuldigungsgrund des § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB setzt voraus, dass der Täter in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit eine rechtswidrige Tat begeht, um die Gefahr von sich, einem Angehörigen oder einer anderen ihm nahestehenden Person abzuwenden. Nicht anders abwendbar ist die Gefahr dann, wenn bei einer Ex-ante-Betrachtung kein milderes, gleichermaßen zur Gefahrenabwehr geeignetes Mittel vorhanden ist (vgl. BGH, Urteil vom 2. August 2023 - 5 StR 80/23, juris Rn. 13; MüKoStGB/Müssig, 4. Aufl., § 35 Rn. 27 ff.; LK/Zieschang, 13. Aufl., § 35 Rn. 57 ff.; Schönke/Schröder/Perron, StGB, 30. Aufl., § 35 Rn. 13 ff.; SSWStGB/Rosenau, 5. Aufl., § 35 Rn. 12 i.V.m. § 34 Rn. 13; jeweils mwN). Als anderweitige Abwendungsmöglichkeit in diesem Sinne ist grundsätzlich die rechtzeitig mögliche Inanspruchnahme behördlicher Hilfe vorgreiflich (vgl. BGH, Urteile vom 3. Februar 1993 - 3 StR 356/92, BGHSt 39, 133, 137; vom 14. Januar 1998 - 1 StR 658/97; vom 25. März 2003 - 1 StR 483/02, BGHSt 48, 255, 259 f.; Beschluss vom 4. Dezember 1996 - 2 StR 347/96, BGHR StGB § 35 Abs. 1 Gefahr, abwendbare 1; MüKoStGB/Erb, 4. Aufl., § 34 Rn. 115; Fischer, StGB, 70. Aufl., § 34 Rn. 9a).

Nach diesen Maßstäben bestand für den Angeklagten ohne Weiteres die Möglichkeit, die Drohung der Plantagenbetreiber gegenüber den zuständigen Behörden anzuzeigen und deren Tätigwerden zur Abwehr der Gefahr abzuwarten. Ein Ausnahmefall, in dem Anderes gelten konnte, liegt - zumal mit einer Verletzung des Schwagers nach dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe nicht unmittelbar zu rechnen war - nicht vor.

3. Hingegen unterliegt der Maßregelausspruch der Aufhebung, denn die Strafkammer hat bei ihrer Unterbringungsentscheidung nach § 64 StGB - seinerzeit zutreffend - die frühere Rechtslage zugrunde gelegt, die durch das seit dem 1. Oktober 2023 geltende Gesetz zur Überarbeitung des Sanktionenrechts - Ersatzfreiheitsstrafe, Strafzumessung, Auflagen und Weisungen sowie Unterbringung in einer Entziehungsanstalt - vom 26. Juli 2023 (BGBl. I Nr. 203) hinsichtlich der tatbestandlichen Anforderungen an eine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt verschiedene Verschärfungen erfahren hat. Für die revisionsrechtliche Nachprüfung derartiger „Altfälle“ ist - mangels Eingreifens einer Übergangsregelung - gemäß § 2 Abs. 6 StGB, § 354a StPO die Neuregelung maßgeblich (vgl. BGH, Beschlüsse vom 4. Oktober 2023 - 6 StR 405/23, juris Rn. 6; vom 25. Oktober 2023 - 5 StR 246/23, juris Rn. 2; vom 2. November 2023 - 6 StR 316/23, juris Rn. 6; vom 7. November 2023 - 5 StR 345/23, juris Rn. 2; vom 14. November 2023 - 1 StR 354/23, juris Rn. 1, 4; vom 16. November 2023 - 6 StR 452/23, juris Rn. 2; vom 20. November 2023 - 5 StR 407/23, juris Rn. 2; Urteile vom 12. Oktober 2023 - 4 StR 136/23, NStZ-RR 2024, 13, 14; vom 18. Oktober 2023 - 1 StR 214/23, juris Rn. 10).

Zwar trifft auch unter Zugrundelegung der strengeren Maßstäbe des nunmehr geltenden § 64 Satz 1 StGB nF die Annahme des Landgerichts zu, bei dem Angeklagten bestehe ein Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen. Die zumindest psychische Abhängigkeit des Angeklagten von Cannabis und Kokain stellt nach ihrem in den Urteilsgründen dargestellten Umfang eine Substanzkonsumstörung dar, infolge derer eine dauernde und schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensgestaltung, der Gesundheit, der Arbeits- oder der Leistungsfähigkeit eingetreten ist und fortdauert (vgl. BT-Drucks. 20/5913, S. 44 ff., 69; BGH, Urteil vom 12. Oktober 2023 - 4 StR 136/23, NStZ-RR 2024, 13, 14; Beschluss vom 14. November 2023 - 6 StR 346/23, juris Rn. 11).

Es fehlt jedoch bislang an hinreichenden Feststellungen zu dem erforderlichen symptomatischen Zusammenhang zwischen dem Substanzkonsum des Täters und der Begehung von Straftaten. Die nach früherer Rechtslage ausreichende Feststellung des Landgerichts, der Angeklagte habe die hier gegenständlichen Taten „jedenfalls auch“ zur Beschaffung ausreichender Finanzmittel für den Erwerb von Betäubungsmitteln begangen, belegt nicht, dass - wie nunmehr erforderlich - seine Taten „überwiegend“ auf den Hang zurückgehen, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen. Nach dem Willen des Gesetzgebers soll eine bloße Mitursächlichkeit des Hangs für die Tat nur noch dann ausreichen, wenn sie andere Ursachen quantitativ überwiegt. Das Vorliegen eines solchen Kausalzusammenhangs ist durch das Tatgericht - unter sachverständiger Beratung - positiv festzustellen (vgl. BT-Drucks. 20/5913 S. 46 ff., 69 f.; BGH, Beschlüsse vom 25. Oktober 2023 - 5 StR 246/23, juris Rn. 3 f.; vom 2. November 2023 - 6 StR 316/23, juris Rn. 8; vom 7. November 2023 - 5 StR 345/23, juris Rn. 2; vom 20. November 2023 - 5 StR 407/23, juris Rn. 2; Urteil vom 18. Oktober 2023 - 1 StR 214/23, juris Rn. 11 ff. mwN).

Weil das Landgericht den durch die Neufassung des § 64 StGB veränderten und für die Senatsentscheidung nach § 2 Abs. 6 StGB und § 354a StPO maßgeblichen Anordnungsmaßstab noch nicht hat berücksichtigen können und insoweit weitere Feststellungen möglich erscheinen, bedarf die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt erneuter tatgerichtlicher Prüfung und Entscheidung. Die zugehörigen Feststellungen sind aufzuheben, um dem neuen Tatgericht widerspruchsfreie neue Feststellungen zu ermöglichen.

Durch die Aufhebung der Unterbringungsentscheidung wird zugleich der Anordnung des Vorwegvollzugs eines Teils der Strafe vor der Maßregel die Grundlage entzogen. Sollte das neue Tatgericht wiederum die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt anordnen, wird es die Dauer des Vorwegvollzugs nach § 67 Abs. 2 Satz 3, Abs. 5 Satz 1 nF StGB nunmehr bezogen auf den Zweitdritteltermin zu berechnen haben.

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 294

Bearbeiter: Fabian Afshar