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HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 202

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 142/23, Urteil v. 13.12.2023, HRRS 2024 Nr. 202


BGH 6 StR 142/23 - Urteil vom 13. Dezember 2023 (LG Saarbrücken)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus; Unterbringung in einer Entziehungsanstalt; Verbindung von Maßregeln (Anordnung nebeneinander; Geeignetheit: Sorgfältige und umfassende Erörterung, Berücksichtigung des Ziels der Maßregeln der Besserung und Sicherung).

§ 63 StGB; § 72 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Liegen die Voraussetzungen für mehrere Maßregeln vor, so sind sie grundsätzlich nebeneinander anzuordnen (§ 72 Abs. 2 StGB), es sei denn, der erstrebte Zweck ist schon durch eine von ihnen zu erreichen (§ 72 Abs. 1 StGB); das ist aber nur der Fall, wenn sie gleichermaßen geeignet ist wie die andere, was sorgfältiger und umfassender Erörterung bedarf.

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 6. Dezember 2022 aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen zur Person, zum äußeren Tatgeschehen, zur inneren Tatseite und zur fehlenden Schuldfähigkeit aufrechterhalten.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

- Von Rechts wegen -

Gründe

Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung des Beschuldigten in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Die Staatsanwaltschaft rügt mit ihrer Revision die Verletzung sachlichen Rechts und strebt die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat weitgehend Erfolg, im Hinblick auf die Maßregel nach § 64 StGB auch zugunsten des Beschuldigten (§ 301 StPO).

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

Der Beschuldigte leidet an einer paranoiden Schizophrenie (ICD-10: F 20.0). Er konsumiert zudem seit vielen Jahren Amphetamin und Cannabis.

Auch am Tattag hatte er Amphetamin und Cannabis zu sich genommen. Hiernach begab er sich zu einem Mehrfamilienhaus in F. und trat die dortige Hauseingangstür ein. Er ging zu einer im Kellergeschoss gelegenen Wohnung, wo er - überwiegend unverständlich - herumschrie sowie massiv mit Händen und Füßen gegen die Wohnungstür schlug und trat. Eine Hausbewohnerin sprach den Beschuldigten an und teilte ihm mit, dass der Wohnungsinhaber nicht da sei. Er reagierte darauf nicht und setzte sein Verhalten unbeirrt fort. Da sie sich vor dem aggressiven Beschuldigten ängstigte, zog sich die Hausbewohnerin in ihre Wohnung zurück. Der Beschuldigte begab sich sodann zu den im Haus gelegenen Kellerverschlägen und zündete aus Verärgerung darüber, dass ihm die Wohnungstür nicht geöffnet worden war, mit seinem Feuerzeug Papier und Kartonagen an, die sich in einem der Verschläge befanden. Der Beschuldigte nahm hierbei billigend in Kauf, dass der Brand das gesamte Gebäude erfassen und es zumindest teilweise zerstören würde; zudem fand er sich auch mit dem Tod der im Haus anwesenden Menschen ab. Nachdem der Beschuldigte eine andere Wohnungstür eingetreten hatte, verließ er das Haus. Der Brand führte rasch zu einer starken Rauchentwicklung im Treppenhaus und in den Wohnungen. Den neun zur Tatzeit dort befindlichen Bewohnern gelang es - zum Teil nur mit Hilfe von Rettungskräften -, das Haus rechtzeitig zu verlassen. Mehrere Personen erlitten eine Rauchgasintoxikation. Infolge der Brand- und Rauchschäden war das Gebäude für mehrere Monate unbewohnbar.

Das Landgericht hat das Verhalten des Beschuldigten als versuchten Mord (§§ 211, 22, 23 Abs. 1 StGB) in Tateinheit mit besonders schwerer Brandstiftung (§ 306b Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB) bewertet. Die Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten sei aufgrund der paranoiden Schizophrenie im Zusammenwirken mit dem Konsum der Drogen aufgehoben gewesen. Es lägen sowohl die Voraussetzungen für die Unterbringung im Sinne des § 63 StGB als auch des § 64 StGB vor. Da die Schizophrenie (auch ausweislich der Bekundungen des Sachverständigen) in der Entziehungsanstalt mitbehandelt werden könne, seien beide Maßregeln gleichermaßen effektiv und der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt als milderes Mittel nach § 72 Abs. 1 Satz 2 StGB der Vorzug zu geben.

II.

Die Entscheidung des Landgerichts, von der Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) nach § 72 Abs. 1 StGB abzusehen, hält in zweifacher Hinsicht sachlich-rechtlicher Prüfung nicht stand.

1. Dem Urteil lassen sich die Voraussetzungen für die angeordnete Unterbringung des Beschuldigten in der Entziehungsanstalt nicht entnehmen.

Der Senat hat seiner Entscheidung gemäß § 354a StPO die zum 1. Oktober 2023 in Kraft getretene Neufassung des § 64 StGB (BGBl. 2023 I Nr. 203) zugrundezulegen. Die dort normierten und nach § 2 Abs. 6 StGB auch für Altfälle geltenden Voraussetzungen für die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt sind strenger. Dies gilt namentlich für die Erfolgsaussicht der Behandlung (§ 64 Satz 2 StGB). Nach dem zum Entscheidungszeitpunkt geltenden Recht war dafür „eine hinreichend konkrete Aussicht“ ausreichend; dies genügt nach der Neufassung des § 64 Satz 2 StGB nicht mehr. Denn hiernach ist die Anordnung der Maßregel auf diejenigen Fälle zu begrenzen, in denen das Erreichen des Vollzugsziels aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte zu erwarten ist. Hierfür ist eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades erforderlich, die durch Tatsachen belegt sein muss (vgl. BT-Drucks. 20/5913, S. 70 f.). Solche Tatsachen lassen sich dem Urteil indes nicht entnehmen.

2. Hinzu kommt, dass das Landgericht zu Unrecht von einem Vorrang der Anordnung nach § 64 StGB gegenüber einer solchen gemäß § 63 StGB ausgegangen ist. Liegen die Voraussetzungen für beide Maßregeln vor, so sind sie grundsätzlich nebeneinander anzuordnen (§ 72 Abs. 2 StGB), es sei denn, der erstrebte Zweck ist schon durch eine von ihnen zu erreichen (§ 72 Abs. 1 StGB).

Das ist aber nur der Fall, wenn sie gleichermaßen geeignet ist wie die andere (vgl. Schönke/Schröder/Kinzig, StGB, 30. Aufl., § 72 Rn. 3). Letzteres bedarf sorgfältiger und umfassender Erörterung (vgl. MüKo-StGB/van Gemmeren, 4. Aufl., § 63 Rn. 120; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 426). Diesen Anforderungen genügt die Prüfung des Landgerichts nicht; sie ist lückenhaft.

Gemeinsames Ziel der Maßregeln der Besserung und Sicherung (§§ 61 ff. StGB) ist es, künftigen Straftaten vorzubeugen und die Allgemeinheit vor gefährlichen Tätern zu schützen (vgl. BverfG, NJW 2012, 1784, 1785; Schönke/ Schröder/Kinzig, StGB, 30. Aufl., Vor §§ 61 ff. Rn. 2; Heger in Lackner/Kühl/Heger, StGB, 30. Aufl., § 61 Rn. 2). Die Geeignetheit der in Betracht kommenden Unterbringungen hat das Landgericht indes allein angesichts der jeweils bestehenden Behandlungsmöglichkeiten beurteilt. Den weiteren mit den Maßregeln verfolgten Zweck, die Allgemeinheit vor gefährlichen Tätern zu schützen, hat es dabei ersichtlich aus dem Auge verloren. Es hat nicht erkennbar bedacht, dass der Beschuldigte die Mitwirkung an der Behandlung in der Entziehungsanstalt verweigern und so - möglicherweise schon nach wenigen Monaten - die Erledigung der Maßregel nach § 67d Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 64 Satz 2 StGB erzwingen kann. Bei einem - wie hier - schuldunfähigen Täter, gegen den keine zusätzliche Freiheitsstrafe verhängt werden durfte, hat dies zur Folge, dass er mit Erledigung der Maßregel in die Freiheit zu entlassen ist (vgl. MüKo-StGB/van Gemmeren, aaO Rn. 25). Die dann nach § 67c Abs. 5 Satz 2 StGB von Gesetzes wegen eintretende Führungsaufsicht genügt nicht, um der von dem Entlassenen ausgehenden Gefahr zu begegnen.

Einem nach § 63 StGB Untergebrachten ist es dagegen nicht möglich, den Abbruch der Maßregel zu erzwingen, weil deren Fortbestand nicht von seiner Mitwirkungsbereitschaft abhängt. Der Schutz der Allgemeinheit erfordert in solchen Konstellationen daher grundsätzlich die gleichzeitige Anordnung beider Maßregeln; denkbar ist jedoch auch, gegen Beschuldigte, bei denen die hier relevante Doppeldiagnose vorliegt, allein die Unterbringung nach § 63 StGB anzuordnen, weil im Vollzug dieser Maßregel ein Hang im Sinne des § 64 Satz 1 StGB in der Regel mitbehandelt werden kann (vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. August 2014 - 3 StR 341/14, NStZ 2015, 539; vom 4. April 2018 - 1 StR 116/18).

3. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zur Person, zum äußeren Tatgeschehen, zur inneren Tatseite und zur fehlenden Schuldfähigkeit können dagegen bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO); sie dürfen um ihnen nicht widersprechende ergänzt werden.

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 202

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede