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HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 2

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 1694/23, Beschluss v. 04.12.2023, HRRS 2024 Nr. 2


BVerfG 2 BvR 1694/23 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 4. Dezember 2023 (OLG Braunschweig)

Einstweilige Anordnung gegen eine Auslieferung an die Türkei zum Zwecke der Strafvollstreckung (gerichtliche Aufklärungspflicht hinsichtlich der Wahrung prozessualer Mindestrechte; Abwesenheitsurteil; Gefahr eines Suizidversuchs; Folgenabwägung zugunsten des Verfolgten).

Art. 19 Abs. 4 GG; § 32 Abs. 1 BVerfGG

Leitsatz des Bearbeiters

Die Entscheidung eines Oberlandesgerichts, mit der eine Auslieferung an die Türkei zum Zwecke der Strafvollstreckung für zulässig erklärt wird, verletzt möglicherweise das Grundrecht des Verfolgten aus Art. 19 Abs. 4 GG und ist daher einstweilen auszusetzen, wenn das Gericht nicht hinreichend aufgeklärt hat, ob die prozessualen Mindestrechte des Verfolgten verletzt worden sind, weil die zu vollstreckenden Urteile zum Teil in dessen Abwesenheit ergangen sind, und ob der Gefahr eines erneuten Suizidversuchs des Verfolgen hinreichend Rechnung getragen ist.

Entscheidungstenor

Die Übergabe des Beschwerdeführers an die Behörden der Republik Türkei wird bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, einstweilen untersagt.

Die Generalstaatsanwaltschaft Braunschweig wird mit der Durchführung der einstweiligen Anordnung beauftragt.

Gründe

Zur Verfahrenssicherung wird die Übergabe des Beschwerdeführers an die Behörden der Republik Türkei gemäß § 32 Abs. 1 und Abs. 2 BVerfGG bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, einstweilen untersagt.

Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger, wehrt sich gegen seine Auslieferung an die Republik Türkei zur Vollstreckung einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren, elf Monaten und 545 Tagen.

1. Das Bundesverfassungsgericht kann einen Zustand durch einstweilige Anordnung gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG gegeben sind, ist wegen der weittragenden Folgen einer einstweiligen Anordnung regelmäßig ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 55, 1 <3>; 82, 310 <312>; 94, 166 <216 f.>; 104, 23 <27>; 106, 51 <58>).

Als Mittel des vorläufigen Rechtsschutzes hat die einstweilige Anordnung auch im verfassungsgerichtlichen Verfahren die Aufgabe, die Schaffung vollendeter Tatsachen zu verhindern; sie soll auf diese Weise dazu beitragen, Wirkung und Bedeutung einer erst noch zu erwartenden Entscheidung in der Hauptsache zu sichern und zu erhalten (vgl. BVerfGE 42, 103 <119>). Deshalb bleiben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht, es sei denn, die Hauptsache erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 89, 38 <43 f.>; 103, 41 <42>; 118, 111 <122>; stRspr). Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen, so hat das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich lediglich im Rahmen einer Folgenabwägung die Nachteile abzuwägen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 105, 365 <371>; 106, 351 <355>; 108, 238 <246>; 125, 385 <393>; 132, 195 <232 f. Rn. 87>; stRspr).

2. Nach diesen Maßstäben ist eine einstweilige Anordnung zu erlassen.

a) Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein insgesamt unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Es erscheint vielmehr möglich, dass die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts Braunschweig, mit der die Auslieferung des Beschwerdeführers für zulässig erklärt wurde, diesen in seinen Rechten aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzt. Das Oberlandesgericht könnte seine Aufklärungspflichten hinsichtlich der Gewährung prozessualer Mindestrechte verletzt haben, weil die ausländischen Strafurteile, zu deren Vollstreckung ausgeliefert werden soll, zum Teil in Abwesenheit des Beschwerdeführers ergangen sind (vgl. BVerfGE 59, 280 <282 ff.>; 63, 332 <337 f.> m.w.N.; BVerfGK 6, 13 <17>); insbesondere enthalten die von den türkischen Behörden vorgelegten Unterlagen in Bezug auf das Urteil des 12. Strafgerichts erster Instanz Bakirköy vom 16. April 2015 widersprüchliche Angaben zur An- oder Abwesenheit des Beschwerdeführers. Zudem erscheint es nicht völlig ausgeschlossen, dass das Oberlandesgericht die Gefahr eines erneuten Suizidversuchs beziehungsweise mögliche und erforderliche Vorkehrungen zu dessen Verhinderung während des Transports des Beschwerdeführers und dessen anschließender Inhaftierung in der Türkei nicht hinreichend aufgeklärt hat.

b) Die nach § 32 Abs. 1 BVerfGG erforderliche Folgenabwägung geht zugunsten des Beschwerdeführers aus. Die Folgen, die einträten, wenn der Beschwerdeführer ausgeliefert würde, sich später aber herausstellte, dass die Auslieferung rechtswidrig war, wiegen schwerer als die Folgen, die entstünden, wenn die Übergabe des Beschwerdeführers einstweilen untersagt bliebe, sich später aber herausstellte, dass sie ohne Rechtsverstoß hätte durchgeführt werden können. Denn im erstgenannten Fall wäre dem Beschwerdeführer eine erfolgreiche Geltendmachung seiner Einwände gegen die Auslieferung voraussichtlich nicht mehr möglich. Demgegenüber könnte der Beschwerdeführer, sollte sich die geplante Übergabe als rechtmäßig erweisen, zu einem späteren Zeitpunkt an die türkischen Behörden übergeben werden. Sein Aufenthalt in Deutschland würde sich lediglich bis zu einem solchen späteren Termin verlängern.

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 2

Bearbeiter: Holger Mann