HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 1285
Bearbeiter: Holger Mann
Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 618/24, Beschluss v. 10.09.2024, HRRS 2024 Nr. 1285
1. Die Vollstreckung der mit Urteil des Landgerichts Traunstein vom 16. November 2023 - 3 NBs 310 Js 28256/21 - verhängten Freiheitsstrafe wird ausgesetzt.
2. Diese Anordnung gilt bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für sechs Monate.
1. Das Amtsgericht Mühldorf am Inn verurteilte den Beschwerdeführer mit Urteil vom 26. Januar 2023 wegen Besitzes kinderpornographischer Schriften (§ 184b Abs. 3 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder vom 16. Juni 2021 <BGBl I S. 1810>, im Folgenden: alte Fassung) zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr.
2. Die Berufung des Beschwerdeführers verwarf das Landgericht Traunstein mit Urteil vom 16. November 2023. Zugleich verurteilte das Landgericht den Beschwerdeführer auf die Berufung der Staatsanwaltschaft zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sieben Monaten, die es wegen einer einschlägigen Vorstrafe nicht zur Bewährung aussetzte.
a) Das Landgericht legte dem Rechtsfolgenausspruch den damals geltenden Strafrahmen, der eine Freiheitsstrafe von einem Jahr bis maximal fünf Jahren vorsah (§ 184b Abs. 3 StGB alte Fassung), zugrunde. Im Rahmen der Abwägung nach § 46 Abs. 2 StGB führte es aus: Es könne nicht bei der Mindeststrafe von einem Jahr bleiben. Zwar habe sich der Beschwerdeführer geständig eingelassen und die bei ihm gefundenen Bilder zeigten Abbildungen im unteren Bereich der Strafbarkeit. Allerdings handele es sich um Bilder teils sehr junger Kinder und es seien mehrere Dateien sichergestellt worden. Ins Gewicht falle auch, dass der Beschwerdeführer bereits einschlägig vorbestraft sei. Die derzeit geführte Diskussion über das Erfordernis einer Anpassung des Strafrahmens für besondere Konstellationen führe nicht zu einem anderen Ergebnis, da ein besonderer Fall mit geringerem Unrechtsgehalt nicht vorliege.
b) Eine Strafaussetzung zur Bewährung komme nicht in Betracht. Es sei bereits keine günstige Legal- und Sozialprognose zu erkennen. Dies ergebe sich daraus, dass der Beschwerdeführer schon einmal wegen einer gleichartigen Tat zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden sei.
3. Der Beschwerdeführer legte durch seinen Verteidiger Revision gegen das Urteil des Landgerichts ein.
a) Zur Begründung ließ er darlegen: Die streitgegenständlichen Bilder würden den Tatbestand schon nicht erfüllen. Jedenfalls aber erweise sich die verhängte Strafe als nicht tat- und schuldangemessen. Das Nachtatverhalten des Beschwerdeführers und gewichtige Unterschiede zwischen der Tat, auf der die Vorbestrafung beruhte, und der nun gegenständlichen Tat seien nicht beachtet worden. Auch sei gänzlich unberücksichtigt geblieben, dass die rechtskräftig abgeurteilte Vortat acht Jahre zurückliege und dass es sich damals um ein Strafbefehlsverfahren gehandelt habe, dessen Warnfunktion begrenzt sei. Auch die Legal- und Sozialprognose des Landgerichts sei fehlerhaft.
Die Generalstaatsanwaltschaft München beantragte, die Revision als unbegründet zu verwerten. Die Strafzumessung halte rechtlicher Nachprüfung stand. Die Tat des Beschwerdeführers würde auch nach der (zum damaligen Zeitpunkt geplanten) Herabsetzung der Mindeststrafe von einem Jahr auf sechs Monate nicht in einem anderen Licht erscheinen. Die Versagung der Strafaussetzung zur Bewährung lasse Rechtsfehler nicht erkennen.
Die Verteidigung hielt an ihrer Rechtsauffassung fest. Jedenfalls die Nachprüfung des Strafausspruchs müsse zu dessen Aufhebung führen.
b) Mit Beschluss vom 14. März 2024 verwarf das Bayerische Oberste Landesgericht die Revision als unbegründet.
Die Nachprüfung des Urteils habe keine Rechtsfehler zum Nachteil des Beschwerdeführers ergeben. Zur Begründung werde zunächst auf die zutreffende Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft verwiesen, die auch durch die weiteren Ausführungen der Revision in der Gegenerklärung nicht entkräftet werde. Allerdings sei § 184b Abs. 3 Alt. 3 StGB alte Fassung nach Überzeugung des Senats mit der Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr ohne Vorsehung eines minder schweren Falles mit dem Schuldgrundsatz beziehungsweise dem Übermaßverbot nicht vereinbar und somit verfassungswidrig. Die damit an sich gebotene Vorlage an das Bundesverfassungsgericht sei im vorliegenden Fall jedoch nicht veranlasst, weil es auf die Gültigkeit der vorgenannten Norm nicht ankomme. Angesichts der insgesamt nachvollziehbaren Strafzumessungsgründe, insbesondere der einschlägigen Vorstrafe, könne der Senat ausnahmsweise ausschließen, dass die Kammer bei Zugrundelegung einer geringeren Mindeststrafe eine niedrigere Freiheitsstrafe verhängt hätte.
1. Am 15. April 2024 hat der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde erhoben. Er rügt die Verletzung seiner Rechte auf Freiheit der Person und auf den gesetzlichen Richter, des des Übermaßverbots, des strafrechtlichen Analogieverbots und des rechtsstaatlichen Begründungsgebots.
Im Kern macht er geltend: Die der Verurteilung zugrundeliegende Strafnorm des § 184b Abs. 3 StGB alte Fassung verletze den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht auf ein faires Verfahren, hier in seiner Ausprägung als strafrechtliches Übermaßverbot. Die Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe ohne eine Möglichkeit der Strafmilderung sei nicht verhältnismäßig. Insbesondere das Fehlen eines sonst üblichen minder schweren Falles sei in den Gesetzesmaterialien nicht erörtert worden. Die Norm begegne einer extrem weiten Bandbreite von Handlungen mit sehr unterschiedlichem, gegebenenfalls niedrigerem, Unrechtsgehalt. Das Bayerische Oberste Landesgericht habe seine Vorlagepflicht an den gesetzlichen Richter verletzt, da es die Norm für verfassungswidrig gehalten, sie aber nicht dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorgelegt habe. Die Auffassung des Bayerischen Obersten Landesgerichts, der zufolge auch bei milderem Strafrahmen die gleiche Strafe ausgesprochen worden wäre, würde bedeuten, dass das Landgericht den Strafrahmen gar nicht in seine Erwägungen einbezogen habe.
Zudem sei die Erfüllung des Tatbestandes des § 184b Abs. 3 StGB vorschnell und ohne Bewusstsein für die verfassungsrechtliche Tragweite ihrer Entscheidung angewandt worden.
2. Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 9. September 2024 hat der Beschwerdeführer den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Der Beschwerdeführer sei zum Haftantritt geladen worden. Durch die Vollstreckung drohten schwerwiegende Nachteile. Vollstreckungsrechtliche Rechtsbehelfe bestünden nicht.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat Erfolg.
1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Entscheidung über die einstweilige Anordnung haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben (vgl. BVerfGE 89, 38 <43 f.>; 143, 65 <87 Rn. 35>; 157, 332 <375 Rn. 68> - ERatG - eA; stRspr). Für die einstweilige Anordnung ist allerdings kein Raum, wenn sich die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet erweist (vgl. BVerfGE 104, 23 <28>; 111, 147 <152 f.>; 157, 332 <375 Rn. 68>; stRspr). Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens hat das Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer Folgenabwägung die Nachteile abzuwägen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Antrag aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, dem Antrag in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 105, 365 <371>; 143, 65 <87 Rn. 35>; 157, 332 <377 Rn. 73>; stRspr). Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsrechtlichen Verfahren auslöst, gilt für die Beurteilung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ein strenger Maßstab (vgl. BVerfGE 55, 1 <3>; 104, 23 <27>; 158, 210 <230 Rn. 50> - Einheitliches Patentgericht II - eA).
2. Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet.
a) Nach vorläufiger Bewertung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes genügt sie den Zulässigkeitsanforderungen. Insbesondere wurde sie fristgerecht erhoben und dürfte hinreichend substantiiert begründet sein.
b) Die Verfassungsbeschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet. Nach derzeitigem Stand ist zumindest offen, ob das Bayerische Oberste Landesgericht das Recht des Beschwerdeführers auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) durch die Entscheidung, auf eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG zu verzichten, verletzte.
aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann auch das Unterlassen einer Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) darstellen (vgl. BVerfGE 138, 64 <87 f. Rn. 71>). Nicht jede irrtümliche Überschreitung der den Fachgerichten gezogenen Grenzen ist jedoch als solcher Verstoß zu bewerten (vgl. BVerfGE 3, 359 <364 f.>; 13, 132 <144>; 29, 166 <172 f.>; 67, 90 <95>; 76, 93 <96 f.>; 87, 282 <284 f.>). Die Grenze zur Verfassungswidrigkeit ist erst überschritten, wenn die - fehlerhafte - Auslegung und Anwendung einfachen Rechts willkürlich (vgl. BVerfGE 3, 359 <364 f.>; 87, 282 <284 f.>; stRspr) oder offensichtlich unhaltbar ist (vgl. BVerfGE 29, 45 <49>; 58, 1 <45>; 82, 286 <299>).
bb) Es erscheint nach vorläufiger Bewertung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zumindest möglich, dass die Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts, auf eine Vorlage des § 184b Abs. 3 StGB alte Fassung nach Art. 100 Abs. 1 GG zu verzichten, an diesem Maßstab gemessen, nicht tragfähig ist.
Das Bayerische Oberste Landesgericht war davon überzeugt, dass der gesetzlich angeordnete Strafrahmen, den auch das Landgericht zur Anwendung brachte, verfassungswidrig sei. Es ging jedoch davon aus, dass eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG entbehrlich sei, da das Landgericht auch unter Zugrundelegung des Strafrahmens der alten Fassung des Gesetzes (§ 184b Abs. 3 StGB in der Fassung des Sechzigsten Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches vom 30. November 2020 <BGBl I S. 2600>, die bis zum 30. Juni 2021 in Kraft war), die eine niedrigere Mindeststrafe vorsah, zum selben Strafausspruch gekommen wäre.
Diese Auffassung begegnet schwerwiegenden Bedenken, die eingehender Prüfung im Rahmen des Hauptsacheverfahrens bedürfen. Der gesetzliche Strafrahmen ist Grundlage und Ausgangspunkt der Strafzumessung (vgl. von Heintschel-Heinegg, in: ders./Kudlich, BeckOK StGB, § 46 Rn. 10 <Aug. 2024>). Der Strafrahmen bringt die gesetzgeberische Wertung, wie schwer das Unrecht der Tat zu bemessen ist, zum Ausdruck. Das Ergebnis der nach § 46 Abs. 2 StGB vorzunehmenden Abwägung ist notwendigerweise abhängig von dem konkret anwendbaren Strafrahmen. Es erscheint nach vorläufiger Bewertung fernliegend, dass die Anwendung eines anderen Strafrahmens zum exakt gleichen Strafausspruch führt.
Dies gilt auch im vorliegenden Zusammenhang. Das Landgericht ging in seiner Strafzumessungsentscheidung ausdrücklich davon aus, dass es nicht bei der Mindeststrafe bleiben könne, sondern dass die Strafe diese zu überschreiten habe. Die für den Strafausspruch maßgebliche Erwägung knüpft damit an die konkret angedrohte Mindeststrafe an. Angesichts dessen spricht viel dafür, dass, wäre die ältere Fassung der Strafnorm zur Anwendung gekommen, die eine Geldstrafe beziehungsweise eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren vorsah, auch eine andere Strafe festgesetzt worden wäre.
Das Landgericht setzte sich allerdings auch mit den damals noch nicht umgesetzten Plänen zu einer Änderung des Strafrahmens auseinander. Das Bayerische Oberste Landesgericht entnimmt dem, im Anschluss an die Generalstaatsanwaltschaft München, dass das Landgericht auch im Falle einer geringeren Mindeststrafe zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sieben Monaten gekommen wäre. Ob die entsprechenden Ausführungen des Landgerichts die Schlussfolgerungen des Oberlandesgerichts zu tragen vermögen, bedarf eingehender Prüfung im Hauptsacheverfahren.
3. Aufgrund der damit eröffneten Folgenabwägung ist die vorläufige Aussetzung des Vollzugs der Freiheitsstrafe geboten. Der Vollzug der Freiheitsstrafe bringt einen endgültigen Rechtsverlust mit sich und stellt einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff dar. Erwiese sich das Begehren des Beschwerdeführers im Hauptsacheverfahren hingegen als unbegründet, so wären die durch eine vorübergehende Aussetzung der Vollstreckung hervorgerufenen Folgen gering. Sie treten hinter dem Aussetzungsinteresse des Beschwerdeführers zurück. Insbesondere bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdeführer die Vollstreckung der Strafe in Zukunft vereiteln könnte.
Daher ist im Wege der einstweiligen Anordnung - gemäß § 32 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ohne mündliche Verhandlung - die Aussetzung der Vollstreckung des Urteils des Landgerichts Traunstein vom 16. November 2023 - 3 NBs 310 Js 28256/21 - anzuordnen. Die Anordnung ist in der im Tenor bestimmten Weise befristet (§ 32 Abs. 6 Satz 1 BVerfGG).
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 1285
Bearbeiter: Holger Mann