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HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 1099

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 920/24, Beschluss v. 06.08.2024, HRRS 2024 Nr. 1099


BVerfG 2 BvR 920/24 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 6. August 2024 (OLG Nürnberg / LG Nürnberg-Fürth)

Einstweilige Anordnung gegen die Vollstreckung einer in Ungarn verhängten Freiheitsstrafe (Exequaturverfahren; möglicher Verstoß gegen das Schuldprinzip; Verurteilung ohne Nachweis der Schuldfähigkeit; Recht auf den gesetzlichen Richter und Pflicht zur Vorlage an den EuGH; Überwiegen des Freiheitsgrundrechts im Rahmen der Folgenabwägung).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 101 Abs. 1 GG; Art. 267 Abs. 2 AEUV; § 32 Abs. 1 BVerfGG

Leitsatz des Bearbeiters

Die im Exequaturverfahren für zulässig erklärte Vollstreckung einer in Ungarn verhängten mehrjährigen Freiheitsstrafe wegen Menschenschmuggels hat einstweilen zu unterbleiben, wenn der Verurteilte substantiiert eine Verletzung des Schuldprinzips im ungarischen Verfahren sowie einen Verstoß gegen sein Recht auf den gesetzlichen Richter geltend macht und ausführt, die Verurteilung sei ohne Nachweis seiner Schuldfähigkeit ergangen und das Oberlandesgericht hätte das Verfahren aussetzen und dem Gerichtshof der Europäischen Union vorlegen müssen.

Entscheidungstenor

Die Erklärung der Zulässigkeit der Vollstreckung des gegen den Beschwerdeführer ergangenen Urteils des Bezirksgerichts Sopron vom 23. November 2021 - B.270/2021/5 - durch Beschluss des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 19. Dezember 2023 - II StVK 1122/22 - wird bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers in der Hauptsache - längstens für die Dauer von sechs Monaten (§ 32 Abs. 6 Satz 1 BVerfGG) - ausgesetzt.

Gründe

Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbundenen Verfassungsbeschwerde gegen Entscheidungen des Landgerichts Nürnberg-Fürth und des Oberlandesgerichts Nürnberg im Rahmen eines Exequaturverfahrens, mit denen die Vollstreckung einer in Ungarn verhängten Freiheitsstrafe für zulässig erklärt wurde.

Das ungarische Bezirksgericht in Sopron hatte den Beschwerdeführer am 23. November 2021 - B.270/2021/5 - wegen nach § 353 Abs. 1, Abs. 2 Punkt b) des ungarischen Strafgesetzbuches zu drei Jahren Freiheitsstrafe, rechtskräftig seit dem 26. November 2021, verurteilt.

I.

Der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer rügt, dass im ungarischen Verfahren gegen das Schuldprinzip verstoßen worden sei, weil die Verurteilung ohne Nachweis der Schuldfähigkeit ergangen sei. Daneben habe das Oberlandesgericht Nürnberg das Verfahren aussetzen und dem Gerichtshof der Europäischen Union vorlegen müssen. Er sieht sich dadurch in seinen Grundrechten aus Art. 48 GRCh, Art. 1 Abs. 1 Satz 1, Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 GG sowie in Art. 101 Abs. 1 Satz 2, Art. 103 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 und Art. 25 GG sowie Art. 6 EMRK verletzt.

II.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig.

Zur Vermeidung schwerer Nachteile ist die Vollstreckung der verhängten Freiheitsstrafe gemäß § 32 Abs. 1 und 2 BVerfGG bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, einstweilen zu untersagen.

1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG gegeben sind, ist wegen der weittragenden Folgen einer einstweiligen Anordnung regelmäßig ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 55, 1 <3>; 82, 310 <312>; 94, 166 <216 f.>; 104, 23 <27>; 106, 51 <58>). Als Mittel des vorläufigen Rechtsschutzes hat die einstweilige Anordnung auch im verfassungsgerichtlichen Verfahren die Aufgabe, die Schaffung vollendeter Tatsachen zu verhindern; sie soll auf diese Weise dazu beitragen, Wirkung und Bedeutung einer erst noch zu erwartenden Entscheidung in der Hauptsache zu sichern und zu erhalten (vgl. BVerfGE 42, 103 <119>). Deshalb haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erwiese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 89, 38 <43 f.>; 103, 41 <42>; 118, 111 <122>; stRspr). Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegen die Nachteile abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde der Erfolg aber zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 88, 25 <35 f.>; 89, 109 <110 f.>; 105, 365 <371>; 106, 351 <355>; 108, 238 <246>; 125, 385 <393>; 132, 195 <232 f. Rn. 87>; stRspr).

2. Gemessen hieran ist die beantragte einstweilige Anordnung zu erlassen.

a) Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein insgesamt unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Die Komplexität und der erhebliche Umfang der ihr zugrundeliegenden Entscheidungen verursachen einen Prüfungsbedarf, dem bis zum beabsichtigten Beginn der Strafvollstreckung nicht in vollem Umfang Rechnung getragen werden kann.

b) Infolge des offenen Ausgangs des Verfassungsbeschwerdeverfahrens ist eine Folgenabwägung durchzuführen, die zugunsten des Beschwerdeführers ausgeht.

Unterbliebe die einstweilige Anordnung, erwiese sich später die Verfassungsbeschwerde jedoch als begründet, kann in der Zwischenzeit die Freiheitsstrafe aus dem landgerichtlichen Beschluss vollstreckt werden. Damit wäre ein erheblicher, nicht wiedergutzumachender Eingriff in das Recht auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG (vgl. BVerfGE 22, 178 <180>) verbunden, dem unter den grundrechtlich verbürgten Rechten besonderes Gewicht zukommt (vgl. BVerfGE 65, 317 <322>). Erginge demgegenüber eine einstweilige Anordnung, obwohl der Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache der Erfolg letztlich versagt bliebe, so wiegen die damit verbundenen Nachteile weniger schwer. In diesem Fall kann zwar die oben genannte Freiheitsstrafe vorübergehend nicht vollstreckt werden. Ein erheblicher Nachteil für das Wohl der Allgemeinheit ist jedoch nicht zu besorgen, da dem öffentlichen Interesse an der Vollstreckung der Freiheitsstrafe auch nach einer Zurückweisung der Verfassungsbeschwerde - wenn auch zeitlich verzögert - noch Rechnung getragen werden kann.

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 1099

Bearbeiter: Holger Mann