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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 955

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 363/22, Beschluss v. 20.04.2023, HRRS 2023 Nr. 955


BGH 2 StR 363/22 - Beschluss vom 20. April 2023 (LG Limburg)

Verminderte Schuldfähigkeit (Sachverständigengutachten: Gesamtwürdigung, falsche Anknüpfungstatsachen; Alkoholisierung: BAK, 2 Promille, Regelfall, Gesamtwürdigung, Fehlen offensichtlicher Ausfallerscheinungen, alkoholgewöhnte Täter, äußeres Leistungsverhalten, innere Steuerungsfähigkeit).

§ 21 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Maßgeblich für die Frage, ob die Voraussetzungen des § 21 StGB in Folge von Alkoholkonsums gegeben sind, ist eine Gesamtwürdigung, in die sowohl die Höhe der Blutalkoholkonzentration als auch psychodiagnostische Kriterien einzustellen sind. Dabei sind allerdings nur solche Umstände zu berücksichtigen, die aussagekräftige Hinweise darauf geben können, ob das Hemmungsvermögen des Täters bei der Begehung der Tat erhalten geblieben ist oder nicht. Offensichtliche Ausfallerscheinungen wie etwa auch Bewusstseinseinschränkungen oder kognitive Wahrnehmungsstörungen können zwar grundsätzlich für eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit sprechen, sind aber keine zwingenden oder auch nur regelmäßigen Begleiterscheinungen einer die Grenze zur erheblichen Minderung der Steuerungsfähigkeit überschreitenden Alkoholisierung, weshalb auch aus ihrem Fehlen allein noch nicht auf vollständig erhaltene Schuldfähigkeit geschlossen werden kann. Zudem ist bei alkoholgewöhnten Tätern zu berücksichtigen, dass äußeres Leistungsverhalten und innere Steuerungsfähigkeit durchaus weit auseinanderfallen können.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Limburg vom 10. Juni 2022 im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Seine auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision hat zum Rechtsfolgenausspruch Erfolg; im Übrigen ist sie offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

1. Der Verfahrensrüge bleibt aus den vom Generalbundesanwalt dargelegten Gründen der Erfolg versagt.

2. Die Überprüfung des Schuldspruchs hat Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten nicht ergeben.

3. Hingegen ist der Strafausspruch nicht frei von Rechtsfehlern. Die Ablehnung einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit gemäß § 21 StGB weist Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf.

a) Das Landgericht hat sich der Bewertung der Sachverständigen, die von zutreffenden Anknüpfungstatsachen ausgegangen sei, sowohl hinsichtlich der psychiatrischen Diagnose als auch der Einschätzung zur Einsichts- und Steuerungsfähigkeit angeschlossen.

Die Sachverständige hat angenommen, dass keines der vier Eingangsmerkmale der §§ 20, 21 StGB festzustellen sei. Die Diagnosen der dissozialen Persönlichkeitsstörung, der Alkoholabhängigkeit und des Cannabinoidmissbrauchs seien hierfür nicht „einschlägig“. Eine akute Alkoholintoxikation würde zwar eine krankhafte seelische Störung darstellen, liege hier jedoch nicht vor. Die festgestellte Blutalkoholkonzentration von 2,07 Promille zum Tatzeitpunkt falle unter gewissen Voraussetzungen in die Definition der akuten Intoxikation. Laut ICD-10 sei diese definiert als ein Zustandsbild nach Aufnahme einer psychotropen Substanz mit Störungen von Bewusstseinslage, kognitiven Fähigkeiten, Wahrnehmung, Affekt und Verhalten oder anderer psychophysiologischer Funktionen und Reaktionen. Die Störungen stünden in einem direkten Zusammenhang mit den akuten pharmakologischen Wirkungen der Substanz und nähmen bis zur vollständigen Wiederherstellung mit der Zeit ab, ausgenommen in den Fällen, bei denen Gewebeschäden oder andere Komplikationen aufgetreten seien. Dies sei angesichts der Beschreibung des Tatablaufs durch den Angeklagten und der Angaben der Zeugen zum Zustand des Angeklagten unmittelbar nach der Tat nicht anzunehmen. Diese hätten keine Ausfallerscheinungen oder Auffälligkeiten bei dem Angeklagten bekundet, abgesehen von einem Alkoholgeruch und dessen aggressiven Verhalten. Letzteres spreche indes nicht für eine akute Alkoholintoxikation. Neben den fehlenden Ausfallerscheinungen und der Alkoholgewöhnung des Angeklagten sprächen weitere gewichtige Umstände gegen eine Enthemmung. So sei der Angeklagte vom Tatort und auch vor der Polizei geflüchtet. Die Tat habe er anschließend zustimmend kommentiert. Seine Beleidigungen und sein aggressives Verhalten habe er kontrollieren können, wenn er zwar einerseits die männlichen Polizeibeamten und den männlichen rechtsmedizinischen Sachverständigen angegangen sei, andererseits kein solches Verhalten gegenüber der Notärztin gezeigt habe.

b) Es kann an dieser Stelle offen bleiben, ob die Ausführungen der Sachverständigen, denen sich das Landgericht ohne eigene Erwägungen angeschlossen hat, den Anforderungen genügen, die der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung an eine zur Prüfung der Voraussetzungen des § 21 StGB erforderliche Gesamtwürdigung von Umständen stellt, die aussagekräftige Hinweise darauf geben können, ob das Hemmungsvermögen des Täters bei der Begehung der Tat erhalten geblieben ist oder nicht (vgl. dazu nur Senat, Beschluss vom 22. Juni 2021 - 2 StR 168/21). Die Würdigung von Sachverständiger und Landgericht erweist sich schon deshalb als fehlerhaft, weil sie von einer falschen Anknüpfungstatsache ausgegangen ist und eine als maßgeblich mitgeteilte Erwägung anhand der Urteilsgründe vom Senat nicht nachvollzogen werden kann.

Die Sachverständige ist vom Fehlen jeglicher Ausfallerscheinungen des Angeklagten ausgegangen. Dabei hat sie nicht in den Blick genommen, dass der Zeuge D. den Angeklagten kurz vor der Tat gesehen und diesbezüglich mitgeteilt hat, er sei ihm betrunken erschienen, da er getaumelt sei. Es versteht sich von selbst, dass es sich dabei um einen wesentlichen Umstand handelt, der bei der Prüfung der Schuldfähigkeit des Angeklagten hätte Berücksichtigung finden müssen.

Soweit die Sachverständige in ihre Würdigung die Erwägung eingestellt hat, der Angeklagte habe - bezogen auf männliche bzw. weibliche Personen, mit denen er nach der Tat Kontakt gehabt habe - sein Verhalten (Beleidigungen, aggressives Verhalten) kontrollieren können, ist es dem Senat überdies nicht möglich, diese Wertung nachzuvollziehen. Den in den Urteilsgründen wiedergegebenen Aussagen von Polizeibeamten lässt sich zwar entnehmen, dass der Angeklagte sich ihnen gegenüber nach der Tat aggressiv und renitent verhalten hat. Wann er mit der Notärztin J. Kontakt hatte, der er gegenüber kein solches Verhalten gezeigt haben soll, und wie er im Einzelnen mit ihr umgegangen ist, ist allerdings im Urteil nicht ausgeführt.

c) Mit Blick auf die dargelegten Würdigungsmängel kann der Senat nicht ausschließen, dass das Landgericht zur Annahme der Voraussetzungen des § 21 StGB gelangt wäre und aufgrund dessen eine mildere Strafe verhängt hätte. Dass das Landgericht zur Annahme der Voraussetzungen des § 20 StGB gelangt sein könnte, schließt der Senat hingegen aus. Der Strafausspruch ist deshalb aufzuheben, die Sache bedarf deshalb insoweit, unter Heranziehung eines anderen Sachverständigen, neuer Verhandlung und Entscheidung.

4. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat vorsorglich darauf hin, dass eine maximale Blutalkoholkonzentration von über 2 Promille dem Tatrichter regelmäßig Anlass gibt, mit Blick auf die damit verbundene Alkoholintoxikation das Vorliegen einer krankhaften seelischen Störung und einer damit einhergehenden erheblichen Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit zu prüfen. Auch wenn davon auszugehen ist, dass es keinen gesicherten medizinisch-statistischen Erfahrungssatz darüber gibt, dass ohne Rücksicht auf psychodiagnostische Beurteilungskriterien allein wegen einer bestimmten Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit in aller Regel vom Vorliegen einer alkoholbedingt erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit ausgegangen werden muss (BGHSt 43, 66, 72 f.; 57, 247, 250), ist der im Einzelfall festzustellende Wert doch immerhin ein gewichtiges Beweisanzeichen für eine erhebliche alkoholische Beeinflussung. Maßgeblich für die Frage, ob die Voraussetzungen des § 21 StGB gegeben sind, ist dementsprechend eine Gesamtwürdigung, in die sowohl die Höhe der Blutalkoholkonzentration als auch psychodiagnostische Kriterien einzustellen sind. Dabei sind allerdings nur solche Umstände zu berücksichtigen, die aussagekräftige Hinweise darauf geben können, ob das Hemmungsvermögen des Täters bei der Begehung der Tat erhalten geblieben ist oder nicht (st. Rspr.; vgl. BGH NJW 2015, 3525, 3526; NStZ-RR 2016, 103,104). Offensichtliche Ausfallerscheinungen wie etwa auch Bewusstseinseinschränkungen oder kognitive Wahrnehmungsstörungen können zwar grundsätzlich für eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit sprechen, sind aber keine zwingenden oder auch nur regelmäßigen Begleiterscheinungen einer die Grenze zur erheblichen Minderung der Steuerungsfähigkeit überschreitenden Alkoholisierung, weshalb auch aus ihrem Fehlen allein noch nicht auf vollständig erhaltene Schuldfähigkeit geschlossen werden kann (vgl. Fischer, StGB, 70. Aufl., § 20, Rn. 23 mwN). Zudem ist bei - wie hier - alkoholgewöhnten Tätern zu berücksichtigen, dass äußeres Leistungsverhalten und innere Steuerungsfähigkeit durchaus weit auseinanderfallen können (vgl. BGH NStZ 2007, 696; NStZ 2015, 634; NJW 2015, 3525, 3526).

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 955

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede