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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 723

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 517/22, Urteil v. 05.04.2023, HRRS 2023 Nr. 723


BGH 6 StR 517/22 - Urteil vom 5. April 2023 (LG Cottbus)

Zusammentreffen von Milderungsgründen, Mehrfachmilderung (minder schwerer Fall; verminderte Schuldfähigkeit); mit einer langen Verfahrensdauer verbundene Belastung des Angeklagten, konventionswidrig lange Verfahrensdauer (kein selbstständiger Strafmilderungsgrund; keine Bedeutung im Rahmen der Prüfung einer Strafaussetzung zur Bewährung).

§ 212 StGB; § 213 StGB; § 21 StGB; § 49 Abs. 1 StGB; § 50 StGB; § 56 StGB; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die bereits bei der Strafrahmenwahl zu Gunsten des Angeklagten berücksichtigte alkoholbedingte Enthemmung kann nur dann zu einer anschließenden Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB führen, wenn die zur Bejahung des § 21 StGB herangezogenen Umstände insoweit noch weiter reichen als diejenigen, die zur Annahme des minder schweren Falls geführt haben.

2. Anders als die mit einer langen Verfahrensdauer verbundene Belastung des Angeklagten stellt die konventionswidrig lange Verfahrensdauer keinen selbstständigen Strafmilderungsgrund dar. Sie scheidet sowohl bei der Strafrahmenwahl als auch bei der Strafzumessung im engeren Sinn als bedeutsamer Umstand aus; im Rahmen der Prüfung einer Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56 StGB) kommt ihr ebenfalls keine Bedeutung zu.

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Cottbus vom 8. Juli 2022 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

- Von Rechts wegen -

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt und festgestellt, dass das Verfahren rechtsstaatswidrig verzögert wurde. Die auf den Strafausspruch beschränkte und auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.

I.

1. Nach den Feststellungen näherte sich der Nebenkläger auf einer Tanzfläche wiederholt der Zeugin J., der damaligen Verlobten des Angeklagten, wobei er sie körperlich berührte und sich auch nicht durch Abwehrversuche der Zeugin davon abbringen ließ. Darüber geriet der Angeklagte in Wut. Er stürmte auf den Nebenkläger zu, ergriff ihn am Hals und brachte ihn, während er ihn von der Tanzfläche schob, zu Boden. Während der Nebenkläger versuchte, sich aufzurichten, trat ihm der Angeklagte mit dem beschuhten Fuß wuchtig gegen die rechte Gesichtshälfte. Da der Nebenkläger bewusstlos zur Seite kippte, verfehlte ihn der zweite kräftige Tritt des Angeklagten. Obgleich mehrere Personen versuchten, den Angeklagten von dem wehrlos am Boden Liegenden fernzuhalten, gelangen dem Angeklagten vier weitere gezielte Tritte von oben gegen den Kopf des Nebenklägers, bevor der Zeuge D. den Angeklagten endgültig wegdrängen konnte. Bei den wuchtigen Stampftritten gegen den Kopf des Nebenklägers handelte der Angeklagte mit bedingtem Tötungsvorsatz. Er war aufgrund einer Alkoholintoxikation zur Tatzeit in seiner Steuerungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt.

2. Die Strafkammer hat die Tat als versuchten Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung gewertet. Sie hat unter Berücksichtigung des gesetzlich vertypten Milderungsgrundes gemäß § 23 StGB einen minder schweren Fall des Totschlags im Sinne von § 213 Alt. 2 StGB angenommen und in ihre Erwägungen unter anderem die alkoholbedingte Enthemmung des Angeklagten sowie die lange Verfahrensdauer eingestellt. Sodann hat sie den Strafrahmen nach den §§ 21, 49 Abs. 1 StGB herabgesetzt und im Rahmen der Strafzumessung im engeren Sinne „die erhebliche Verfahrensdauer, die einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung entspricht, maßgeblich und mit besonders hoher Gewichtung in die strafmildernde Bewertung einbezogen“. Hierzu hat sie ergänzend ausgeführt, dass die „erhebliche Berücksichtigung der Verfahrensverzögerung bei der Strafzumessung“ gewährt werde, damit die Möglichkeit der Strafaussetzung zur Bewährung verbleibe. Das Strafverfahren sei von Anfang 2018 bis Ende 2021 rechtsstaatswidrig verzögert worden.

II.

Die vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft ist begründet.

1. Sie ist wirksam auf den Strafausspruch beschränkt und erfasst daher nicht die vom Strafausspruch unabhängige (vgl. BGH, Urteile vom 9. August 2016 - 1 StR 121/16 und vom 27. August 2009 - 3 StR 250/09, BGHSt 54, 135, 138) Kompensationsentscheidung.

2. Die Bestimmung des Strafrahmens und die konkrete Strafzumessung halten revisionsgerichtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) Zutreffend wendet sich die Beschwerdeführerin gegen die Strafrahmenwahl. Zwar hat das Landgericht rechtsfehlerfrei eine alkoholbedingte Enthemmung des Angeklagten strafmildernd in seine Erwägungen zum Vorliegen eines minder schweren Falls des Totschlags (§ 213 Alt. 2 StGB) eingestellt. Indessen liegen die Voraussetzungen für eine weitere Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB nicht vor (§ 50 StGB; vgl. BGH, Urteil vom 22. August 2001 - 5 StR 260/01, NStZ 2001, 642). Das Landgericht hat nicht erkennbar bedacht, dass die bereits bei der Strafrahmenwahl zu Gunsten des Angeklagten berücksichtigte alkoholbedingte Enthemmung nur dann zu einer anschließenden Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB führen kann, wenn die zur Bejahung des § 21 StGB herangezogenen Umstände insoweit noch weiter reichen als diejenigen, die zur Annahme des minder schweren Falls geführt haben (vgl. BGH, Urteil vom 19. Juni 1987 - 2 StR 226/87, BGHR StGB § 50 Mehrfachmilderung 2). Dies lässt sich den Urteilsgründen, wonach die erheblich verminderte Schuldfähigkeit des Angeklagten gemäß § 21 StGB allein aus seiner Alkoholintoxikation zur Tatzeit resultierte, nicht entnehmen.

b) Der Strafausspruch kann auch deshalb nicht bestehen bleiben, weil das Landgericht bei der Strafzumessung eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung zum Vorteil des Angeklagten berücksichtigt hat.

aa) Anders als die mit einer langen Verfahrensdauer verbundene Belastung des Angeklagten (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Juni 2017 - GSSt 2/17, BGHSt 62, 184, 192; LK-StGB/Schneider, 13. Aufl., § 46 Rn. 237) stellt die konventionswidrig lange Verfahrensdauer keinen selbstständigen Strafmilderungsgrund dar (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 141; Urteil vom 27. August 2009 - 3 StR 250/09, aaO; MüKo-StGB/Maier, 4. Aufl., § 46 Rn. 425; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 770; Kinzig in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl., § 46 Rn. 57e). Sie scheidet sowohl bei der Strafrahmenwahl als auch bei der Strafzumessung im engeren Sinn als bedeutsamer Umstand aus; im Rahmen der Prüfung einer Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56 StGB) kommt ihr ebenfalls keine Bedeutung zu (vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, aaO).

bb) Das Landgericht hat jedoch die lange Verfahrensdauer als „rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung“ gewertet und als solche zu Gunsten des Angeklagten sowohl bei der Bestimmung des Strafrahmens als auch im Rahmen der Strafzumessung berücksichtigt. Es ist nicht ersichtlich, dass die Strafkammer den Umstand des konventions- und rechtsstaatswidrigen Verhaltens der Strafverfolgungsbehörden aus der für die Strafzumessung herangezogenen erheblichen Verfahrensdauer herausgelöst und insoweit unbeachtet gelassen hat. Dagegen spricht die ausdrückliche Gleichsetzung von erheblicher Verfahrensdauer und rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung im Urteil.

c) Der Senat kann nicht ausschließen, dass die Strafkammer ohne die aufgezeigten Rechtsfehler auf eine höhere Freiheitsstrafe erkannt hätte.

3. Für die neue Hauptverhandlung weist er auf das Folgende hin: Sollte das nunmehr zur Entscheidung berufene Tatgericht wiederum annehmen, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei Tatbegehung aufgrund der Alkoholisierung erheblich vermindert war (§ 21 StGB), wird es zu berücksichtigen haben, dass dem alkoholbedingt enthemmten Angeklagten die Tatintensität nur nach dem Maß seiner geminderten Schuld straferschwerend angelastet werden darf (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Februar 2023 - 6 StR 35/23 mwN).

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 723

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede