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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 206

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi

Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 95/22, Beschluss v. 13.12.2022, HRRS 2023 Nr. 206


BGH 6 StR 95/22 - Beschluss vom 13. Dezember 2022 (LG Ansbach)

Höchstdauer einer Unterbrechung (Konzentrationsmaxime; Verhandeln zur Sache; substantielle Förderung des Verfahrens; willkürliche Zerstückelung einheitlicher Verfahrensvorgänge).

§ 229 StPO

Leitsätze

1. Auch wenn in einem Termin zur Fortsetzung der Hauptverhandlung Verfahrensvorgänge stattfinden, die als Sachverhandlung anzusehen sind, verstößt es gegen § 229 StPO, wenn aus dem gesamten Verfahrensgang erkennbar wird, dass das Gericht mit der Verhandlung nicht die substantielle Förderung des Verfahrens bezweckt, sondern allein die Wahrung der Unterbrechungsfrist im Auge hat. (BGH)

2. So verhält es sich etwa dann, wenn einheitliche Verfahrensvorgänge willkürlich in mehrere kurze Verfahrensabschnitte zerstückelt und diese auf mehrere Verhandlungstage verteilt werden, um dadurch die zulässigen Unterbrechungsfristen einzuhalten. (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Ansbach vom 25. März 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt und sechs Monate der Gesamtfreiheitsstrafe wegen überlanger Verfahrensdauer für vollstreckt erklärt; außerdem hat es eine Einziehungsentscheidung getroffen. Die auf die Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Rüge einer Verletzung des § 229 StPO Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO), so dass es eines Eingehens auf die anderen Verfahrensbeanstandungen und die Sachrüge nicht bedarf.

1. Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

Mit Anklageschrift vom 5. Dezember 2016 legte die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten 204 Taten des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt sowie 88 Betrugstaten zur Last. Ihm wurde vorgeworfen, dadurch insgesamt Schäden in Höhe von etwa 435.000 Euro verursacht zu haben. Als Beweismittel waren in der Anklageschrift neben Urkunden 16 Zeugen benannt; dabei handelte es sich um elf Arbeitnehmer des Angeklagten, zwei Ermittlungsbeamte und drei Vertreter der betroffenen (Sozial-)Versicherungsträger.

Die Hauptverhandlung begann am 4. Mai 2017, Fortsetzungstermine waren auf den 15., 19., 23. und 31. Mai 2017 anberaumt. Das Beweisprogramm des Landgerichts wurde an diesen Tagen abgearbeitet. Die Hauptverhandlung verlängerte sich aufgrund von Beweisanträgen, welche die Verteidigung am 3., 19. und 22. Mai 2017 anbrachte, und durch erneute Vernehmung von sieben Zeugen.

In der Sitzung vom 20. Juli 2017 (9. Verhandlungstag) stellte die Verteidigung weitere Beweisanträge. Sie beantragte unter anderem, ein Sachverständigengutachten einzuholen zum Beweis der Tatsache, dass die dem Angeklagten zur Last gelegten Schwarzlohnzahlungen durch seinen Betrieb nicht erwirtschaftet werden konnten. Auf diesen Antrag ließ das Landgericht außerhalb der Hauptverhandlung die Buchhaltung des Angeklagten nach seinen Vorgaben aufarbeiten und von der Deutschen Rentenversicherung Bund (im Folgenden: Deutsche Rentenversicherung) nach und nach drei von einer der Anklageschrift zugrunde liegenden Schadensberechnung abweichende „alternative“ Schadensberechnungen erstellen. Dadurch verzögerte sich das Verfahren erheblich. Die dritte alternative Schadensberechnung datierte vom 2. Juli 2020. Im Termin vom 8. September 2020 (62. Verhandlungstag) lehnte das Landgericht den am 20. Juli 2017 gestellten Beweisantrag mit der Begründung ab, dass es aufgrund dieser Schadensberechnung über ausreichende eigene Sachkunde zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit des Angeklagten hinsichtlich der mutmaßlich vorenthaltenen Arbeitsentgelte verfüge.

Der Verfahrensgang gestaltete sich diesbezüglich wie folgt:

Mit Verfügung vom 28. August 2017 begann das Landgericht damit, Jahresabschlüsse des von dem Angeklagten betriebenen Unternehmens sowie ihn betreffende Einkommensteuerbescheide zum Bestandteil der Akten zu machen. Im Termin vom 10. November 2017 erkundigte sich der Vorsitzende nach den Buchhaltungsunterlagen des Unternehmens, woraufhin der Verteidiger erklärte, dass diese vollständig vom Zoll beschlagnahmt worden seien. Im Termin vom 21. Dezember 2017 ersuchte der Vorsitzende die Staatsanwaltschaft unter anderem darum, die den Tatzeitraum betreffende Buchhaltung des Angeklagten als Beweismittel zu erschließen. Die Staatsanwaltschaft leitete die entsprechende Verfügung des Vorsitzenden am selben Tag zu weiteren Ermittlungen an das Hauptzollamt weiter.

Gegenstand der Hauptverhandlung in den Jahren 2018, 2019 und 2020 war im Wesentlichen die Erörterung des Verfahrensstandes in Bezug auf die am 21. Dezember 2017 veranlassten weiteren Ermittlungen des Hauptzollamts. Häufig wurden Verfügungen des Vorsitzenden verlesen, die sich an die Staatsanwaltschaft richteten und Ermittlungsaufträge enthielten. Das Landgericht machte regelmäßig von der Möglichkeit Gebrauch, die Hauptverhandlung gemäß § 229 Abs. 1 und 2 StPO bis zu drei Wochen bzw. einem Monat zu unterbrechen. Infolgedessen fand diese im Jahr 2018 lediglich an 19 Tagen, im Jahr 2019 an 17 Tagen und im Jahr 2020 an 16 Tagen statt, wobei zumeist nur wenige Minuten lang verhandelt wurde. Insgesamt belief sich die Dauer der Hauptverhandlung im Jahr 2018 auf siebeneinhalb, im Jahr 2019 auf fünfeinhalb und im Jahr 2020 auf sechseinhalb Stunden.

So begann etwa der auf den 16. April 2018 folgende 22. Sitzungstag am 30. April 2018, der von 10:40 Uhr bis 11 Uhr dauerte, damit, dass der Vorsitzende den Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft fragte, ob weitere Unterlagen eingegangen seien. Dieser erklärte, dass das Hauptzollamt per E-Mail vom 27. April 2018 einen Eingang der Unterlagen bis zum Ende der Woche in Aussicht gestellt habe, und reichte die E-Mail zu den Akten. Daraufhin ersuchte der Vorsitzende die Staatsanwaltschaft, bei der Deutschen Rentenversicherung - anknüpfend an deren der Anklage zugrunde liegenden Schadensberechnung vom 4. Oktober 2016 - Alternativberechnungen einzuholen. Im Anschluss daran wurden weitere Termine abgestimmt und die Hauptverhandlung unterbrochen.

Die am 30. April 2018 angeforderte alternative Schadensberechnung der Deutschen Rentenversicherung ging am 7. Mai 2018 bei der Staatsanwaltschaft ein. Dies gab der Vorsitzende im Termin vom 22. Mai 2018 (23. Sitzungstag) bekannt. Außerdem teilte er mit, dass die Unterlagen noch gesichtet werden müssten. Im Termin vom 12. Juni 2018 (24. Sitzungstag) wurde hinsichtlich der ersten alternativen Schadensberechnung das Selbstleseverfahren angeordnet. Zudem gab der Vorsitzende bekannt, dass neue Leitzordner mit der Beschriftung „Buchhaltung“ eingegangen seien, die indes einer weiteren Klärung bedürften. Der Verteidiger des Angeklagten wies darauf hin, dass sich die Buchhaltung 2012 beim Zoll befinde, woraufhin der Berichterstatter ausdrücklich nach Buchungssätzen fragte, die bereits mit einem Antrag der Verteidigung vom 19. Januar 2017 mitgeteilt worden waren. Schließlich gab der Vorsitzende dem Angeklagten auf, die Buchungssätze zu der vorliegenden Buchhaltung 2007 bis 2016 vorzulegen und mitzuteilen, ob sich diese Unterlagen gegebenenfalls an anderer Stelle befänden, beispielsweise beim Steuerberater.

Im Termin vom 3. Juli 2018 (25. Sitzungstag) erkundigte sich der Vorsitzende bei der Verteidigung nach den Buchhaltungsunterlagen, deren Vorlage dem Angeklagten auferlegt worden war. Der Verteidiger erklärte dazu, dass die betreffenden Unterlagen nach Einschätzung des Angeklagten komplett beschlagnahmt worden seien. Daraufhin beschloss das Landgericht, die Geschäftsräume des Steuerberaters des Angeklagten nach Buchhaltungsunterlagen von dessen Unternehmen für die Jahre 2007 bis 2016 durchsuchen und diese gegebenenfalls beschlagnahmen zu lassen.

Mit Schreiben vom 23. Juli 2018 wies das Hauptzollamt die Staatsanwaltschaft darauf hin, dass die Jahresabschlüsse der Jahre 2007 bis 2015 am 10. August 2017 dem Landgericht und die den Jahresabschlüssen für die Jahre 2007 bis 2016 zugrundeliegende Buchhaltung am 9. Januar 2018 der Staatsanwaltschaft übergeben worden seien. Es wies ferner darauf hin, dass dem Sicherungsstellungsverzeichnis der Ermittlungsakten zu entnehmen sei, dass die Finanzbuchhaltung der Jahre 2007 bis Mai 2016 am 16. Juni 2016 sichergestellt worden sei. Das Schreiben des Hauptzollamts vom 23. Juli 2018 ging am 24. Juli 2018 beim Landgericht ein.

Im Termin vom 24. Juli 2018 (26. Sitzungstag) teilte der Vorsitzende mit, dass eine neue CD von der Staatsanwaltschaft übergeben worden sei, die noch gesichtet werden müsse. Ferner gab er bekannt, dass sich die Buchhaltungsunterlagen, auf die sich der Durchsuchungsbeschluss vom 3. Juli 2018 bezogen habe, bereits bei den Akten befänden und dass der Verteidiger des Angeklagten mit Schriftsatz vom 19. Januar 2017 Buchungssätze vorgelegt habe, wie sie auch das Gericht benötige. Auf die an den Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft gerichtete Frage, ob auch solche Unterlagen vorlägen, antwortete dieser, dass er dies nicht wisse, sich derartige Buchungssätze aber vielleicht auf der neuen CD befänden.

Zu Beginn des Termins vom 22. August 2018 (27. Sitzungstag), der von 13:09 Uhr bis 13:15 Uhr dauerte, gab der Vorsitzende bekannt, dass die Strafkammer die den Jahresabschlüssen 2007 bis 2015 zugrunde liegenden, bei den Akten befindlichen Buchungssätze - wie bereits im Termin vom 24. Juli 2018 angesprochen - „in beweismittelfähiger Form“ aufbereitet benötige. Er gab eine entsprechende Verfügung vom selben Tag bekannt, wovon der Verteidiger und der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft jeweils eine Ablichtung erhielten. Sodann wurde die Hauptverhandlung unterbrochen.

Die aufbereiteten Unterlagen (drei Leitzordner) übergab eine Mitarbeiterin des Hauptzollamts dem Landgericht am 3. September 2018. Davon setzte der Vorsitzende die Verfahrensbeteiligten im Termin vom 5. September 2018 (28. Sitzungstag) in Kenntnis; er wies zugleich darauf hin, dass die übergegebenen Akten noch nicht hätten gesichtet werden können.

Im Termin vom 25. September 2018 (29. Sitzungstag) gab der Vorsitzende bekannt, dass die am 3. September 2018 übergebenen Unterlagen nicht in der Form vorlägen, in der die Strafkammer sie benötige; er verkündete eine Verfügung, mit der die Staatsanwaltschaft ersucht wurde, die Unterlagen entsprechend aufzuarbeiten.

Am 4. Dezember 2018 setzte das Hauptzollamt die Staatsanwaltschaft davon in Kenntnis, dass mit dem Berichterstatter der Strafkammer über die Aufarbeitung der Buchungsunterlagen gesprochen worden sei. Dieser habe verfügt, dass die mittlerweile aufbereiteten Unterlagen direkt an das Landgericht übersandt werden sollten; außerdem sei vereinbart worden, „diverse Unterlagen“, die zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit des Unternehmens des Angeklagten dienlich sein könnten, dem Landgericht über die Staatsanwaltschaft zukommen zu lassen. Die aufbereiteten Buchungsunterlagen wurden am 12. Dezember 2018 zu den Akten genommen. Ein entsprechender Vermerk des Berichterstatters wurde im Termin vom 18. Dezember 2018 (33. Sitzungstag) bekannt gemacht.

Unter dem 9. Januar 2019 ersuchte der Vorsitzende das Hauptzollamt, die Buchungssätze nochmals nach weiteren Vorgaben zu überarbeiten. Die Verfahrensbeteiligten wurden im Termin vom 16. Januar 2019 (35. Sitzungstag) davon in Kenntnis gesetzt, verbunden mit dem Hinweis, dass bei der Durchsicht der Unterlagen diverse Unstimmigkeiten festgestellt worden seien, weshalb das Hauptzollamt zur Nachbesserung aufgefordert worden sei. Die entsprechenden „Nachbesserungen“ übersandte das Hauptzollamt dem Landgericht unter dem 25. Januar 2019. Dies teilte der Vorsitzende den Verfahrensbeteiligten im Termin vom 6. Februar 2019 (36. Sitzungstag) mit. Außerdem setzte er sie davon in Kenntnis, dass das Hauptzollamt nicht nur die beanstandeten Punkte ausgebessert, sondern drei Leitzordner Buchungsunterlagen vorgelegt habe, die nun vom Gericht im Hinblick darauf überprüft werden müssten, dass das Hauptzollamt mitgeteilt habe, bezüglich bestimmter Punkte keinen Fehler gefunden zu haben. Im Termin vom 20. Februar 2019 (37. Sitzungstag) gab der Vorsitzende bekannt, dass bei der Auswertung der Leitzordner kleine Unstimmigkeiten festgestellt worden seien, weshalb das Hauptzollamt zu einer entsprechenden Nachbesserung aufgefordert worden sei. Nachdem das Hauptzollamt die nachgebesserten Unterlagen mit Schreiben vom 22. Februar 2019 dem Landgericht übermittelt hatte, ordnete der Vorsitzende mit Verfügung vom 11. März 2019 eine weitere Nachbesserung an. Diese übersandte das Hauptzollamt am 12. März 2019, ebenso wie eine daraufhin angeordnete weitere korrigierte Ausarbeitung. In der Folgezeit führte das Hauptzollamt auf Ersuchen des Landgerichts Nachermittlungen betreffend die Lohnabrechnungen der Arbeitnehmer und weiterer Buchhaltungsunterlagen des Angeklagten durch.

Am 23. September 2019 (47. Sitzungstag) ordnete der Vorsitzende - erneut - das Selbstleseverfahren hinsichtlich der ersten alternativen Schadensberechnung der Deutschen Rentenversicherung an. Am 5. November 2019 (49. Sitzungstag) teilte er mit, dass bezüglich der Berechnungen der Rentenversicherung noch mögliche Nachermittlungen zu veranlassen seien.

Im Termin vom 2. März 2020 (54. Sitzungstag), der von 13:08 Uhr bis 14:10 Uhr dauerte, wurden ein Schreiben des Finanzamts Ansbach vom 9. Juli 2019 und ein damit übersandter Betriebsprüfungsbericht für das Jahr 2007 verlesen. Danach wurde die Hauptverhandlung unterbrochen.

Mit Verfügung vom 4. März 2020 ersuchte der Vorsitzende die Staatsanwaltschaft, bei dem Unternehmen, das die Lohnabrechnung für den Geschäftsbetrieb des Angeklagten erledigte, ein Verzeichnis der Abkürzungen einzuholen, die es in den Lohnbescheinigungen verwandt hatte; zugleich ersuchte der Vorsitzende die Staatsanwaltschaft, bei der Deutschen Rentenversicherung anknüpfend an deren Schadensberechnung vom 4. Oktober 2016 und deren alternative Schadensberechnung aus April 2018 auf der Grundlage zahlreicher Änderungen eine zweite alternative Schadensberechnung einzuholen. Im Termin vom 23. März 2020 (55. Sitzungstag), der um 13:10 Uhr begann, gab der Vorsitzende die Verfügung vom 4. März 2018 bekannt. Er teilte mit, dass bislang nur das Abkürzungsverzeichnis bei Gericht eingegangen sei, das sodann verlesen wurde. Anschließend wurden mögliche weitere Termine erörtert und die Hauptverhandlung um 13:21 Uhr unterbrochen.

Der Termin vom 14. April 2020 (56. Sitzungstag) begann um 13 Uhr. Der Vorsitzende stellte fest, dass die erbetenen Rentenversicherungsunterlagen noch nicht angekommen seien. Anschließend wurden ein Schreiben des Hauptzollamts Nürnberg vom 8. Mai 2018 und ein Schreiben der Deutschen Rentenversicherung vom 2. Mai 2018 nebst Anlagen verlesen. Danach wurde die Hauptverhandlung um 13:47 Uhr unterbrochen.

Die zweite alternative Schadensberechnung der Deutschen Rentenversicherung ging am 20. Mai 2020 beim Landgericht ein. Ihr lagen die aufbereitete Buchhaltung und die Ergebnisse der vom Landgericht veranlassten Nachermittlungen zugrunde. Im Termin vom 25. Mai 2020 (57. Sitzungstag), der um 14 Uhr begann, gab der Vorsitzende zunächst den Eingang der zweiten alternativen Schadensberechnung bekannt. Anschließend wurden aus einem mit Schreiben der Deutschen Rentenversicherung vom 29. Mai 2018 übersandten Gesamtkontenspiegel vom 22. Mai 2018 für einen der in Rede stehenden Arbeitnehmer des Angeklagten die Versicherungszeiten ab dem 8. Juni 2005 verlesen. Danach wurde die Hauptverhandlung um 14:28 Uhr unterbrochen.

Der 58. Hauptverhandlungstag fand am 16. Juni 2020 in der Zeit von 13:12 Uhr bis 13:20 Uhr statt. Der Vorsitzende gab bekannt, dass hinsichtlich der zweiten alternativen Schadensberechnung ein Selbstleseverfahren durchgeführt werden solle, allerdings nicht bezüglich aller insoweit eingegangenen Unterlagen, weil die Deutsche Rentenversicherung noch Nachbesserungen vornehmen müsse. Die Anordnung erging deshalb nur in Bezug auf die Berechnung hinsichtlich einiger der in Rede stehenden Arbeitnehmer des Angeklagten. Danach wurde die Hauptverhandlung unterbrochen.

Diesem Termin war am 10. Juni 2020 ein Gespräch des Berichterstatters mit einem Mitarbeiter der Deutschen Rentenversicherung über notwendige Korrekturen der zweiten alternativen Schadensberechnung vorausgegangen. Im Rahmen eines weiteren Gesprächs der beiden Beteiligten vom 22. Juni 2020 wurde das Vorgehen modifiziert. Aus den darüber am 10. und 22. Juni erstellten Vermerken geht hervor, dass die gewünschten Modifizierungen auch Zeugen betrafen, deren von der Deutschen Rentenversicherung erstellten Daten im Termin vom 16. Juni 2020 verlesen worden waren. Mit Schreiben vom 2. Juli 2020 legte die Deutsche Rentenversicherung die geänderten Daten vor. Dabei handelte es sich um die dritte alternative Schadensberechnung. Die zweite alternative Schadensberechnung, die teilweise Gegenstand des am 16. Juni 2020 angeordneten Selbstleseverfahrens war, wurde zu keinem Zeitpunkt vollständig in die Hauptverhandlung eingeführt. Die dritte alternative Schadensberechnung wurde demgegenüber im Termin vom 7. Juli 2020 (59. Sitzungstag), der von 13:10 Uhr bis 13:18 Uhr dauerte, vollständig im Wege des Selbstleseverfahrens zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht.

Nachdem die Hauptverhandlung am 28. Juli 2020 von 13:08 Uhr bis 13:24 Uhr und am 18. August 2020 von 13 Uhr bis 13:55 Uhr fortgesetzt worden war, verkündete das Landgericht im Termin vom 8. September 2020 (62. Sitzungstag) den Beschluss, durch den der Beweisantrag vom 20. Juli 2017 abgelehnt wurde.

2. Der Beschwerdeführer beanstandet zu Recht einen Verstoß gegen § 229 StPO.

a) Die in § 229 StPO normierten Unterbrechungsfristen werden im Hinblick auf die der Vorschrift zugrundeliegende Konzentrationsmaxime nur dann gewahrt, wenn in dem zur Fortsetzung der Hauptverhandlung anberaumten Termin zur Sache verhandelt, das Verfahren mithin inhaltlich auf den abschließenden Urteilsspruch gefördert wird (vgl. BGH, Urteil vom 16. November 2017 - 3 StR 262/17, NStZ 2018, 297, 298). Das ist stets der Fall, wenn es zu Verfahrensvorgängen kommt, welche die zur Urteilsfindung führende Sachverhaltsaufklärung betreffen. Auch die alleinige Befassung mit Verfahrensfragen kann ausreichend sein, sofern es dabei um den Fortgang der Sachverhaltsaufklärung geht (vgl. BGH, Urteil vom 16. Januar 2014 - 4 StR 370/13, NStZ 2014, 220 mwN). Unter diesen Voraussetzungen ist die Dauer des Termins ebenso wenig von Bedeutung wie die Frage, ob dieser noch für weitere verfahrensfördernde Handlungen hätte genutzt werden können; gleichermaßen unschädlich ist es, wenn der Termin zugleich der Einhaltung der Unterbrechungsfrist dient (vgl. BGH, Urteil vom 3. August 2006 - 3 StR 199/06, BGHR StPO § 229 Abs. 1 Sachverhandlung 6).

Auch wenn in dem Termin Verfahrensvorgänge stattfinden, die nach diesen Maßstäben grundsätzlich zur Unterbrechung der Fristen des § 229 StPO geeignet sind, liegt ein Verhandeln zur Sache jedoch dann nicht vor, wenn das Gericht dabei nur der äußeren Form nach zum Zwecke der Umgehung dieser Vorschrift tätig wird und der Gesichtspunkt der Verfahrensförderung dahinter als bedeutungslos zurücktritt (vgl. BGH, Urteile vom 2. Februar 2012 - 3 StR 401/11, NStZ 2012, 343; vom 16. Januar 2014 - 4 StR 370/13, NStZ 2014, 220 mwN). So verhält es sich etwa dann, wenn einheitliche Verfahrensvorgänge willkürlich in mehrere kurze Verfahrensabschnitte zerstückelt und diese auf mehrere Verhandlungstage verteilt werden, um dadurch die zulässigen Unterbrechungsfristen einzuhalten (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Oktober 2007 - 3 StR 254/07, NStZ 2008, 115). Aus demselben Grunde verstößt es gegen § 229 StPO, wenn aus dem gesamten Verfahrensgang erkennbar wird, dass das Gericht mit der Verhandlung nicht die substantielle Förderung des Verfahrens bezweckt, sondern allein die Wahrung der Unterbrechungsfrist im Auge hat (vgl. BGH, Urteile vom 2. Februar 2012 - 3 StR 401/11, aaO; vom 16. Januar 2014 - 4 StR 370/13, aaO; Beschluss vom 19. Juli 2022 - 4 StR 64/22 Rn. 9, jeweils mwN).

b) Daran gemessen stößt die Verfahrensweise des Landgerichts auf durchgreifende rechtliche Bedenken.

aa) Es kann dahinstehen, ob es an einzelnen Verhandlungstagen überhaupt nicht zu Verfahrensvorgängen kam, die das Verfahren inhaltlich auf den abschließenden Urteilsspruch förderten. Denn selbst wenn an allen Sitzungstagen Verfahrenshandlungen vorgenommen wurden, die grundsätzlich zur Unterbrechung der Fristen des § 229 StPO geeignet waren, so ist aus dem gesamten Verfahrensgang erkennbar, dass das Landgericht dabei zumindest an den Verhandlungstagen vom 30. April 2018 (22. Sitzungstag), vom 22. August 2018 (27. Sitzungstag), vom 2. März 2020 (54. Sitzungstag), vom 14. April 2020 (56. Sitzungstag), vom 25. Mai 2020 (57. Sitzungstag) und vom 16. Juni 2020 (58. Sitzungstag) nur der äußeren Form nach tätig wurde zu dem Zweck, die Vorschrift zu umgehen, und dass der Gesichtspunkt der Verfahrensförderung dahinter als bedeutungslos zurücktrat.

Die Verfahrensweise des Landgerichts in den Jahren 2018, 2019 und 2020 belegt, dass es ihm in dieser Zeit im Wesentlichen nicht um die substantielle Förderung des Verfahrens, sondern allein um die Wahrung der Unterbrechungsfrist ging. Dadurch sollte ersichtlich eine Aussetzung der Hauptverhandlung vermieden werden, obwohl das Landgericht aufgrund des am 20. Juli 2017 gestellten Antrags etwa drei Jahre lang damit befasst war, außerhalb der Hauptverhandlung die Buchhaltung des Angeklagten nach seinen Vorgaben aufbereiten und mehrere alternative Schadensberechnungen erstellen zu lassen.

Um die Hauptverhandlung trotz der Verzögerungen fortzuführen, hat das Landgericht die Unterbrechungsfristen des § 229 StPO über Jahre hinweg ausgereizt und die Verhandlung zeitlich dermaßen gestreckt, dass die jährliche Verhandlungsdauer kaum über diejenige eines einzigen gewöhnlichen Sitzungstages hinausging. Im Jahr 2018 verhandelte das Landgericht - verteilt auf 19 Sitzungstage - insgesamt nur siebeneinhalb Stunden, und in den Jahren 2019 und 2020 war die gesamte Verhandlungsdauer mit fünfeinhalb bzw. sechseinhalb Stunden noch kürzer, verteilt auf 17 bzw. 16 Tage.

Gegenstand der Verhandlung war zumeist der Stand der Dinge betreffend die außerhalb der Hauptverhandlung stattfindenden Vorgänge der Aufarbeitung der Buchhaltung des Angeklagten und der Erstellung der alternativen Schadensberechnung. Zuweilen erschöpfte sich die Hauptverhandlung in der Bekanntgabe von darauf bezogenen Verfügungen, die außerhalb der Hauptverhandlung ergangen waren und den Verfahrensbeteiligten ebenso gut außerhalb der Hauptverhandlung hätten bekannt gemacht werden können. Ihre Verlesung in der Hauptverhandlung diente beispielsweise am 22. Sitzungstag (30. April 2018) und am 27. Sitzungstag (22. August 2018) ersichtlich dem Zweck, überhaupt eine Verfahrenshandlung vorzunehmen, die geeignet erschien, das Verfahren scheinbar inhaltlich auf den abschließenden Urteilsspruch zu fördern.

An mehreren Verhandlungstagen wurden ausschließlich Urkunden verlesen, die ohne weiteres schon deutlich früher in die Hauptverhandlung hätten eingeführt werden können und in Bezug auf deren Verlesung in dem späteren Termin in Anbetracht der gesamten Verfahrensweise des Landgerichts ebenfalls kein anderer Grund erkennbar ist als derjenige, dass die Verlesung allein dazu diente, den Schein einer Verfahrensförderung zu wahren. Das gilt etwa im Hinblick auf das Schreiben des Finanzamts Ansbach vom 9. Juli 2019, mit dem der Betriebsprüfungsbericht für das Jahr 2007 übersandt wurde und das am 15. Juli 2019 (dem 44. Sitzungstag) beim Landgericht einging. Verlesen wurden das Schreiben und der Betriebsprüfungsbericht indes erst am 54. Sitzungstag vom 2. März 2020, wobei sich dieser Verhandlungstag in der Verlesung dieser Urkunden erschöpfte. Gleichermaßen verhält es sich hinsichtlich der Schreiben des Hauptzollamts Nürnberg vom 8. Mai 2018 und der Deutschen Rentenversicherung vom 2. Mai 2018, die schon vor dem 22. Mai 2018 (dem 23. Sitzungstag) zu den Akten gelangten, ohne nachvollziehbaren Grund indes erst am 14. April 2020 (dem 56. Sitzungstag) verlesen wurden. Am 57. Sitzungstag vom 25. Mai 2020 wurden ausschließlich die Versicherungszeiten ab dem 8. Juni 2005 aus dem Gesamtkontenspiegel für den Versicherten O. vom 22. Mai 2018 verlesen, den die Deutsche Rentenversicherung mit Schreiben vom 29. Mai 2018 dem Hauptzollamt Nürnberg übersandt hatte und das am 1. Juni 2018, mithin vor dem 24. Sitzungstag vom 12. Juni 2018 beim Landgericht eingegangen war. Auch insoweit beanstandet der Beschwerdeführer in Anbetracht der gesamten Umstände zu Recht, dass das fast zwei Jahre früher beim Landgericht eingegangene Schreiben „instrumentalisiert“ wurde, um bei Bedarf die Hauptverhandlung scheinbar zu fördern.

Schließlich diente auch die Anordnung des Selbstleseverfahrens in Bezug auf einen Teil der zweiten alternativen Schadensberechnung am 58. Sitzungstag vom 16. Juni 2020 ersichtlich nur dazu, den Schein einer Verfahrensförderung zu wahren. Die Anordnung betraf lediglich die Berechnung hinsichtlich derjenigen Arbeitnehmer des Angeklagten, in Bezug auf die nach Mitteilung des Vorsitzenden keine weitere Nachbesserung seitens der Deutschen Rentenversicherung mehr erforderlich war. Die Vermerke des Berichterstatters vom 10. und 22. Juni 2020 belegen indes, dass schon im Termin vom 16. Juni 2020 feststand, dass die noch nötigen Korrekturen auch Arbeitnehmer des Angeklagten betrafen, in Bezug auf deren Daten das Selbstleseverfahren angeordnet wurde. Die geänderten Daten waren sodann Gegenstand der dritten alternativen Schadensberechnung, die am 59. Sitzungstag in die Hauptverhandlung eingeführt wurde. Die zweite alternative Schadensberechnung war demgegenüber - was der Strafkammer bewusst war - schon im Termin vom 16. Juni 2020 obsolet. Die an diesem Tag ergangene Anordnung des Selbstleseverfahrens in Bezug auf Teile der zweiten alternativen Schadensberechnung bezweckte mithin ersichtlich nicht die substantielle Förderung des Verfahrens, sondern diente allein dazu, die Hauptverhandlung scheinbar unter Wahrung der Unterbrechungsfrist fortzusetzen.

Da der 22., 27., 54., 56., 57. und 58. Sitzungstag nicht geeignet waren, die Unterbrechungsfrist des § 229 StPO einzuhalten, hätte die Hauptverhandlung jeweils ausgesetzt werden müssen.

bb) Es kann - wie im Regelfall (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 15. Februar 2022 - 4 StR 503/21, NStZ 2022, 760) - nicht ausgeschlossen werden, dass das Urteil auf dem Verstoß gegen § 229 StPO beruht. Ein besonders gelagerter Ausnahmefall, in dem die Fristüberschreitung ersichtlich weder den Eindruck von der Hauptverhandlung abgeschwächt noch die Zuverlässigkeit der Erinnerung beeinträchtigt hat (vgl. BGH aaO), liegt schon angesichts der Verfahrensdauer von mehreren Jahren ersichtlich nicht vor.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 206

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi