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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 779

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 179/22, Beschluss v. 28.06.2022, HRRS 2022 Nr. 779


BGH 3 StR 179/22 - Beschluss vom 28. Juni 2022 (LG Hannover)

Vorverurteilungen bei der Anordnung von Sicherungsverfahrung (Gesamtstrafe; Einzelstrafe; Katalogtat; fiktive Gesamtstrafenbildung).

§ 66 Abs. 3 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Eine Gesamtfreiheitsstrafe genügt als Vorverurteilung den Anforderungen des § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB, wenn sie wenigstens drei Jahre beträgt und ihr ausschließlich Einzelfreiheitsstrafen zugrunde liegen, die auf Katalogtaten beruhen; einer Einzelfreiheitsstrafe in der von § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB vorausgesetzten Höhe bedarf es dann nicht. Demgegenüber ist eine Gesamtfreiheitsstrafe keine hinreichende Vorverurteilung, wenn sie neben Einzelfreiheitsstrafen wegen Nichtkatalogtaten nur eine drei Jahre unterschreitende Einzelfreiheitsstrafe wegen einer Katalogtat enthält. Eine Tat ist auch dann eine Katalogtat im Sinne der Vorschrift, wenn tateinheitlich mit einer von § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB erfassten Straftat ein dort nicht genanntes Delikt verübt wurde.

2. Liegen einer die Schwelle von drei Jahren erreichenden Gesamtfreiheitsstrafe einer Vorverurteilung neben mehreren Katalogtaten mit Einzelfreiheitsstrafen von jeweils unter drei Jahren auch Nichtkatalogtaten zugrunde, scheidet eine Berücksichtigung des Urteils als hinreichende Vorverurteilung im Sinne des § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB nicht zwingend aus. Vielmehr ist im Sinne einer fiktiven Gesamtstrafenbildung zu prüfen, ob das damalige Tatgericht auch dann eine Gesamtfreiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verhängt hätte, wenn es eine solche ausschließlich aus den der Gesamtstrafe zugrundeliegenden Einzelstrafen wegen Katalogtaten hätte bilden müssen. Kann - was eine vom Revisionsgericht eigenständig zu beurteilende Rechtsfrage ist - sicher ausgeschlossen werden, dass das frühere Tatgericht bei einer Gesamtstrafenbildung allein aus den Einzelstrafen wegen Katalogtaten eine unterhalb der Schwelle von drei Jahren liegende Gesamtfreiheitsstrafe gebildet hätte, ist eine den Anforderungen des § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB genügende Vorverurteilung gegeben.

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Hannover vom 13. Oktober 2021 wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten im zweiten Rechtsgang wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, ihn im Übrigen freigesprochen und die Sicherungsverwahrung gegen ihn angeordnet. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten ist entsprechend den Ausführungen in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

Der ergänzenden Erörterung bedarf lediglich das Folgende:

Die auf § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB gestützte Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung hält der rechtlichen Nachprüfung stand.

Das Landgericht hat insbesondere zu Recht eine frühere Verurteilung des Angeklagten durch das Landgericht Rostock vom 31. Januar 2011 als hinreichende Vorverurteilung im Sinne des § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB erachtet.

1. Durch dieses Urteil wurde der Angeklagte wegen Straftaten, die er vor der jetzt abgeurteilten, im Sommer 2018 verübten Tat beging, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt, die er bis zum 21. Dezember 2015 vollständig verbüßte. Der Gesamtfreiheitsstrafe lagen zwei Einzelfreiheitsstrafen von jeweils zwei Jahren und zwei Monaten und zwei Einzelfreiheitsstrafen von jeweils zwei Jahren wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit Besitz kinderpornografischer Schriften, sieben Einzelfreiheitsstrafen zwischen acht Monaten und einem Jahr wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit Besitz kinderpornografischer Schriften, sowie eine Einzelfreiheitsstrafe von acht Monaten wegen Besitzes kinderpornografischer Schriften zu Grunde. Zudem wurden in diese Gesamtfreiheitsstrafe Einzelfreiheitsstrafen aus einem Urteil des Landgerichts Hannover vom 10. August 2010 einbezogen, durch das der Angeklagte wegen Betruges in 39 Fällen, versuchten Betruges in zehn Fällen sowie Urkundenfälschung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verurteilt worden war.

2. Die auf § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB gestützte fakultative Anordnung der Sicherungsverwahrung erfordert, dass wegen einer oder mehrerer dort angeführter Straftaten gegen den Angeklagten schon einmal eine Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verhängt worden ist. Diese Strafhöhe erreicht das Urteil des Landgerichts Rostock nur im Gesamtstrafenausspruch; die zugrundeliegenden Einzelfreiheitsstrafen bleiben jeweils unterhalb der Schwelle von drei Jahren. Gleichwohl stellt es eine den formellen Voraussetzungen für eine Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB genügende Vorverurteilung dar. Hierzu gilt:

a) Eine Gesamtfreiheitsstrafe genügt als Vorverurteilung den Anforderungen des § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB, wenn sie wenigstens drei Jahre beträgt und ihr ausschließlich Einzelfreiheitsstrafen zugrunde liegen, die auf Katalogtaten beruhen; einer Einzelfreiheitsstrafe in der von § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB vorausgesetzten Höhe bedarf es dann nicht (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 3. November 2015 - 4 StR 309/15, juris; vom 19. Juli 2006 - 1 StR 238/06, BGHR StGB § 66 Abs. 3 Katalogtat 3 Rn. 4; Urteil vom 13. November 2002 - 2 StR 261/02, BGHSt 48, 100, 103). Demgegenüber ist eine Gesamtfreiheitsstrafe keine hinreichende Vorverurteilung, wenn sie neben Einzelfreiheitsstrafen wegen Nichtkatalogtaten nur eine drei Jahre unterschreitende Einzelfreiheitsstrafe wegen einer Katalogtat enthält (BGH, Beschlüsse vom 19. Juli 2006 - 1 StR 238/06, BGHR StGB § 66 Abs. 3 Katalogtat 3 Rn. 4; vom 2. Juni 2004 - 2 StR 123/04, BGHR StGB § 66 Abs. 3 Satz 1 Vorverurteilung 2).

b) Hier ist keine der beiden vorgenannten Konstellationen gegeben. Die vom Landgericht Rostock verhängte Gesamtfreiheitsstrafe wurde vielmehr aus elf Einzelstrafen für Taten aus dem Katalog des § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB - dies sind die Verurteilungen wegen (schweren) sexuellen Missbrauchs von Kindern - und einer Vielzahl von Einzelstrafen für Nichtkatalogtaten gebildet. Der Umstand, dass in den Fällen des (schweren) sexuellen Missbrauchs eine tateinheitliche Verurteilung auch wegen Besitzes kinderpornografischer Schriften nach § 184b StGB aF und damit einer Nichtkatalogtat (s. Art. 316l EGStGB) erfolgte, steht der Berücksichtigung nach § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB nicht entgegen; eine Tat ist auch dann eine Katalogtat im Sinne dieser Vorschrift, wenn tateinheitlich mit einer von § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB erfassten Straftat ein dort nicht genanntes Delikt verübt wurde (BGH, Beschluss vom 19. Juli 2006 - 1 StR 238/06, BGHR StGB § 66 Abs. 3 Katalogtat 3 Rn. 5).

c) In dem hier vorliegenden Fall, in dem einer die Schwelle von drei Jahren erreichenden Gesamtfreiheitsstrafe einer Vorverurteilung neben mehreren Katalogtaten mit Einzelfreiheitsstrafen von jeweils unter drei Jahren auch Nichtkatalogtaten zugrunde liegen, scheidet eine Berücksichtigung des Urteils als hinreichende Vorverurteilung im Sinne des § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB allerdings nicht aus. Vielmehr ist im Sinne einer fiktiven Gesamtstrafenbildung zu prüfen, ob das damalige Tatgericht auch dann eine Gesamtfreiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verhängt hätte, wenn es eine solche ausschließlich aus den der Gesamtstrafe zugrundeliegenden Einzelstrafen wegen Katalogtaten hätte bilden müssen. Kann - was eine vom Revisionsgericht eigenständig zu beurteilende Rechtsfrage ist - sicher ausgeschlossen werden, dass das frühere Tatgericht bei einer Gesamtstrafenbildung allein aus den Einzelstrafen wegen Katalogtaten eine unterhalb der Schwelle von drei Jahren liegende Gesamtfreiheitsstrafe gebildet hätte, ist eine den Anforderungen des § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB genügende Vorverurteilung gegeben (BGH, Beschluss vom 19. Juli 2006 - 1 StR 238/06, BGHR StGB § 66 Abs. 3 Katalogtat 3 Rn. 7; Matt/Renzikowski/Eschelbach, StGB, 2. Aufl., § 66 Rn. 64; Fischer, StGB, 69. Aufl., § 66 Rn. 37 aE; SSWStGB/ Harrendorf, 5. Aufl., § 66 Rn. 42; Lackner/Kühl/Heger/Pohlreich, StGB, 29. Aufl., § 66 Rn. 10e; BeckOK StGB/Ziegler, 53. Ed., § 66 Rn. 24; LK/Peglau, StGB, 13. Aufl., § 66 Rn. 103; SKStGB/Sinn, 9. Aufl., § 66 Rn. 45; aA MüKoStGB/Drenkhahn/Morgenstern, 4. Aufl., § 66 Rn. 176). Denn dann unterscheidet sich der Fall in der Sache nicht von einem solchen, in dem von vornherein eine allein auf Katalogtaten beruhende Gesamtstrafe von mindestens drei Jahren Freiheitsstrafe vorlag (s. hierzu BGH, Urteil vom 13. November 2002 - 2 StR 261/02, BGHSt 48, 100, 103).

Sofern - wie hier - relevanten Einzelstrafen eine tateinheitliche Verurteilung sowohl wegen einer Katalogtat als auch wegen einer Nichtkatalogtat zu Grunde liegt und der nach § 52 Abs. 2 Satz 1 StGB maßgebliche Strafrahmen dem Katalogtatbestand zu entnehmen war, ist die Einzelstrafe bei der fiktiven Gesamtstrafenbildung in voller Höhe zu berücksichtigen (BGH, Beschluss vom 10 19. Juli 2006 - 1 StR 238/06, BGHR StGB § 66 Abs. 3 Katalogtat 3 Rn. 5; LK/Peglau, StGB, 13. Aufl., § 66 Rn. 106).

d) Hier ist angesichts der Anzahl und Höhe der oben angeführten Einzelstrafen wegen der Katalogtaten, die dem Urteil vom 31. Januar 2011 zu Grunde lagen, sicher auszuschließen, dass das Landgericht Rostock, hätte es eine Gesamtfreiheitsstrafe ausschließlich aus den Einzelfreiheitsstrafen wegen - unter anderem - (schweren) sexuellen Missbrauchs von Kindern zu bilden gehabt, eine Gesamtfreiheitsstrafe von unter drei Jahren verhängt hätte.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 779

Bearbeiter: Christian Becker