HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1042
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 370/21, Beschluss v. 07.07.2022, HRRS 2022 Nr. 1042
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Münster (Westf.) vom 22. April 2021 dahin abgeändert, dass der Angeklagte wegen schwerer Zwangsprostitution in zwei tateinheitlichen Fällen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt wird, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt ist.
2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
3. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schwerer Zwangsprostitution in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügt. Das Rechtsmittel führt zu der aus dem Tenor ersichtlichen Änderung; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Die konkurrenzrechtliche Bewertung als zwei in Tatmehrheit (§ 53 Abs. 1 StGB) begangene Fälle der schweren Zwangsprostitution gemäß § 232a Abs. 1 2. Alt. Nr. 1 1. Alt. und Abs. 4 StGB begegnet - wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift vom 4. Oktober 2021 zutreffend ausgeführt hat - durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Zwar stehen Taten nach § 232a Abs. 1 Nr. 1 StGB zum Nachteil mehrerer Opfer aufgrund der Höchstpersönlichkeit der betroffenen Rechtsgüter zueinander grundsätzlich im Verhältnis der Tatmehrheit. Von Tateinheit im Sinne von § 52 Abs. 1 StGB ist aber dann auszugehen, wenn teilweise eine Identität der Ausführungshandlungen vorliegt (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Juli 2003 - 4 StR 29/03, StV 2003, 61; Beschluss vom 19. November 2002 - 1 StR 313/02, Rn. 12, BGHR StPO § 358 Abs. 2 Nachteil 12; Beschluss vom 9. Oktober 2001 - 4 StR 395/01 Rn. 3, jeweils zu §§ 180a, 181a StGB aF). Dies ist hier der Fall. Nach den Feststellungen führten der Angeklagte und sein anderweitig verfolgter Mittäter gleichzeitig mit den zwei Geschädigten die Gespräche, durch die sie zur Aufnahme der Prostitution bewegt worden sind. Der Tatbestand des Veranlassens gemäß § 232a Abs. 1 Nr. 1 1. Alt. StGB ist damit durch dieselbe Handlung gegenüber beiden verwirklicht worden.
2. Im Übrigen hält der Schuldspruch sachlich-rechtlicher Nachprüfung stand. Insbesondere ist nicht zu beanstanden, dass das Landgericht den Angeklagten allein wegen der Unterschreitung der Schutzaltersgrenze der beiden Opfer von 18 Jahren wegen schwerer Zwangsprostitution nach § 232a Abs. 1 2. Alt. Nr. 1 1. Alt., Abs. 4 StGB in Verbindung mit § 232 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StGB verurteilt hat. Soweit im Schrifttum die Auffassung vertreten wird, dass zusätzlich die Ausnutzung einer Zwangslage oder ausländerspezifischen Hilflosigkeit (vgl. Noltenius/Wolters in SK-StGB, 9. Aufl., § 232a Rn. 39) oder ein Ausbeutungserfolg festzustellen sei (vgl. Renzikowski in MüKo-StGB, 4. Aufl., § 232a Rn. 43), folgt der Senat dem nicht. Bereits Wortlaut und Systematik von § 232a Abs. 4 StGB geben mit der eindeutigen, an keine weiteren Bedingungen geknüpften Bezugnahme auf die „in § 232 Absatz 3 Satz 1 Nummer 1 bis 3 bezeichneten Umstände“ für eine entsprechende einschränkende Auslegung nichts her. Auch die Entstehungsgeschichte der Norm liefert dafür keinen Anhaltspunkt. Die Schaffung des Qualifikationstatbestands des § 232a Abs. 4 StGB diente der Umsetzung der Richtlinie 2011/36/EU vom 5. April 2011 zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer (ABl. Nr. L 101 vom 15. April 2011, S. 1), die in Art. 2 Abs. 5 Kinder allein wegen ihres Alters von unter 18 Jahren (vgl. Art. 2 Abs. 6) unter besonderen Schutz stellt. Wenn sie das Opfer der Tat sind, soll die Anwerbung zur Prostitution auch dann strafbar sein, wenn kein Nötigungsmittel, keine Täuschungshandlung und kein Machtmissbrauch vorliegen. Dementsprechend hat der Gesetzgeber sich im Gesetzgebungsverfahren dazu entschieden, die Qualifikationstatbestände des bisherigen § 232 Abs. 3 StGB im Wesentlichen zu übernehmen, insbesondere Opfer unter besonderen Schutz zu nehmen, allein weil sie unter 18 Jahre alt sind (vgl. BT-Drucks. 18/9095, S. 35). Die Aufstufung des Grundtatbestands des § 232a Abs. 1 Nr. 1 StGB zum Verbrechenstatbestand gibt vor dem Hintergrund der auch von der Gegenauffassung hervorgehobenen besonderen Schutzbedürftigkeit von Kindern keinen Anlass zu einer einschränkenden Auslegung von § 232a Abs. 4 StGB.
3. Mit der Annahme nur einer Tat entfallen die festgesetzten Einzelstrafen. Auf Grundlage der rechtsfehlerfreien Strafzumessungserwägungen kann in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO die Gesamtstrafe als Einzelstrafe bestehen bleiben (vgl. BGH, Beschluss vom 7. September 2010 - 4 StR 393/10, Rn. 2; Beschluss vom 17. Juli 2007 - 4 StR 220/07 Rn. 2, jeweils mwN). Die geänderte konkurrenzrechtliche Bewertung lässt den Unrechts- und Schuldgehalt der Tat unberührt. Der Senat schließt aus, dass die Kammer bei Annahme von Tateinheit statt Tatmehrheit auf eine niedrigere Strafe erkannt hätte. Auch § 265 Abs. 1 StPO steht dem nicht entgegen, da der Angeklagte sich nicht anders als geschehen verteidigt hätte.
4. Der Senat hat davon abgesehen, die Kosten des Revisionsverfahrens oder die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse aufzuerlegen, weil es angesichts des geringen Teilerfolgs des Rechtsmittels nicht unbillig ist, den Angeklagten damit zu belasten (§ 473 Abs. 4 Satz StPO).
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1042
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede