HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 941
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 473/20, Urteil v. 01.07.2021, HRRS 2021 Nr. 941
Auf die Revision der Generalstaatsanwaltschaft wird das Urteil des Oberlandesgerichts Celle vom 20. August 2020 im Anrechnungsausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an einen anderen Senat des Oberlandesgerichts zurückverwiesen.
Das Oberlandesgericht hat die Angeklagte wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung in drei Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit Ausübung der tatsächlichen Gewalt über eine Kriegswaffe, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten unter Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Daneben hat es die Anrechnung vom 19. September bis zum 3. Dezember 2019 in der Türkei vollzogener Freiheitsentziehung auf die Gesamtfreiheitsstrafe im Maßstab 1:2 angeordnet. Die auf den Anrechnungsausspruch beschränkte und vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Generalstaatsanwaltschaft hat mit der Sachrüge Erfolg, so dass es eines Eingehens auf die vom Generalbundesanwalt aufgeworfene Frage, ob eine mit der Sachrüge erhobene Beanstandung als eine Verfahrensrüge der Verletzung des § 261 StPO ausgelegt werden kann, nicht mehr bedarf.
I.
Die Beschränkung der Revision auf den Anrechnungsausspruch ist wirksam, weil es sich bei dieser Entscheidung um einen selbständig überprüfbaren Teil des Rechtsfolgenausspruchs handelt (vgl. BGH, Beschluss vom 7. April 1994 - 1 StR 166/94, NStZ 1994, 335 f.; KKStPO/Gericke, 8. Aufl., § 344 Rn. 12 mwN).
Die getroffene Anrechnungsentscheidung vermag bereits der auf die Sachrüge vorzunehmenden sachlich-rechtlichen Überprüfung nicht standzuhalten, denn die ihr zugrundeliegenden Feststellungen sind unklar.
1. Das Oberlandesgericht hat, soweit hier von Bedeutung, die nachfolgenden Feststellungen und Wertungen getroffen:
a) Drei Tage nach Ankunft in der Türkei wurde die Angeklagte am 19. September 2019 von türkischen Behörden festgenommen und bis zum Tag der - von ihr erwünschten - Abschiebung nach Deutschland am 3. Dezember 2019 im Abschiebezentrum S. inhaftiert. Ihre Inhaftierung beruhte auf der Tatsache, dass die türkischen Behörden Anhaltspunkte dafür hatten, die Angeklagte habe sich in Syrien der ausländischen terroristischen Vereinigung „Islamischer Staat“ (IS) angeschlossen und könne auch Kontakt zu einem anderen IS-Mitglied gehabt haben. Auf einem ihr während der Inhaftierung gezeigten Schriftstück war als Grund der Inhaftierung der Begriff „Terror“ in türkischer Sprache vermerkt; auch wurde sie von Mitarbeitern des türkischen Geheimdienstes auf die Person des anderen IS-Mitglieds angesprochen und nach ihm befragt. Ob gegen sie seitens der türkischen Behörden ein Strafverfahren wegen ihrer Mitgliedschaft im IS eingeleitet worden war, war der Angeklagten nicht bekannt.
b) Das Oberlandesgericht hat § 51 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 2 StGB geprüft, wonach eine im Ausland vollzogene Freiheitsentziehung dann auf eine zeitige Freiheitsstrafe anzurechnen ist, wenn sie der Verurteilte aus „Anlass einer Tat, die Gegenstand des Verfahrens ist oder gewesen ist“, erlitten hat. Für die damit angesprochene „funktionale Verfahrenseinheit“ sei ausreichend, dass zwischen der Tat, die Anlass der eventuell anzurechnenden Freiheitsentziehung gewesen sei, und der Tat, die der Verurteilung zugrunde liege und in deren Verfahren die Anrechnung erfolgen solle, ein - irgendwie gearteter - sachlicher Zusammenhang bestehe (BVerfG, Beschluss vom 7. November 1998 - 2 BvR 2535/95 u.a., NStZ 1999, 125, 126; BGH, Urteil vom 26. Juni 1997 - StB 30/96, BGHSt 43, 112, 119). Einen solchen hat das Oberlandesgericht darin gesehen, dass die Angeklagte durch die türkischen Behörden wegen des Verdachts inhaftiert worden sei, ebenso wie die andere Person Mitglied des IS in Syrien gewesen zu sein.
2. Die Anrechnung einer erlittenen Untersuchungshaft oder sonstigen Freiheitsentziehung gemäß § 51 Abs.1 Satz 1 StGB obliegt grundsätzlich nicht dem erkennenden Gericht, sondern folgt aus dem Gesetz, welches sich unmittelbar an die zuständige Strafvollstreckungsbehörde richtet; dieser kommt die Aufgabe zu, bei der Strafzeitberechnung den bis zur Rechtskraft des Urteils anrechenbaren Freiheitsentzug von der Strafe abzuziehen. Wirkt der gerichtliche Ausspruch deshalb lediglich deklaratorisch, ist er überflüssig und kann entfallen, weil er die gesetzlich gebotene Anrechnung nicht zu beeinflussen vermag (vgl. BGH, Beschlüsse vom 12. Oktober 1977 - 2 StR 410/77, BGHSt 27, 287, 288; vom 4. August 1983 - 4 StR 236/83, NStZ 1983, 524; vom 7. April 1994 - 1 StR 166/94, NStZ 1994, 335 f.; MüKoStGB/Maier, 4. Aufl., § 51 Rn. 7; Fischer, StGB, 68. Aufl., § 51 Rn. 4, 22 jew. mwN). Anderes gilt indessen in Fällen wie dem vorliegenden, in denen der Richter nach § 51 Abs. 4 Satz 2 StGB den Maßstab der Anrechnung im Ausland erlittener Freiheitsentziehung in jedem Falle nach seinem Ermessen zu bestimmen hat; in dieser Konstellation ist die Anrechnungsanordnung nach § 51 Abs. 3 StGB im Urteil ausdrücklich auszusprechen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 5. März 1982 - 3 StR 56/82, NStZ 1982, 326; vom 17. Februar 2015 - 3 StR 505/14, juris Rn. 5; Urteile vom 14. November 1979 - 3 StR 323/79, juris Rn.17; vom 11. Juli 1985 - 4 StR 293/85, juris Rn. 5; SKStGB/Wolters, 9. Aufl., § 51 Rn. 25; LK/Schneider, 13. Aufl., § 51 Rn. 39 f.; MüKoStGB/Maier, 4. Aufl., § 51 Rn. 46 ff.; SSWStGB/Eschelbach, 5. Aufl. § 51 Rn. 16; Schönke/Schröder/Kinzig, StGB, 30. Aufl., § 51 Rn. 16 jew. mwN). Hiermit werden zugleich etwaige Zweifel an der Anrechnung mit bindender Wirkung ausgeräumt (s. LK/Schneider, StGB, 13. Aufl., § 51 Rn. 53, 63).
3. Die Wertung des Oberlandesgerichts, die von der Angeklagten in der Türkei erlittene Freiheitsentziehung sei gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 2 StGB auf die erkannte Freiheitsstrafe anrechenbar, findet in den Feststellungen keine sichere Grundlage. Sie wäre dann ohne Weiteres zutreffend, wenn die Angeklagte tatsächlich unter dem Vorwurf der Mitgliedschaft im IS im Rahmen eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens türkischer Strafverfolgungsbehörden festgenommen worden und der Sache nach in dem Abschiebezentrum Untersuchungshaft vollstreckt worden wäre. Ein solcher Hergang kann nach den getroffenen Feststellungen zwar nicht ausgeschlossen werden; weitaus näher liegt mit Rücksicht auf die Unterbringung der Angeklagten in einem Abschiebezentrum und ihre Überstellung an die Bundesrepublik Deutschland indessen die Annahme, dass sie - mit Blick auf tatsächlich bestehende Verdachtsmomente bezüglich einer Beteiligung am IS - außerhalb eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens in Abschiebehaft genommen wurde. Auch in diesem Fall, der ebenfalls von den getroffenen Feststellungen gedeckt sein könnte, wäre eine Anrechnung nicht ausgeschlossen.
a) Allerdings erfordert die Anrechnung von Abschiebehaft gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 2 StGB das Vorliegen weiterer einschränkender Voraussetzungen. Insoweit gilt das Folgende (vgl. BGH, Beschluss vom 5. August 2020 - 3 StR 231/20, juris Rn. 11):
Die Vorschriften setzen voraus, dass Anlass für die im Ausland erfahrene Freiheitsentziehung diejenige Tat gewesen ist, die den Gegenstand des deutschen Strafverfahrens bildet oder gebildet hat (sog. Grundsatz der Verfahrenseinheit, vgl. etwa BGH, Beschluss vom 13. Dezember 2016 - 3 StR 440/16, juris Rn. 4). So liegt es regelmäßig bei der Auslieferungshaft. Bei im Ausland erlittener Abschiebehaft kommt es auf den Einzelfall an. Sie ist dann anrechenbar, wenn sich eine sachlich nicht gerechtfertigte Benachteiligung des Verurteilten, der sich in Abschiebehaft befunden hat, gegenüber solchen ergibt, die Auslieferungshaft durchlebt haben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Januar 2005 - 2 BvR 1825/03, BVerfGK 5, 17, 24). Denn nach Sinn und Zweck von § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB soll jede Art von Freiheitsentziehung, die aus Anlass der Tat stattgefunden hat, auf die ausgesprochene Strafe angerechnet werden, unabhängig davon, ob die Freiheitsentziehung nach den Vorschriften der Strafprozessordnung erfolgt ist oder aufgrund anderer Regelungen, unabhängig auch davon, ob deutsche oder ausländische Behörden die Freiheitsentziehung angeordnet haben. Eine im Ausland erlittene Abschiebehaft ist daher anzurechnen, wenn sie durch die Tat infolge der internationalen Fahndung durch die deutschen Behörden veranlasst gewesen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 10. April 1997 - 5 StR 674/96, BGHR StGB § 51 Abs. 3 Anrechnung 4; ferner BGH, Beschluss vom 5. Juni 2012 - 4 StR 58/12, NStZ-RR 2012, 271). In diesen Fällen der „Auslieferung durch Abschiebung“ liegt die von § 51 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 2 StGB vorausgesetzte funktionale Verfahrenseinheit zwischen der Auslandshaft und dem deutschen Strafverfahren vor. Die Anrechnung ist dann Ausfluss des Freiheitsrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Januar 2005 - 2 BvR 1825/03, BVerfGK 5, 17, 23 f.).
Ist die Abschiebehaft dagegen auf kein - in- oder ausländisches - Strafverfahren, sondern auf andere Umstände zurückzuführen, besteht für eine Anrechnung prinzipiell kein sachlicher Grund. Dann gilt, dass der Angeklagte durch die Anrechnung der ausländischen Haft nicht besser stehen soll, als er gestanden hätte, wenn das gesamte Tatgeschehen im Inland abgeurteilt worden wäre (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Dezember 2016 - 3 StR 440/16, juris Rn. 4). Insoweit ist eine Differenzierung zwischen Auslieferungs- und Abschiebehaft sachlich gerechtfertigt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Januar 2005 - 2 BvR 1825/03, BVerfGK 5, 17, 24).
b) Nach diesen Maßstäben kann auf Grundlage der bisherigen Feststellungen nicht entschieden werden, ob die gegen die Angeklagte in der Türkei vollzogene Haft - auch für den Fall, dass es sich nach dortiger Rechtsanwendung um Abschiebehaft gehandelt haben sollte - eine anrechnungsfähige, im Ausland erlittene Freiheitsentziehung gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 2 StGB darstellt; denn es fehlt diesbezüglich an jeglichen Feststellungen dazu, ob seitens deutscher Behörden überhaupt ein Auslieferungsverfahren angestrengt oder sonstige - gegebenenfalls auch informelle - Bemühungen um eine Überstellung der Angeklagten entfaltet wurden und bereits diese dazu führten, dass die Angeklagte seitens der türkischen Behörden in die Bundesrepublik Deutschland abgeschoben wurde. Allein der Umstand, dass die türkischen Behörden beabsichtigt haben könnten, die Angeklagte vom türkischen Staatsgebiet zunächst nach Syrien, sodann - auf ihren entsprechenden Wunsch - nach Deutschland zu entfernen, weil Anhaltspunkte für ihre Eingliederung in eine terroristische Vereinigung bestanden, führt noch nicht zu einer Anrechnung der Freiheitsentziehung.
Wenn die Haft keinen Bezug zu einer Ahndung einer etwaigen Straftat - in der Türkei oder in Deutschland - aufgewiesen hätte, dürfte ihr Anlass eine nach türkischem Recht bestehende Ausreisepflicht wegen unrechtmäßigen Aufenthalts gewesen sein.
c) Die zum Anrechnungsausspruch zugehörigen Feststellungen unterliegen der Aufhebung, weil sie im Sinne des § 353 Abs. 2 StPO durch die Gesetzesverletzung betroffen sind. Durch deren umfassende Aufhebung wird das neue Tatgericht in die Lage versetzt, neue, in sich stimmige und eindeutige Feststellungen zu den Gründen der Inhaftierung der Angeklagten in der Türkei und zum Maßstab deren etwaiger Anrechnung zu treffen.
HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 941
Externe Fundstellen: NJW 2021, 2902; NStZ-RR 2021, 387
Bearbeiter: Christian Becker