HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 314
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 492/20, Beschluss v. 10.02.2021, HRRS 2021 Nr. 314
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Osnabrück vom 1. September 2020
hinsichtlich der Fälle II.1 bis II.5 der Urteilsgründe mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben und das Verfahren insoweit eingestellt; im Umfang der Einstellung trägt die Staatskasse die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten;
im Ausspruch über die Gesamtstrafe aufgehoben; jedoch bleiben die zugehörigen Feststellungen aufrechterhalten;
im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte des schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in sechs Fällen schuldig ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die verbleibenden Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Die weitergehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in zehn Fällen unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus einer Vorverurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und wegen eines weiteren schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Es hat ferner eine Einziehungs- und eine Adhäsionsentscheidung getroffen. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Hinsichtlich der fünf von der Strafkammer festgestellten den Tatzeitraum 2016 betreffenden Taten (Fälle II.1 bis II.5 der Urteilsgründe) hat die Verurteilung keinen Bestand, weil es insoweit an einem wirksamen Eröffnungsbeschluss fehlt.
a) Die Staatsanwaltschaft hatte zunächst wegen fünf Missbrauchsvorwürfen aus dem Jahr 2019 und eines Falles vom März 2020 Anklage erhoben. Hinsichtlich dieser sechs Taten (Fälle II.6 bis II.11 der Urteilsgründe) hat das Landgericht die Eröffnung des Hauptverfahrens beschlossen. Später ist eine weitere Anklageschrift betreffend fünf Missbrauchsvorwürfe aus dem Jahr 2016 bei der Strafkammer eingegangen. Diese hat daraufhin am ersten Sitzungstag in der laufenden Hauptverhandlung mit zwei Berufsrichtern und zwei Schöffen beide Verfahren verbunden, die neue Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen und auch insoweit das Hauptverfahren eröffnet. Alsdann hat das Landgericht den Angeklagten wegen aller elf Taten verurteilt. Die Gesamtstrafe hat es dabei aus den Einzelstrafen für die zehn Fälle aus den Jahren 2016 und 2019 unter Einbeziehung der zäsurbegründenden Vorverurteilung vom September 2019 gebildet. Die separate weitere Freiheitsstrafe hat sie für die Tat aus dem Jahr 2020 (Fall II.11 der Urteilsgründe) verhängt.
b) Die Verurteilung hinsichtlich der Fälle II.1 bis II.5 der Urteilsgründe hat keinen Bestand, weil der insoweit getroffene Eröffnungsbeschluss unwirksam ist. Für die Eröffnung des Hauptverfahrens ist die Strafkammer in der Besetzung zuständig, die außerhalb der Hauptverhandlung zu entscheiden hat, also mit drei Berufsrichtern (§ 76 Abs. 1 GVG). Schöffen dürfen am Eröffnungsbeschluss nicht mitwirken, da sie mangels Aktenkenntnis nicht beurteilen können, ob ein hinreichender Tatverdacht im Sinne von § 203 StPO besteht. Auch dann, wenn wie hier eine Eröffnungsentscheidung in der Hauptverhandlung nachgeholt werden soll, muss die Strafkammer sie in der Besetzung außerhalb der Hauptverhandlung treffen. Entscheidet sie in einer Besetzung, die für die Beurteilung der Voraussetzungen generell ungeeignet ist, liegt ein schwerer Verfahrensfehler vor. Der Eröffnungsbeschluss einer Strafkammer, der nur von zwei statt von drei Berufsrichtern gefasst wurde, ist daher unwirksam (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 20. Mai 2015 - 2 StR 45/14, BGHSt 60, 248 Rn. 8 mwN; Beschluss vom 18. Juli 2019 - 4 StR 310/19, juris Rn. 3 mwN).
Weil ein wirksamer Eröffnungsbeschluss, der den Prozessgegenstand bestimmt und die Zuständigkeit des Gerichts festlegt, eine Prozessvoraussetzung für das Hauptverfahren darstellt (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Oktober 1980 - StB 29-31/80, BGHSt 29, 351, 354), ist das Urteil aufzuheben (§ 349 Abs. 4 StPO) und das Verfahren mit der Kostenfolge des § 467 Abs. 1 StPO einzustellen (§ 206a Abs. 1/§ 260 Abs. 3, § 354 Abs. 1 StPO), soweit es von diesem Mangel betroffen ist (vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 25. Oktober 2017 - 2 StR 252/16, juris Rn. 50; vom 19. Dezember 2017 - 1 StR 542/17, juris Rn. 10).
2. Das Prozesshindernis bringt den Gesamtstrafenausspruch zu Fall. Soweit der Generalbundesanwalt ausgeschlossen hat, dass die Strafkammer ohne die Fälle II.1 bis II.5 der Urteilsgründe auf eine mildere Gesamtfreiheitsstrafe als sieben Jahre erkannt hätte, und deren Aufrechterhaltung beantragt hat, ist dem nicht zu folgen. Von zehn im Wesentlichen gleichförmigen Taten entfallen vorliegend fünf, mithin - lässt man die einbezogene Vorverurteilung außer Betracht, die Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz betraf - die Hälfte in Höhe von jeweils drei Jahren. Bei dieser Sachlage ist nicht auszuschließen, dass die Strafkammer ohne die in Wegfall geratenen Einzelstrafen auf eine niedrigere Gesamtstrafe erkannt hätte.
Überdies begegnet die bisherige Bildung der Gesamtstrafe für sich genommen rechtlichen Bedenken. Denn es stellt sich vorliegend als Zufall dar, dass die vom Angeklagten verwirklichte Tatserie nicht im Wege einer einzigen Gesamtstrafe geahndet werden kann. Führt - wie hier - die Zäsurwirkung einer einzubeziehenden Vorverurteilung zur Bildung zweier (Gesamt-)Strafen, ist der sich daraus für den Angeklagten ergebende Nachteil regelmäßig auszugleichen. Jedenfalls muss das Tatgericht darlegen, dass es sich dieser Sachlage bewusst gewesen ist, und erkennen lassen, dass es das Gesamtmaß der Strafen für schuldangemessen hält (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteile vom 9. September 1997 - 1 StR 279/97, BGHSt 43, 216, 217; vom 20. Juli 2016 - 2 StR 18/16, NStZ-RR 2016, 368, 369 mwN; Beschluss vom 8. Oktober 2019 - 4 StR 421/19, NStZ-RR 2020, 28, 29 mwN). Dem wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.
3. Der Verfahrensfehler betrifft nicht die Fälle II.6 bis II.11 der Urteilsgründe. Bezüglich jener hat die Nachprüfung des Urteils keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO), so dass die zugehörigen Einzelstrafen aufrechterhalten bleiben.
4. Das Verfahren ist damit zur Bildung einer neuen Gesamtstrafe an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückzuverweisen. Die zugehörigen Feststellungen sind von dem Rechtsfehler nicht betroffen; sie können deshalb bestehen bleiben. Ergänzende, den bisherigen nicht widersprechende Feststellungen sind möglich.
Der Senat macht keinen Gebrauch von § 354 Abs. 1b StPO. Die Verfahrenseinstellung in den Fällen II.1 bis II.5 der Urteilsgründe bewirkt keinen Strafklageverbrauch (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2017 - 2 StR 252/16, BGHSt 63, 40 Rn. 24 mwN; KKStPO/Ott, 8. Aufl., § 260 Rn. 49). Der hiesige Beschluss hindert deshalb zwar die Fortsetzung des ursprünglich durch das Landgericht hinzuverbundenen Verfahrens, steht aber einer neuen Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft nicht entgegen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. Dezember 2007 - 2 StR 485/06, BGHSt 52, 119 Rn. 7; vom 18. Juli 2019 - 4 StR 310/19, juris Rn. 5; MüKoStPO/Maier, § 260 Rn. 173; KKStPO/Schneider, 8. Aufl., § 206a Rn. 15 und Ott, § 260 Rn. 49).
HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 314
Bearbeiter: Christian Becker