HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 270
Bearbeiter: Christoph Henckel
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 476/20, Beschluss v. 14.01.2021, HRRS 2021 Nr. 270
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Traunstein vom 10. Juli 2020 wird als unbegründet verworfen (§ 349 Abs. 2 StPO).
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Soweit das Landgericht sowohl die Tatbestandsvariante der Anwendung von Gewalt (§ 177 Abs. 5 Nr. 1 StGB) als auch diejenige des Ausnutzens einer schutzlosen Lage (§ 177 Abs. 5 Nr. 3 StGB) als - tateinheitlich - verwirklicht angenommen hat, hält dies rechtlicher Prüfung stand.
Der durch das 33. Strafrechtsänderungsgesetz vom 1. Juli 1997 eingeführte § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB aF sollte nach dem Willen des Gesetzgebers vor allem Strafbarkeitslücken in Fällen schließen, in denen das Opfer wegen der Aussichtslosigkeit von Widerstand auf körperliche Gegenwehr verzichtet (BT-Drucks. 18/8210, S. 10 und 13/7324, S. 6; Schönke/Schröder/Eisele, 30. Aufl., StGB § 177 Rn. 85). Daraus folgt jedoch nicht, dass das nunmehr nach der seit dem 10. November 2016 geltenden Fassung des § 177 Abs. 5 Nr. 3 StGB als Verbrechen strafbare Ausnutzen einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist, lediglich als Auffangtatbestand diejenigen Fälle erfasst, in denen der Täter weder Gewalt anwendet noch mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben droht. Ebenso wenig tritt auf Konkurrenzebene Nr. 3 hinter den anderen beiden Alternativen zurück (a.A. Fischer, StGB, 68. Aufl., § 177 Rn. 112; MüKo-StGB/Renzikowski, 3. Aufl., StGB § 177 Rn. 180 mwN). Vielmehr stehen die Tatbestandsalternativen gleichrangig nebeneinander (so auch BGH, Urteile vom 2. Juli 2020 - 4 StR 678/19 Rn. 40 und vom 9. Januar 2020 - 5 StR 333/19 Rn. 45).
Das tatbestandliche Vorliegen einer schutzlosen Lage ist dabei stets anhand einer Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalles vorzunehmen; einzelne äußere Umstände oder Gegebenheiten sind regelmäßig für sich genommen nicht dazu geeignet, eine schutzlose Lage des Opfers im Sinne des § 177 Abs. 5 Nr. 3 StGB zu begründen (dazu BGH, Urteil vom 2. Juli 2020 - 4 StR 678/19 Rn. 15 f.). Nur durch eine solche Gesamtschau kann gewährleistet werden, dass der Annahme der schutzlosen Lage eine eigenständige Bedeutung zukommt und diese nicht allein in der vom Täter gegenüber dem Opfer ausgeübten Gewalt oder Drohung aufgeht. Die teilweise geäußerte Kritik (vgl. Fischer, NStZ 2020, 665, 667), das Vorliegen einer schutzlosen Lage sei praktisch jedem (vollendeten) sexuellen Übergriff immanent - und müsse deshalb auf Konkurrenzebene zurücktreten - überzeugt vor diesem Hintergrund nicht.
Während die höhere Strafandrohung des § 177 Abs. 5 Nr. 1 und 2 StGB in der Anwendung oder Androhung von Gewalt gegenüber dem Tatopfer begründet liegt, zielt § 177 Abs. 5 Nr. 3 StGB darauf ab, das Opfer zu schützen, das aufgrund objektiver Umstände in seinen Verteidigungsmöglichkeiten deutlich eingeschränkt und daher dem Täter schutzlos ausgeliefert ist (BT-Drucks. 18/8210, S. 10; BGH, Urteil vom 2. Juli 2020 - 4 StR 678/19 Rn. 12 ff.).
Dem Merkmal des Ausnutzens einer schutzlosen Lage kommt dabei eine eigenständige, über die mit der Anwendung von Gewalt (Nr. 1) oder Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben (Nr. 2) hinausgehende Bedeutung zu, weil eine vom Täter ausgenutzte schutzlose Lage für das Tatopfer eine besondere - keineswegs jedem sexuellen Übergriff innewohnende - Gefahr begründet. Beim Ausnutzen einer schutzlosen Lage ist sich der Täter bewusst, dass das Tatopfer seinem ungehemmten Einfluss ausgesetzt ist und er daher mit diesem nach Belieben verfahren kann, und macht sich dies zu Nutze. Dies zeigt der verfahrensgegenständliche Sachverhalt in besonderer Deutlichkeit. In dem hier zugrunde liegenden Fall verfolgten die beiden Angeklagten die stark alkoholisierte Geschädigte in der Nacht bewusst über mehrere hundert Meter, bis sie sich auf der Straße weit genug von jeglicher Bebauung entfernt an abgelegener Stelle befanden, um so etwaige Hilfemöglichkeiten für die Geschädigte zu minimieren. Gerade aufgrund dieser objektiven Gegebenheiten, welche die Angeklagten bewusst schufen und unter denen sie weder die Entdeckung der Tat noch das Eingreifen Dritter ernstlich befürchten mussten, war es ihnen möglich, über 50 Minuten hinweg gegen den Willen des sich vergeblich wehrenden und nach Hilfe rufenden Tatopfers den Geschlechtsverkehr auszuüben. Dass die Angeklagten das Tatopfer darüber hinaus während des erzwungenen Geschlechtsverkehrs zu Boden drückten, seine Arme festhielten und es jeweils mehrfach ins Gesicht schlugen, begründet zudem das Vorliegen von Gewalt im Sinne des § 177 Abs. 5 Nr. 1 StGB.
Ein Zurücktreten der Variante des Ausnutzens einer schutzlosen Lage (§ 177 Abs. 5 Nr. 3 StGB) hinter den anderen beiden Alternativen des § 177 Abs. 5 Nr. 1 und 2 StGB auf Konkurrenzebene ist wegen des ihr zukommenden eigenständigen Gewichts und des damit erfassten zusätzlichen Unrechtsgehalts jedenfalls dann nicht zu rechtfertigen, wenn die Schutzlosigkeit der Lage nicht auf einer vorherigen Gewaltanwendung des Täters beruht. Dies ist hier offensichtlich nicht der Fall. Die vorliegend verwirklichten Alternativen des § 177 Abs. 5 Nr. 1 und 3 StGB stehen daher in Tateinheit zueinander.
HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 270
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2021, 106; StV 2021, 300
Bearbeiter: Christoph Henckel