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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 67

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 528/19, Beschluss v. 24.10.2019, HRRS 2020 Nr. 67


BGH 4 StR 528/19 - Beschluss vom 24. Oktober 2019 (LG Detmold)

Verminderte Schuldfähigkeit (Anknüpfungstatsachen aus Sachverständigengutachten); Aufhebung des Urteils und der Feststellungen (Tenorierung: Zugrundelegung aufgehobener Feststellungen).

§ 21 StGB; § 353 Abs. 2 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Es stellt einen sachlich-rechtlichen Mangel dar, wenn das Tatgericht, welches nach der Aufhebung eines früheren Urteils mit den Feststellungen zu neuer Verhandlung und Entscheidung berufen ist, seinem Urteil nicht nur eigene, sondern auch aufgehobene Feststellungen zugrunde legt. Ein solcher Rechtsfehler ist hier zu besorgen. Bei der Prüfung einer erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit infolge einer alkoholischen Intoxikation lässt sich den Urteilsgründen nicht entnehmen, dass das Landgericht eine eigene Beweiserhebung zu den vom Sachverständigen verwerteten Zusatztatsachen vorgenommen hat.

2. Bei den Tatsachen, auf denen ein Sachverständiger sein Gutachten aufbaut, den „Anknüpfungstatsachen“, sind zwei Gruppen zu unterscheiden: solche, die nur er auf Grund seiner Sachkunde erkennen kann, und solche, die auch das Gericht mit den ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnis- und Beweismitteln feststellen könnte. Die zur ersten Gruppe gehörenden Tatsachen, z.B. die von einem medizinischen Sachverständigen auf Grund ärztlicher Untersuchung oder ärztlicher Eingriffe gemachten Feststellungen, die sogenannten Befundtatsachen, können durch die gutachtlichen Ausführungen des Sachverständigen in die Hauptverhandlung eingeführt und vom Gericht verwertet werden. Wenn aber der Gutachter bei seiner Untersuchung außerdem erhebliche, z.B. das Tatgeschehen betreffende Tatsachen dadurch erfährt, dass er eine Auskunftsperson befragt oder der Vernehmung von Zeugen beiwohnt, so tut er dies nicht auf Grund einer fachkundigen Untersuchung, sondern mit Mitteln, deren sich auch das nicht fachkundige Gericht bedienen kann. Diese letzteren vom Sachverständigen ermittelten Tatsachen (Zusatztatsachen) müssen in zulässiger Weise in die Hauptverhandlung eingeführt werden, etwa durch Vernehmung des Gutachters und (oder) der von ihm Angehörten als Zeugen, sofern es für das Gutachten oder aus anderen Gründen auf derartige Tatsachen ankommt. Sind die vom Sachverständigen - nicht auf Grund seiner besonderen Sachkunde - ermittelten Tatsachen offenkundig oder hat sich das Gericht anderweitig von ihrer Richtigkeit überzeugt, so kann der Sachverständige in seinem Gutachten von ihnen ausgehen.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Detmold vom 13. Juni 2019 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts Bielefeld verwiesen

Gründe

Das Landgericht Detmold hatte den Angeklagten in einem ersten Urteil vom 5. September 2018 wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren verurteilt. Auf die Revision des Angeklagten hatte der Senat durch Beschluss vom 16. Januar 2019 das Urteil im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben und die Sache insoweit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen, weil das Landgericht die Voraussetzungen des minder schweren Falls des Totschlags gemäß § 213 1. Alternative StGB nicht rechtsfehlerfrei verneint hatte. Das Landgericht hat nunmehr die Voraussetzungen des § 213 1. Alternative StGB bejaht und den Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten verurteilt. Gegen dieses Urteil richtet sich die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

1. Die Begründung, mit der das Landgericht eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB verneint hat, hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

Es stellt einen sachlich-rechtlichen Mangel dar, wenn das Tatgericht, welches nach der Aufhebung eines früheren Urteils mit den Feststellungen zu neuer Verhandlung und Entscheidung berufen ist, seinem Urteil nicht nur eigene, sondern auch aufgehobene Feststellungen zugrunde legt (BGH, Beschlüsse vom 22. August 2018 - 3 StR 128/18, NStZ-RR 2018, 382 [Ls]; vom 29. Mai 2012 - 3 StR 156/12, wistra 2012, 356; vom 28. März 2007 - 2 StR 62/07, BGHR StPO § 353 Abs. 2 Tenorierung 1; vom 15. März 1988 - 5 StR 87/88, NStZ 1988, 309). Ein solcher Rechtsfehler ist hier zu besorgen. Bei der Prüfung einer erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit infolge einer alkoholischen Intoxikation lässt sich den Urteilsgründen nicht entnehmen, dass das Landgericht eine eigene Beweiserhebung zu den vom Sachverständigen verwerteten Zusatztatsachen vorgenommen hat.

a) Bei den Tatsachen, auf denen ein Sachverständiger sein Gutachten aufbaut, den „Anknüpfungstatsachen“, sind zwei Gruppen zu unterscheiden: solche, die nur er auf Grund seiner Sachkunde erkennen kann, und solche, die auch das Gericht mit den ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnis- und Beweismitteln feststellen könnte. Die zur ersten Gruppe gehörenden Tatsachen, z.B. die von einem medizinischen Sachverständigen auf Grund ärztlicher Untersuchung oder ärztlicher Eingriffe gemachten Feststellungen, die sogenannten Befundtatsachen, können durch die gutachtlichen Ausführungen des Sachverständigen in die Hauptverhandlung eingeführt und vom Gericht verwertet werden (BGH, Urteil vom 7. Juni 1956 - 3 StR 136/56, BGHSt 9, 292). Wenn aber der Gutachter bei seiner Untersuchung außerdem erhebliche, z.B. das Tatgeschehen betreffende Tatsachen dadurch erfährt, dass er eine Auskunftsperson befragt oder der Vernehmung von Zeugen beiwohnt, so tut er dies nicht auf Grund einer fachkundigen Untersuchung, sondern mit Mitteln, deren sich auch das nicht fachkundige Gericht bedienen kann. Diese letzteren vom Sachverständigen ermittelten Tatsachen (Zusatztatsachen) müssen in zulässiger Weise in die Hauptverhandlung eingeführt werden, etwa durch Vernehmung des Gutachters und (oder) der von ihm Angehörten als Zeugen (vgl. BGH, Urteile vom 7. Juni 1956 - 3 StR 136/56, BGHSt 9, 292; vom 13. Februar 1959 - 4 StR 470/58, BGHSt 13, 1; vom 26. Oktober 1962 - 4 StR 318/62, BGHSt 18, 107, 108), sofern es für das Gutachten oder aus anderen Gründen auf derartige Tatsachen ankommt. Sind die vom Sachverständigen - nicht auf Grund seiner besonderen Sachkunde - ermittelten Tatsachen offenkundig oder hat sich das Gericht anderweitig von ihrer Richtigkeit überzeugt, so kann der Sachverständige in seinem Gutachten von ihnen ausgehen.

b) Das Landgericht hat, dem Sachverständigen Dr. H. folgend, eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zum Tatzeitpunkt aufgrund alkoholischer Intoxikation verneint. Der Sachverständige hat sich bei seiner Bewertung des Zustands des Angeklagten einerseits auf das Tatgeschehen gestützt, andererseits aber auf die Angaben von zwei Zeugen, die den Angeklagten in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Tatzeitpunkt getroffen und keinerlei Auffälligkeiten an ihm bemerkt haben, und von drei weiteren Zeugen, mit denen der Angeklagte nach der Tat über die Getötete gesprochen hat. Dem angefochtenen Urteil lässt sich nicht entnehmen, wie das Gericht die von den Zeugen bekundeten Zusatztatsachen in die Hauptverhandlung eingeführt bzw. sich von der Richtigkeit der vom Sachverständigen verwerteten Zusatztatsachen überzeugt hat. Das Urteil enthält keine ausdrückliche Beweiswürdigung. Es ist weder erkennbar, dass die Strafkammer die benannten Zeugen vernommen hat, noch dass sie den Gutachter insoweit als Zeugen über die früheren Aussagen gehört hat. Es ist daher nicht auszuschließen, dass die Strafkammer rechtsfehlerhaft die aufgehobenen Feststellungen des Urteils vom 5. September 2018 zum Nachtatgeschehen für bindend gehalten hat. Hierfür könnte sprechen, dass sie die Feststellungen dieses Urteils in kursiver Schrift in Anführungszeichen von „1. Vorgeschichte“ bis „6. Das Nachtatgeschehen“ wiedergegeben hat. Hebt aber das Revisionsgericht ein Urteil im Strafausspruch mit den Feststellungen auf, bleiben nur die Feststellungen bestehen, in denen die gesetzlichen Merkmale der dem Angeklagten zur Last gelegten Straftat gefunden worden sind, und solche Bestandteile der Sachverhaltsschilderung, aus denen der frühere Tatrichter im Rahmen der Beweiswürdigung seine Überzeugung von der Schuld des Angeklagten abgeleitet hat und die das Tatgeschehen im Sinne eines geschichtlichen Vorgangs näher beschreiben, zum Beispiel die Umstände schildern, die der Tatausführung das entscheidende Gepräge gegeben haben. Hierzu gehört das im Urteil vom 5. September 2018 festgestellte Nachtatgeschehen nicht.

2. Der Senat kann ein Beruhen des Urteils auf dem Rechtsfehler nicht ausschließen. Der Sachverständige hat sich zwar auch auf das Tatgeschehen als solches gestützt, das gegen nennenswerte motorische Einschränkungen des Angeklagten spreche. Insbesondere zur Verneinung einer alkoholbedingten affektiven Beeinträchtigung und einer hirnorganischen Beeinträchtigung hat er jedoch ausdrücklich (nochmals) auf das geordnete Nachtatverhalten verwiesen.

Ebenso wenig kann der Senat ausschließen, dass die an sich nicht unangemessene Strafe auf der rechtsfehlerhaften Verneinung einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit beruht.

3. Der Senat macht von der Möglichkeit des § 354 Abs. 2 StPO Gebrauch und verweist die Sache an ein anderes Landgericht.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 67

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2020, 29; StV 2020, 846

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner