HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 388
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 390/19, Urteil v. 05.02.2020, HRRS 2020 Nr. 388
Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin wird das Urteil des Landgerichts Chemnitz vom 28. Februar 2019 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des vierfachen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern, in einem Fall im Versuch, sowie des siebenfachen sexuellen Missbrauchs von Kindern aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Die hiergegen gerichteten Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin haben jeweils mit der Sachrüge Erfolg.
1. Die unverändert zur Hauptverhandlung zugelassene Anklage legt dem Angeklagten zur Last, an unterschiedlichen Tagen im Zeitraum von Oktober 2014 bis Februar 2017 sexuelle Übergriffe zum Nachteil der Nebenklägerin, seiner am 9. August 2007 geborenen Enkelin, begangen zu haben. Seit ihrer Einschulung habe sich die Nebenklägerin regelmäßig in den Schulferien zu Besuch im Wohnhaus des Angeklagten aufgehalten. Dort habe der Angeklagte die Taten verübt. Mehrfach, dabei einmal mit dem Griff eines Schraubenziehers, habe er an der unbedeckten Scheide der Nebenklägerin manipuliert bzw. diese geleckt oder geküsst oder die Nebenklägerin aufgefordert, selbst an ihrer Scheide zu manipulieren (Anklagevorwürfe 1, 4, 7, 8, 9). Im Wohnzimmer habe er seinen Penis in die Scheide der Nebenklägerin eingeführt (Anklagevorwurf 3), in einem im Garten aufgebauten Pool habe er dies versucht (Anklagevorwurf 2). Auf dessen Aufforderung habe die Nebenklägerin am Angeklagten masturbiert und diesen dann mit dem Finger anal penetriert (Anklagevorwurf 5). Ferner habe der Angeklagte ein Fieberthermometer in den Anus der Nebenklägerin eingeführt und sie dann aufgefordert, mit dem Thermometer an seinem Glied Manipulationen vorzunehmen (Anklagevorwurf 6). Einer Aufforderung des Angeklagten, sich auf seinen Penis zu setzen und an ihm den Oralverkehr durchzuführen, habe sich die Nebenklägerin verweigert (Anklagevorwurf 10). Auf einem Ergometer sitzend habe der Angeklagte in Gegenwart der Nebenklägerin seinen unbedeckten Penis mit Öl eingerieben, um sich sexuell zu erregen, und dabei vorgegeben, er behandle auf diese Weise Mückenstiche (Anklagevorwurf 11).
2. Das Landgericht hat sich nicht davon zu überzeugen vermocht, dass der die Vorwürfe bestreitende Angeklagte die Taten begangen hat. Dafür hat es tragend auf das in der Hauptverhandlung erstattete Gutachten des aussagepsychologischen Sachverständigen abgestellt, der - anders als in seinen vorbereitenden schriftlichen Ausführungen - die Auffassung vertreten habe, bei der Nebenklägerin sei eine Überlappung von tatsächlich Erlebtem mit Auffüllen durch Filminhalte nicht auszuschließen, weswegen die „Unglaubhaftigkeitshypothese“ nicht habe widerlegt werden können. Aus diesem Grund vermochte die Jugendschutzkammer die dem Angeklagten zur Last gelegten Taten „trotz aller belastenden Umstände“ nach einer Gesamtwürdigung nicht mit einer zur Verurteilung notwendigen Sicherheit festzustellen.
3. Die Beweiswürdigung hält rechtlicher Überprüfung in mehrfacher Hinsicht nicht stand.
a) Sind nach den Urteilsgründen zwischen schriftlichem (vorbereitendem) und in der Hauptverhandlung mündlich erstattetem Sachverständigengutachten in entscheidenden Punkten Widersprüche aufgetreten, so muss sich das Gericht nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hiermit im Einzelnen auseinandersetzen; es hat dann nachvollziehbar darzulegen, warum es das eine Ergebnis für zutreffend, das andere (im vorbereitenden Gutachten) für unzutreffend erachtet (vgl. BGH, Beschlüsse vom 29. Dezember 1989 - 4 StR 630/89, NStZ 1990, 244, 245; vom 13. Juli 2004 - 4 StR 120/04, NStZ 2005, 161, 162; LRStPO/Sander, 26. Aufl., § 261 Rn. 90; KKStPO/Ott, 8. Aufl., § 261 Rn. 114, jeweils mwN). Die Widersprüche müssen dabei eine Erklärung finden, die Zweifel an der Richtigkeit des angenommenen Ergebnisses beseitigt (vgl. BGH, aaO).
Diesen Maßgaben wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Den Urteilsgründen ist lediglich zu entnehmen, dass es dem Sachverständigen in der Hauptverhandlung nicht möglich gewesen sei zu differenzieren, wo eine Übertragung von Filminhalten in das Erinnerungsvermögen der Zeugin stattgefunden habe. Warum der Sachverständige seine im vorbereitenden Gutachten verlautbarte anderweitige Einschätzung geändert hat, wird nicht mitgeteilt. Entsprechendes gilt für die Frage, welche Inhalte welcher Filme aus welchen Quellen sich auf das Erinnerungsbild der Nebenklägerin in der vermuteten Weise ausgewirkt haben könnten. Angesichts der teils sehr originellen Schilderungen der Nebenklägerin insbesondere zu Manipulationen mit einem Schraubenzieher und einem Fieberthermometer sowie zu einem mit der Behandlung von Mückenstichen erklärten Einölen des Geschlechtsteils des Angeklagten liegt eine Übertragung pornographischer Filmszenen zwischen Erwachsenen bereits für sich betrachtet nicht besonders nahe.
Eine revisionsgerichtliche Überprüfung, ob das in der Hauptverhandlung erstattete Gutachten die Glaubhaftigkeit der Aussage der Zeugin entsprechend den wissenschaftlichen Anforderungen beurteilt hat, ist unter solchen Vorzeichen nicht möglich.
b) Die Beweiswürdigung ist auch ansonsten lückenhaft.
Das Landgericht bescheinigt der „sehr umfangreichen und detaillierten Aussage“ der im Zeitpunkt der audiovisuellen Vernehmung neun Jahre und neun Monate alten Nebenklägerin eine hohe Konstanz im Verhältnis zu ihren Bekundungen gegenüber dem aussagepsychologischen Sachverständigen. Der Sachverständige, dem die Jugendschutzkammer gefolgt ist, hat seiner Überzeugung Ausdruck verliehen, dass die intellektuell normal entwickelte und nicht über das Normalmaß hinaus zu Lügen neigende Nebenklägerin eigene Erlebnisse wiedergegeben habe. Fremdsuggestive Einflüsse und eine bewusst wahrheitswidrige Belastung des Angeklagten hat er ausgeschlossen. Jedoch hat die Nebenklägerin im Rahmen der audiovisuellen Vernehmung eingeräumt, bei auf Initiative ihrer Mutter vorgenommenen Eintragungen in einem Buchkalender insoweit „Quatsch“ hingeschrieben zu haben, als sie dort erklärt habe, dass sie „ganz oft“ das Geschlechtsteil des Angeklagten habe in den Mund nehmen müssen. Hierzu sei sie in Wahrheit nur einmal aufgefordert worden. Angesichts dessen bedarf es nach Auffassung des Landgerichts Beweisanzeichen außerhalb der Aussage der Nebenklägerin, um dieser gleichwohl glauben zu können.
Wie das Landgericht im Grundsatz nicht verkannt hat, werden die Bekundungen der Nebenklägerin indessen durch „äußere“ Beweisanzeichen gerade gestützt. Deren Art und Gewicht sind zum Teil sogar geeignet, die Annahme einer Konstellation „Aussage gegen Aussage“ in Frage zu stellen (vgl. hierzu LRStPO/Sander, aaO, Rn. 72, 83d mwN). Das gilt namentlich für den Umstand, dass bei der gynäkologischen Untersuchung der Nebenklägerin im Bereich des Hymenrandes bis zu 4 mm tiefe Einkerbungen festgestellt wurden. Diese müssen nach Einschätzung der die Untersuchung durchführenden Ärztin bei der hierfür verantwortlichen Penetration noch tiefer und breiter gewesen sein, wobei die Nebenklägerin sich die Verletzungen nicht selbst beigebracht haben könne. Ferner ist an zwei Slips, die die Nebenklägerin während ihres letzten Besuchs beim Angeklagten getragen hatte, DNA gefunden worden, die nach dem molekulargenetischen Gutachten mit der des Angeklagten übereinstimmt bzw. hinsichtlich derer er als Verursacher nicht ausgeschlossen werden kann. Darüber hinaus sind auf dem Computer des Angeklagten rund 2.000 Bild- und 50 Videodateien pornographischen Inhalts festgestellt worden, was mit der Aussage der Nebenklägerin vereinbart werden kann, der Angeklagte habe ihr häufig pornographische Filme gezeigt. Schließlich hat das Landgericht der Mutter der Nebenklägerin und Tochter des Angeklagten geglaubt, dieser habe sie selbst in ihrer Jugend missbraucht, indem er ihr erlaubt habe, abends länger fernzusehen, während er im selben Zimmer nackt im Sessel gesessen und dabei onaniert habe, so dass sie es habe sehen müssen. Die Tat ist dem Anklagevorwurf 11 nicht unähnlich.
Es hätte dem Landgericht oblegen, diese Beweisanzeichen zu den Bekundungen der Nebenklägerin betreffend die einzelnen Tatvorwürfe in Beziehung zu setzen und in ihrer Gesamtheit zu würdigen. Daran fehlt es.
4. Der Senat hebt auch die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen auf. Denn der freigesprochene Angeklagte konnte diese nicht mit einem Rechtsmittel angreifen.
5. Die Sache bedarf damit insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung, wobei gegebenenfalls ein anderer aussagepsychologischer Gutachter heranzuziehen sein wird. Für die neue Verhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
a) Das angefochtene Urteil genügt nicht den Anforderungen, die an die Darlegung der Ergebnisse von DNA-Gutachten zu stellen sind (vgl. hierzu BGH, Beschlüsse vom 28. August 2018 - 5 StR 50/17, BGHSt 63, 187 zu eindeutigen Einzelspuren; vom 31. Mai 2017 - 5 StR 149/17, NStZ 2017, 723 zu Mischspuren; siehe auch BGH, Beschluss vom 20. November 2019 - 4 StR 318/19 Rn. 5).
b) Es liegt nahe, hinsichtlich des gynäkologischen Befundes einen Sachverständigen hinzuzuziehen.
HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 388
Externe Fundstellen: NStZ 2021, 119; StV 2020, 445
Bearbeiter: Christian Becker