HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 193
Bearbeiter: Holger Mann
Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 859/17, Beschluss v. 23.01.2020, HRRS 2020 Nr. 193
1. Die Verfügung der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth vom 31. August 2016 - 250 Js 12053/12 -, der Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg vom 9. Dezember 2016 - 6 Zs 1369/16 - sowie die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 6. März 2017 - 2 Ws 8/17 - und 23. März 2017 - 2 Ws 172/17 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 und Satz 2 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes, soweit das Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten Dr. M… wegen der Gewährung des Ausgangs am 12. November 2011 betroffen ist.
2. Die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 6. März 2017 - 2 Ws 8/17 - und 23. März 2017 - 2 Ws 172/17 - verletzen den Beschwerdeführer insoweit auch in seinem Grundrecht aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes.
3. Sie werden in dem sich aus Ziffer 1 ergebenden Umfang aufgehoben und die Sache wird insoweit an das Oberlandesgericht Nürnberg zurückverwiesen.
4. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
5. Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren zur Hälfte zu erstatten.
6. Der Gegenstandswert der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 10.000,00 Euro (in Worten: zehntausend Euro) festgesetzt.
1. Die Tochter des Beschwerdeführers, der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie ist, Frau F., befand sich seit dem Jahr 2003 mehrfach in psychiatrischer Behandlung und unternahm wiederholt Suizidversuche. Im Jahr 2009 wurde bei ihr eine schizoaffektive beziehungsweise schizophrene Störung diagnostiziert. Sie befand sich nach einer Verschlechterung ihres Gesundheitszustands im Zeitraum vom 11. August 2011 bis zu ihrem Tod am 12. November 2011 in stationärer akutpsychiatrischer Behandlung in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Klinikums N.
Bei Ausgängen am 27. September 2011 und 29. Oktober 2011 unternahm Frau F. jeweils einen Suizidversuch, am 9. November 2011 unternahm sie einen solchen auf der Station. Für den 12. November 2011 gewährte ihr der Oberarzt der Station, Dr. M., einen unbegleiteten Ausgang für maximal vier Stunden auf dem Klinikgelände. Während dieses Ausgangs begab sich Frau F. auf die ungesicherte Außentreppe eines Gebäudes, stürzte sich etwa aus der Höhe des vierten Stocks von der Treppe hinab und verstarb.
2. Der Beschwerdeführer erstattete mit Schreiben vom 10. April 2012 Strafanzeige gegen den Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. Dr. X., den bis zum 3. November 2011 tätigen Oberarzt der Station Dr. H., den im Anschluss daran dort tätigen Oberarzt Dr. M. sowie die Stationsärztin Dr. K.
Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth stellte nach Einholung des forensischpsychiatrischen Gutachtens von Dr. N. vom 22. Februar 2013 das Ermittlungsverfahren mit Verfügung vom 11. März 2013 gegen sämtliche Beschuldigte gemäß § 170 Abs. 2 StPO ein. Ein hinreichender Tatverdacht für eine fahrlässige Tötung sei nicht erkennbar. Die Gewährung des Ausgangs am 12. November 2011 stelle keinen Behandlungsfehler dar, weil Frau F. nach dem Suizidversuch vom 9. November 2011 weiterhin absprachefähig gewesen sei und offen über ihre Suizidgedanken berichtet habe. Wäre ihr kein Ausgang gewährt worden, hätte die Gefahr bestanden, dass sie nicht mehr offen über ihre suizidalen Gedanken und Impulse berichtet hätte. Dr. M. habe die Entscheidung über die Gewährung des Ausgangs sorgfältig abgewogen, weshalb er den Ausgang für den 12. November 2011 auf das Klinikgelände beschränkt habe. Jedenfalls könne nicht mit der für eine Anklageerhebung erforderlichen Gewissheit festgestellt werden, dass die Gewährung des unbegleiteten Ausgangs für den Suizid ursächlich gewesen sei. Frau F. hätten sich auf der Station zahlreiche weitere Mittel für die Durchführung des Suizids geboten.
Die Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg gab der hiergegen eingelegten Beschwerde mit Bescheid vom 27. Mai 2013 keine Folge.
3. Gegen den Gutachter Dr. N. erstattete der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 22. August 2016 Strafanzeige, unter anderem wegen des Ausstellens unrichtiger Gesundheitszeugnisse (§ 278 StGB). Zudem beantragte er, das Ermittlungsverfahren gegen die beschuldigten Ärzte wiederaufzunehmen. Dr. N. habe ein Gefälligkeitsgutachten erstellt, indem er der Begutachtung bewusst falsche Tatsachen zugrunde gelegt habe. Die Annahmen zur Medikation und Gewährung des Ausgangs seien schlechterdings unvertretbar.
Die Staatsanwaltschaft Ansbach stellte das Ermittlungsverfahren gegen Dr. N. gemäß § 170 Abs. 2 StPO ein. Die hiergegen gerichtete Beschwerde sowie der Antrag auf gerichtliche Entscheidung blieben erfolglos.
4. Mit Verfügung vom 31. August 2016 sah die Staatsanwaltschaft NürnbergFürth von der Wiederaufnahme des Ermittlungsverfahrens gegen die Beschuldigten gemäß § 152 Abs. 2 StPO ab; sie folge weiterhin den schlüssigen Ausführungen von Dr. N. Die vorgebrachten Gesichtspunkte seien nicht geeignet, das Vertrauen in seine Sachkunde zu erschüttern. Selbst wenn er das Vorliegen eines Behandlungsfehlers in Bezug auf die Medikation und die Ausgangsgewährung falsch eingeschätzt haben sollte, könnte nicht mit der für eine Anklageerhebung nötigen Sicherheit festgestellt werden, dass sich der Freitod bei einer anderweitigen Medikation und der Nichtgewährung des Ausgangs hätte verhindern lassen.
Die Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg gab der hiergegen erhobenen Beschwerde mit Bescheid vom 9. Dezember 2016 keine Folge.
Den Antrag auf gerichtliche Entscheidung verwarf das Oberlandesgericht Nürnberg mit Beschluss vom 6. März 2017 als unbegründet. Die gebotene wertende Betrachtung ergebe, dass die Beschuldigten keine strafrechtlich relevante Handlungsherrschaft bei dem Suizid gehabt hätten. Frau F. hätte sich auch auf der Station der Klinik umbringen können, der gewährte Ausgang habe die Umsetzung ihres Vorhabens nur erleichtert. Dass Dr. M. den Ausgang ohne Begleitung gewährt habe, ändere hieran nichts, zumal Frau F. einen Suizidversuch auch bei dem begleiteten Ausgang am 29. Oktober 2011 unternommen habe. Zudem habe sie am 11. November 2011 einen unter denselben Bedingungen gewährten Ausgang zuverlässig absolviert. Die vorangegangenen Suizidversuche hätten eher den Charakter von Hilferufen gehabt und seien nicht ernsthaft gewesen. Es werde nicht verkannt, dass die Beurteilungsfähigkeit aufgrund der psychischen Erkrankung beeinträchtigt gewesen sei, gleichwohl habe Frau F. den Suizidentschluss selbst gefasst und umgesetzt.
Die Anhörungsrüge wies das Oberlandesgericht Nürnberg mit Beschluss vom 23. März 2017 zurück.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung des Rechts auf effektive Strafverfolgung (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG), das er gemäß Art. 6 Abs. 1 GG auch als Vater der Verstorbenen geltend machen könne, einen Verstoß gegen das Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) sowie eine Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG).
Das Oberlandesgericht habe bereits verkannt, dass kein Klage-, sondern ein Ermittlungserzwingungsantrag gestellt worden sei, der anderen Anforderungen unterliege. Die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen seien unzureichend; dies gelte insbesondere für das Gutachten von Dr. N. Demnach hätte zumindest ein Ergänzungsgutachten eingeholt werden müssen. Die Entscheidungen basierten zudem eindeutig auf sachfremden Erwägungen, namentlich dem Schutz der beschuldigten Ärzte.
Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.
Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hat zur Verfassungsbeschwerde Stellung genommen.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93b Satz 1 i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), und gibt ihr statt, soweit die Verfassungsbeschwerde das Ermittlungsverfahren gegen Dr. M. wegen der Gewährung des Ausgangs am 12. November 2011 betrifft. Die Entscheidungskompetenz der Kammer ist gegeben (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die für die Entscheidung des Falles maßgeblichen verfassungsrechtlichen Grundsätze sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt.
Im Umfang der Stattgabe der Verfassungsbeschwerde liegt sowohl eine Verletzung des Anspruchs auf effektive Strafverfolgung gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG (1.) als auch des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) vor (2.). Eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als allgemeines Willkürverbot legt der Beschwerdeführer dagegen nicht hinreichend substantiiert dar (3.).
1. Der aus dem Grundgesetz folgende Anspruch auf effektive Strafverfolgung (a) wird durch die angegriffenen Entscheidungen insoweit verletzt, als das Ermittlungsverfahren gegen Dr. M. wegen der Ausgangsgewährung ohne Durchführung weiterer Ermittlungen eingestellt worden ist (b).
a) Aus dem Grundgesetz ergibt sich ein Recht auf effektive Strafverfolgung nur ausnahmsweise (aa). Die diesbezüglichen Voraussetzungen (bb) sind hier erfüllt (cc).
aa) Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG verpflichten den Staat, sich dort schützend und fördernd vor das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die Freiheit und die sexuelle Selbstbestimmung des Einzelnen zu stellen und sie vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten Dritter zu bewahren, wo dieser nicht selbst für ihre Integrität sorgen kann (vgl. BVerfGE 39, 1 <42>; 46, 160 <164>; 121, 317 <356>; BVerfGK 17, 1 <5>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 2. Juli 2018 - 2 BvR 1550/17 -, Rn. 38). Ein Anspruch auf bestimmte einklagbare Maßnahmen ergibt sich daraus grundsätzlich nicht, weil die Rechtsordnung in der Regel keinen grundrechtlich radizierten Anspruch auf eine Strafverfolgung Dritter kennt (vgl. BVerfGE 51, 176 <187>; 88, 203 <262 f.>; BVerfGK 17, 1 <5>; BVerfG, Beschluss der 4. Kammer des Zweiten Senats vom 9. April 2002 - 2 BvR 710/01 -, Rn. 5).
Etwas anderes kann allerdings bei erheblichen Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung und die Freiheit der Person in Betracht kommen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Juni 2014 - 2 BvR 2699/10 -, Rn. 8 ff.; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Oktober 2014 - 2 BvR 1568/12 -, Rn. 9 ff.; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. März 2015 - 2 BvR 1304/12 -, Rn. 12 ff.; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Mai 2015 - 2 BvR 987/11 -, Rn. 17 ff.; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 25. Oktober 2019 - 2 BvR 498/15 -, Rn. 13). Die wirksame Verfolgung von Gewaltverbrechen und vergleichbaren Straftaten dieser Art stellt eine Konkretisierung der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG dar (vgl. BVerfGK 17, 1 <5>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Juni 2014 - 2 BvR 2699/10 -, Rn. 10) und ist ein wesentlicher Auftrag des rechtsstaatlichen Gemeinwesens (vgl. BVerfGE 29, 183 <194>; 77, 65 <76>; 80, 367 <375>; 100, 313 <388 f.>; 107, 299 <316>; 122, 248 <272 f.>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 12. Oktober 2011 - 2 BvR 236/08, 2 BvR 237/08, 2 BvR 422/08 -, Rn. 249; Beschluss des Zweiten Senats vom 16. Juni 2015 - 2 BvR 2718/10, 2 BvR 1849/11, 2 BvR 2808/11 -, Rn. 93). Er kann insoweit auch Grundlage subjektiver öffentlicher Rechte sein (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 2. Juli 2018 - 2 BvR 1550/17 -, Rn. 38). Bei Kapitaldelikten kann ein solcher Anspruch auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 1 Abs. 1 GG auch nahen Angehörigen zustehen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Mai 2015 - 2 BvR 987/11 -, Rn. 20; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 2. Juli 2018 - 2 BvR 1550/17 -, Rn. 38).
bb) Ein Anspruch auf effektive Strafverfolgung besteht - neben Konstellationen, in denen Amtsdelikte oder Straftaten gegen Opfer in einem „besonderen Gewaltverhältnis“ zum Staat im Raum stehen, für die ihm eine spezifische Fürsorge- und Obhutspflicht obliegt - vor allem dort, wo der Einzelne nicht in der Lage ist, erhebliche Straftaten gegen seine höchstpersönlichen Rechtsgüter Leben, körperliche Unversehrtheit, sexuelle Selbstbestimmung und Freiheit der Person abzuwehren, ein Verzicht auf die effektive Verfolgung solcher Taten zu einer Erschütterung des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates und einem allgemeinen Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt führen kann. In solchen Fällen kann, gestützt auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG, ein Tätigwerden des Staates und seiner Organe auch mit den Mitteln des Strafrechts verlangt werden (vgl. BVerfGE 39, 1 <36 ff.>; 49, 89 <141 f.>; 53, 30 <57 f.>; 77, 170 <214>; 88, 203 <251>; 90, 145 <195>; 92, 26 <46>; 97, 169 <176 f.>; 109, 190 <236>).
(1) Die (verfassungsrechtliche) Verpflichtung zu effektiver Strafverfolgung bezieht sich auf das Tätigwerden aller Strafverfolgungsorgane. Ihr Ziel ist es, eine wirksame Anwendung der zum Schutz des Lebens, der körperlichen Integrität und der Freiheit der Person erlassenen Strafvorschriften sicherzustellen. Es muss gewährleistet sein, dass Straftäter für von ihnen verschuldete Verletzungen dieser Rechtsgüter tatsächlich zur Verantwortung gezogen werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Juni 2014 - 2 BvR 2699/10 -, Rn. 13; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Oktober 2014 - 2 BvR 1568/12 -, Rn. 14; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. März 2015 - 2 BvR 1304/12 -, Rn. 16; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Mai 2015 - 2 BvR 987/11 -, Rn. 23).
(2) Dies bedeutet nicht, dass der in Rede stehenden Verpflichtung stets nur durch Erhebung einer Anklage genügt werden kann. Vielfach wird es ausreichend sein, wenn die Staatsanwaltschaft und - nach ihrer Weisung - die Polizei die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel personeller und sachlicher Art sowie ihre Befugnisse nach Maßgabe eines angemessenen Ressourceneinsatzes auch tatsächlich nutzen, um den Sachverhalt aufzuklären und die Beweismittel zu sichern (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Juni 2014 - 2 BvR 2699/10 -, Rn. 14; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Oktober 2014 - 2 BvR 1568/12 -, Rn. 15; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. März 2015 - 2 BvR 1304/12 -, Rn. 17; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Mai 2015 - 2 BvR 987/11 -, Rn. 24). Die Erfüllung der Verpflichtung zur effektiven Strafverfolgung setzt eine detaillierte und vollständige Dokumentation des Ermittlungsverlaufs ebenso voraus wie eine nachvollziehbare Begründung von Einstellungsentscheidungen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. März 2015 - 2 BvR 1304/12 -, Rn. 17; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Mai 2015 - 2 BvR 987/11 -, Rn. 24; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 29. Mai 2019 - 2 BvR 2630/18 -, Rn. 15).
(3) Sie unterliegt zudem der gerichtlichen Kontrolle (§§ 172 ff. StPO). Das Oberlandesgericht ist daher verpflichtet, die Wahrung des Rechts auf effektive Strafverfolgung sowie die detaillierte und vollständige Dokumentation des Ermittlungsverlaufs und die Begründung der Einstellungsentscheidungen zu kontrollieren (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Juni 2014 - 2 BvR 2699/10 -, Rn. 15; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Oktober 2014 - 2 BvR 1568/12 -, Rn. 20; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. März 2015 - 2 BvR 1304/12 -, Rn. 23).
cc) Nach diesen Maßstäben steht dem Beschwerdeführer ein Anspruch auf effektive Strafverfolgung aus Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 und Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG zu. Gegenstand des Ermittlungsverfahrens war der Verdacht der fahrlässigen Tötung zum Nachteil seiner Tochter, mithin eine erhebliche Straftat gegen das Leben, deren Verfolgung vom Beschwerdeführer als nahem Angehörigen verlangt werden kann. Ein Verzicht auf die effektive Verfolgung einer Tat, die das eventuell nachlässige Verhalten eines Klinikarztes (oder sogar mehrerer Ärzte) betrifft und nach dem Vorwurf des Beschwerdeführers zum Tod einer in dortiger Obhut befindlichen Patientin geführt haben kann, kann im Hinblick auf den hohen Stellenwert des menschlichen Lebens zu einer Erschütterung des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates und zu einem allgemeinen Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt führen.
(1) Die angegriffenen Entscheidungen werden dem Anspruch auf effektive Strafverfolgung nicht gerecht, soweit das Ermittlungsverfahren gegen Dr. M. wegen der Gewährung des Ausgangs am 12. November 2011 ohne Durchführung weiterer Ermittlungen eingestellt worden ist. Davon abgesehen, dass die Annahme des Oberlandesgerichts unzutreffend ist, eine Strafbarkeit des Arztes scheitere daran, dass sich Frau F. auch auf der Station das Leben hätte nehmen können, weil damit ein hypothetisches Alternativszenario zugrunde gelegt wird, das nicht zum gleichen Todeserfolg geführt hätte wie die in Rede stehende Straftat (vgl. nur BGHSt 49, 1 <3 f.>), genügen die durchgeführten Ermittlungen nicht, um dem Anspruch auf effektive Strafverfolgung gerecht zu werden.
Die Ermittlungen bestehen im Wesentlichen aus der Einholung des Sachverständigengutachtens von Dr. N. Dieses allein vermag angesichts des umfassenden Vorbringens des Beschwerdeführers zum wechselhaften Gesundheitszustand seiner Tochter sowie der drei während des Klinikaufenthalts unternommenen Suizidversuche nicht nachvollziehbar darzulegen, dass trotz der Gewährung des vierstündigen unbegleiteten Ausgangs ein hinreichender Tatverdacht gegenüber Dr. M. ausgeschlossen ist. Es hätte insoweit vielmehr der Einholung eines Ergänzungsgutachtens bedurft.
Die Fragen der Staatsanwaltschaft an den Gutachter bezogen sich ausschließlich auf die Medikation, obwohl der Beschwerdeführer bereits in seiner Strafanzeige vom 10. April 2012 darauf hingewiesen hatte, dass die Gewährung des Ausgangs fehlerhaft gewesen sei. Das Gutachten nimmt dazu gleichwohl nur am Rande Stellung, indem es feststellt, dass es bis heute keine Möglichkeit gebe, die Suizidgefahr im Einzelfall zuverlässig vorherzusagen, und dass in jedem Einzelfall und zu jedem Zeitpunkt eine Risiko-Nutzen-Abwägung erforderlich sei.
Diese Ausführungen erschöpfen sich in der Feststellung, dass über die zu ergreifenden Maßnahmen im Einzelfall zu entscheiden sei und es insbesondere keine allgemeingültige Vorgehensweise zur Verhinderung eines potentiellen Suizids gebe. Die vorliegend strafrechtlich relevante Frage, ob Dr. M. in der konkreten Situation unter den gesetzten Bedingungen der Patientin Ausgang gewähren durfte, wird dabei jedoch nicht adressiert.
(2) Die Annahme des Sachverständigen, dass Frau F. nicht mehr offen über ihre Gedanken und Suizidvorstellungen gesprochen hätte, wenn ihr nicht regelmäßig Ausgang gewährt worden wäre, vermag einen Verstoß gegen eine Sorgfaltspflicht von Dr. M. allein nicht zu entkräften, weil aufgrund der bisherigen Ermittlungen ungeklärt ist, ob nicht auch ein begleiteter oder zumindest beobachteter Ausgang die Kooperationsbereitschaft erhalten hätte.
(3) Dass Frau F. am 12. November 2011 erst kurze Zeit nach dem Verlassen der Station in ihrer freien Willensbildung eingeschränkt gewesen sein soll, jedoch in dem Moment, als sie die Station verließ, noch nicht, stützt der Gutachter nicht auf Tatsachen, die diese Annahme plausibel machen. Er stellt vielmehr fest, dass am 12. November 2011 nicht einmal - wie sonst üblich - die Abmeldung der Patientin von der Station dokumentiert wurde. Ob sie im Zeitpunkt der Entscheidung über die Gewährung des Ausgangs eigenverantwortlich handeln konnte und bereits (erkennbar) zum Suizid entschlossen gewesen ist, bleibt demnach spekulativ und kann der Einstellung des Ermittlungsverfahrens nicht zugrunde gelegt werden.
Auch dass die drei erfolglosen Suizidversuche den Charakter von Hilferufen gehabt hätten und nicht ernst zu nehmen gewesen seien, nimmt das Oberlandesgericht ohne jede Tatsachengrundlage an, während seine Angabe, dass Frau F. am 11. November 2011 einen Ausgang unter den gleichen Bedingungen wie am 12. November 2011 zuverlässig absolviert habe, offenkundig nicht zutrifft. Vielmehr handelte es sich hierbei um einen (lediglich) 20-minütigen Ausgang.
b) Die angegriffenen Entscheidungen sind dagegen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, soweit es um die als fehlerhaft gerügte Medikation geht. Das gilt auch für die unterbliebene Einholung eines Ergänzungsgutachtens. Selbst wenn die Medikation aus der maßgeblichen Sicht ex-ante nicht lege artis gewesen sein sollte, bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass dies dem Beschuldigten - unabhängig von seinem konkreten Tatbeitrag - subjektiv vorwerfbar gewesen wäre und eine andere Medikation am 12. November 2011 den Suizid mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert hätte. Der Beschwerdeführer beschränkt sich auf die Behauptung, dass sich durch die Gabe anderer Medikamente beziehungsweise eine Änderung der Dosierung der verabreichten Medikamente der Gesundheitszustand verbessert hätte, obgleich seine Tochter in den vergangenen Jahren bei anderer Medikation ebenfalls suizidal war.
2. Der Beschwerdeführer ist, soweit das strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen Dr. M. hinsichtlich der Gewährung des Ausgangs betroffen ist, zudem in seinem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt.
a) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das zuständige Gericht, die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerfGE 42, 364 <367 f.>; 47, 182 <187>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 29. August 2017 - 2 BvR 863/17 -, Rn. 15; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 1. Oktober 2019 - 1 BvR 552/18 -, Rn. 8; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 18. Juli 2019 - 2 BvR 1082/18 -, Rn. 14; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Juni 2019 - 2 BvR 2579/17 -, Rn. 23). Nur wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass ein Gericht seiner Pflicht, das Vorbringen der Partei zur Kenntnis zu nehmen und zu erwägen, nicht nachgekommen ist, ist Art. 103 Abs. 1 GG verletzt (vgl. BVerfGE 25, 137 <140>; 85, 386 <404>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 17. November 2017 - 2 BvR 1131/16 -, Rn. 48; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 8. Juli 2019 - 2 BvR 453/19 -, Rn. 9; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Mai 2019 - 2 BvR 1429/16 -, Rn. 11).
b) Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs hat das Oberlandesgericht den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs dadurch verletzt, dass es den Antrag des Beschwerdeführers an den Anforderungen für die Erhebung der öffentlichen Klage gemessen und auf den insofern erforderlichen genügenden Anlass (vgl. § 174 Abs. 1 StPO) abgestellt hat, obwohl der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ausdrücklich lediglich auf die Fortsetzung der Ermittlungen gerichtet war. Letzterem ist nach der herrschenden Meinung (bereits) stattzugeben, wenn die Staatsanwaltschaft den Sachverhalt gar nicht oder jedenfalls in zentralen Punkten nicht hinreichend aufgeklärt hat (vgl. OLG München, Beschluss vom 27. Juni 2007 - 2 Ws 494-496, 501/06 -, NJW 2007, S. 3734 <3735>; KG, Beschluss vom 11. April 2013 - 3 Ws 504/12 -, NStZ-RR 2014, S. 14 <15>; Schmitt, in: MeyerGoßner/ders., StPO, 62. Aufl. 2019, § 175 Rn. 2; Zulässigkeit eines Ermittlungserzwingungsantrags offengelassen BVerfGK 17, 1 <8>). Der Beschwerdeführer hat die fehlerhafte Anwendung des Prüfungsmaßstabs auch mit der Anhörungsrüge geltend gemacht.
Da nicht auszuschließen ist, dass das Oberlandesgericht bei Berücksichtigung des Vortrags des Beschwerdeführers und Anwendung des zutreffenden Prüfungsmaßstabs dem Antrag stattgegeben hätte, soweit er das Ermittlungsverfahren gegen Dr. M. wegen der Gewährung des Ausgangs betraf, stellt sich der Gehörsverstoß auch als entscheidungserheblich dar.
3. Einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) in seiner Ausprägung als Willkürverbot legt der Beschwerdeführer nicht hinreichend substantiiert dar (§ 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2, § 92 BVerfGG).
Die Beschlüsse des Oberlandesgerichts vom 6. März 2017 und 23. März 2017 sind in Bezug auf Dr. M. aufzuheben, soweit sie die Einstellung des Ermittlungsverfahrens wegen der Gewährung des Ausgangs für die Tochter des Beschwerdeführers am 12. November 2011 betreffen. Die Sache ist im Umfang der Aufhebung an das Oberlandesgericht Nürnberg zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG).
In Bezug auf die übrigen Beschuldigten ist die Verfassungsbeschwerde dagegen nicht zur Entscheidung anzunehmen. Im Hinblick auf den Vorwurf einer falschen Medikation genügen die angegriffenen Entscheidungen dem Anspruch auf effektive Strafverfolgung.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG die notwendigen Auslagen zur Hälfte zu erstatten (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 20. September 2018 - 2 BvR 2530/16, 2 BvR 2531/16, 2 BvR 1160/17 -, Rn. 12; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 -, Rn. 28; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Februar 2019 - 2 BvR 1457/18 -, Rn. 21).
Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 10.000,00 Euro festgesetzt (§ 37 Abs. 2 Satz 2 RVG).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 193
Bearbeiter: Holger Mann