HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 913
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 196/19, Beschluss v. 04.06.2019, HRRS 2019 Nr. 913
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Stade vom 1. Februar 2019 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freispruch im Übrigen wegen Besitzes von Betäubungsmitteln in Tateinheit mit Handeltreiben mit Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das zulässige Rechtsmittel ist unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
Der Erörterung bedarf nur Folgendes:
Rechtsfehlerfrei hat das Landgericht die Unterbringung als verhältnismäßig angesehen, obwohl „die Therapiedauer die [ausgeurteilte] Begleitstrafe voraussichtlich deutlich übersteigen“ (UA S. 11) werde.
Der in § 62 StGB für die Maßregeln der Besserung und Sicherung ausdrücklich normierte und als allgemeines Rechtsprinzip von Verfassungs wegen zu beachtende Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Oktober 1985 - 2 BvR 1150/80 und 1504/82, BVerfGE 70, 297, 311 f.) steht einer Unterbringung nicht von vornherein entgegen, wenn die voraussichtliche Unterbringungsdauer die ausgeurteilte Freiheitsstrafe - unter Umständen auch deutlich - übersteigt. Die Ablehnung einer Unterbringung allein mit der Erwägung, die Höhe der Begleitstrafe bliebe zeitlich hinter der prognostischen Unterbringungsdauer zurück, wäre vielmehr rechtsfehlerhaft (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Juni 2011 - 2 StR 158/11, juris; OLG Braunschweig, Urteil vom 19. April 2017 - 1 Ss 11/17, juris Rn. 20; OLG Celle, Beschluss vom 23. Juni 2014 - 32 Ss 83/14, NStZ-RR 2015, 24, 25; Fischer, StGB, 66. Aufl., § 64 Rn. 24a, § 67 Rn. 22; MüKoStGB/van Gemmeren, 3. Aufl., § 64 Rn. 60; Schönke/Schröder/Kinzig, StGB, 30. Aufl., § 62 Rn. 1, 6; SKStGB/Sinn, 9. Aufl., § 67 Rn. 4; SSW-StGB/Kaspar, 4. Aufl., § 64 Rn. 43).
1. Der Sinn und Zweck des Maßregelrechts sowie die Zweispurigkeit des Sanktionensystems sprechen dagegen, eine die Strafe übersteigende Unterbringungsdauer von vornherein als unverhältnismäßig anzusehen.
Der Gesetzgeber unterscheidet zwischen schuldangemessener Strafe einerseits sowie selbständigen Maßnahmen wie etwa der Unterbringung andererseits, die zur Besserung des Täters und zur Sicherung der Allgemeinheit zur Vermeidung künftiger Rechtsgutsverletzungen erforderlich sind. § 64 StGB ist somit ein Reaktionsmittel präventiver Natur, das nicht als Antwort auf eine Tat angeordnet wird, sondern aus Anlass einer solchen mit Blick auf die aus ihr hervorgehende Gefahr weiterer Straftaten des Täters, und damit konzeptionell von der individuellen Schuld des Täters unabhängig (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16. März 1994 - 2 BvL 3/90, 4/91 und 2 BvR 1537/88, 400/90, 349/91, 387/92, BVerfGE 91, 1, 31 f.; OLG Braunschweig, Urteil vom 19. April 2017 - 1 Ss 11/17, juris Rn. 20; Schönke/Schröder/Kinzig, StGB, 30. Aufl., Vor §§ 38 ff. Rn. 22; SSWStGB/Kaspar, 4. Aufl., Vor §§ 61 ff. Rn. 2 ff.). Maßgeblicher Ausgangspunkt für die Beurteilung ihrer Verhältnismäßigkeit kann deshalb nicht allein die Höhe der ausgeurteilten - gerade nach der Schuld des Täters bemessenen - Strafe sein.
2. Bereits nach dem Gesetzeswortlaut des § 62 StGB ist Bezugspunkt für die Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht allein die Bedeutung der vom Täter begangenen Taten. Neben diesen sind zudem die zu erwartenden Taten und der Grad der vom Täter ausgehenden Gefahr in den Blick zu nehmen. An anderer Stelle hat der Gesetzgeber ebenfalls keine Regelung getroffen, die eine Unterbringung für unverhältnismäßig erklären würde, sofern ihre Dauer die Höhe der Begleitstrafe deutlich übersteigt (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Juni 2011 - 2 StR 158/11, juris).
3. Dies entspräche auch nicht dem Willen des Gesetzgebers. Nach der Gesetzesbegründung zur Einfügung des § 42a Abs. 2 StGB aF (s. 1. StrRG vom 25. Juni 1969, BGBl. I S. 645, 649), der Vorgängernorm des § 62 StGB, soll das Gericht „bei der Anwendung des Absatzes 2 […] eine Gesamtwürdigung der im Gesetz bezeichneten Merkmale vornehmen“, wobei „der Umstand, daß für die Zukunft Taten von besonderer Schwere zu erwarten sind, die Anordnung der Maßregel auch dann rechtfertigen [könne], wenn die bisherigen Taten für sich betrachtet weniger gewichtig erscheinen“ (BT-Drucks. V/4094, S. 17). Hiernach soll die Schwere der Anlasstat im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung lediglich einen von mehreren zu beachtenden Gesichtspunkten darstellen, eine Unterbringung also gerade nicht von vornherein bei weniger gewichtigen Straftaten und einer sich daraus ergebenden Verurteilung zu einer die voraussichtliche Unterbringungsdauer unter Umständen deutlich unterschreitenden Freiheitsstrafe unverhältnismäßig sein (vgl. auch BGH, Urteil vom 21. April 1971 - 2 StR 82/71, BGHSt 24, 134, 135 f.; SSWStGB/Kaspar, 4. Aufl., § 64 Rn. 22).
4. Schließlich kann eine Unterbringung selbst neben einem auf Schuldunfähigkeit beruhenden Freispruch (SSWStGB/Kaspar, 4. Aufl., § 64 Rn. 25) angeordnet werden, so dass § 64 StGB auch Fälle erfasst, in denen keine Strafe vollstreckt wird. Dann aber ist eine Unterbringung erst recht nicht deshalb unverhältnismäßig, nur weil der Angeklagte zugleich zu einer lediglich relativ niedrig bemessenen Freiheitsstrafe verurteilt wird (vgl. OLG Braunschweig, Urteil vom 19. April 2017 - 1 Ss 11/17, juris Rn. 20; OLG Celle, Beschluss vom 23. Juni 2014 - 32 Ss 83/14, NStZ-RR 2015, 24, 25).
HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 913
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2019, 307; StV 2021, 252
Bearbeiter: Christian Becker