HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 727
Bearbeiter: Christoph Henckel
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 684/18, Beschluss v. 26.03.2019, HRRS 2019 Nr. 727
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Landshut vom 18. September 2018 mit den Feststellungen aufgehoben; die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen bleiben jedoch aufrechterhalten.
2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags unter Einbeziehung einer vom Landgericht Landshut verhängten Freiheitsstrafe von sieben Jahren und drei Monaten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Weiter wurde vom Landgericht die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung angeordnet.
Hiergegen richtet sich die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten. Sein Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. Der Angeklagte hatte in der Haft von einem Mitgefangenen 11 oder 12 Subutex-Tabletten gekauft, die er mit mehreren Packungen Tabak bezahlen sollte. Da der Angeklagte dazu jedoch nicht in der Lage war, kam es in der Folge durch den Mitgefangenen zu Drohungen ihm gegenüber. Um bei einer Auseinandersetzung vorbereitet zu sein, bewaffnete sich der Angeklagte mit einer Kinderbastelschere, die er in zwei Teile auseinandergebrochen hatte, so dass ihm zwei Stich- bzw. Schneidewerkzeuge zur Verfügung standen. Diese hatten jeweils eine ca. 7 cm lange Schneidefläche, welche stumpf zulief und mit einem Plastikgriff versehen war. Als es am 27. August 2016 gegen 13.18 Uhr bei einem Hofgang zu einem unvermittelten Faustschlag des Mitgefangenen kam, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, versetzte der Angeklagte diesem zwei heftige Stiche mit den Scherenhälften, was zu zwei stark blutenden Einstichwunden führte. Dem Mitgefangenen und weiteren Häftlingen gelang es, die Flucht zu ergreifen und ins Gebäudeinnere zu entkommen. In der Folge war der Angeklagte nicht bereit, den Hafthof zu verlassen und die Stichwerkzeuge abzugeben, nachdem die Bediensteten der Justizvollzugsanstalt zur Sicherung den Einschluss aller auf dem Hof befindlichen Mithäftlinge veranlasst hatten. Daher wurde die Sicherungsgruppe der Justizvollzugsanstalt informiert, die den Angeklagten entwaffnen und festsetzen sollte.
Gegen 13.45 Uhr betrat die aus insgesamt sechs Bediensteten bestehende Sicherungsgruppe den Hof der Haftanstalt. Die Mitglieder der vom Zeugen Z. angeführten Sicherungsgruppe trugen Einsatzkleidung, u.a. mit schützenden Westen und Helmen. Jedoch waren beim Zeugen Z. der Kopf- und Halsbereich weitgehend ungeschützt, da er zur besseren Beweglichkeit keinen Helm trug und der Halsbereich nur ansatzweise durch den Kragen der Einsatzkleidung bedeckt war. Der Angeklagte erkannte in der Sicherungsgruppe den Zeugen Z., von dem er meinte, dieser habe ihn einige Tage vorher bei einer Durchsuchung im Rahmen einer Sicherungsmaßnahme nicht mit dem ihm gebührenden Respekt behandelt und ihm absichtlich Schmerzen zugefügt. Daher beschloss der Angeklagte, den Zeugen herauszufordern und ihn anzugreifen. Nachdem der Zeuge Z. auf Aufforderung des Angeklagten aber nicht bereit war, sich allein einer körperlichen Auseinandersetzung mit diesem zu stellen, rannte und sprang der Angeklagte mehrfach im Hof der Haftanstalt umher, um der Formation der Sicherungsgruppe auszuweichen, die ihn festsetzen wollte.
Als sich der Zeuge Z. mehrmals aus der Sicherungsgruppe löste, sah der Angeklagte seine Chance gekommen, diesen massiv zu verletzen. Als sich der Zeuge in der Nähe des Zauns befand und auf den Angeklagten zubewegte, zielte dieser mit der rechten Hand, in der er einen Teil der Bastelschere hielt, mit einer schwunghaften Drehbewegung auf den Hals des Zeugen Z. Dieser erkannte jedoch rechtzeitig die Absicht des Angeklagten und konnte dem Stichwerkzeug durch eine Seitenbewegung ausweichen. Kurz darauf näherte sich der Zeuge Z. erneut dem Angeklagten. Dieser nahm Anlauf und sprang auf den Zeugen zu, wobei er mit der rechten Hand, in welcher sich die Scherenhälfte befand, mit einem abwärts gerichteten Stoß den Zeugen Z. im Halsbereich treffen wollte. Dieser Stich verfehlte den Zeugen nur deswegen, da dieser zurückwich und den Stich mit seinem Schlagstock blockieren konnte. In beiden Fällen rechnete der Angeklagte damit, dass er den Zeugen mit seinem Stichwerkzeug im Halsbereich tödlich treffen könnte, und nahm dies billigend in Kauf. Nachdem dem Angeklagten bewusst geworden war, dass er mit seinen Möglichkeiten den Zeugen Z. im Hof der Justizvollzugsanstalt nicht mehr erfolgreich angreifen konnte, und er zudem auf Grund der stattgefundenen Auseinandersetzung so sehr erschöpft war, dass er sich nicht mehr im Stande sah, auf den Zeugen Z. erneut einzustechen, kniete er etwa 40 Sekunden nach dem letzten Angriff auf dem Asphalt des Hofes nieder, legte seine Scherenhälften auf den Boden und hob die Hände, um seine Aufgabe zu signalisieren. Er konnte daraufhin von den Bediensteten widerstandslos festgenommen werden.
2. Das sachverständig beratene Landgericht ist im Rahmen der Prüfung der Schuldfähigkeit des Angeklagten zu dem Ergebnis gekommen, dass dieser psychopathologische Auffälligkeiten in Form einer labilen Affektivität, einer mangelnden Fähigkeit zum Bedürfnisaufschub und Defizite bei der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen aufweise, so dass letztlich von einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung ausgegangen werden müsse. Insoweit liege zwar das Eingangsmerkmal einer schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne des § 20 StGB vor. Dies führe jedoch nicht zu einer erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit des Angeklagten.
Die Revision hat in Bezug auf die erhobene Sachrüge teilweise Erfolg. Die Schuldfähigkeitsprüfung des Landgerichts begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
1. Die Ausführungen des Landgerichts, mit denen es die Annahme einer vollen Schuldfähigkeit des Angeklagten begründet hat, sind nicht frei von Rechtsfehlern.
a) Die Entscheidung, ob die Schuldfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe ausgeschlossen oder im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, erfolgt prinzipiell mehrstufig (BGH, Beschluss vom 11. April 2018 - 4 StR 446/17, StV 2019, 232; Urteil vom 1. Juli 2015 - 2 StR 137/15, NJW 2015, 3319, 3320; Beschlüsse vom 12. März 2013 - 4 StR 42/13, NStZ 2013, 519, 520 und vom 14. Juli 2016 - 1 StR 285/16 Rn. 7). Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen. Durch die festgestellten psychopathologischen Verhaltensmuster muss die psychische Funktionsfähigkeit des Täters bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein. Hierzu ist das Gericht jeweils für die Tatsachenbewertung auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen. Gleichwohl handelt es sich bei der Frage des Vorliegens eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB bei gesichertem Vorliegen eines psychiatrischen Befunds wie bei der Prüfung der aufgehobenen oder erheblich eingeschränkten Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit um Rechtsfragen. Deren Beurteilung erfordert konkretisierende und widerspruchsfreie Darlegungen dazu, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. Dezember 2012 - 4 StR 417/12, NStZ-RR 2013, 145, 146 und vom 28. Januar 2016 - 3 StR 521/15, NStZ-RR 2016, 135).
b) Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe im vorliegenden Fall nur teilweise gerecht.
aa) Zutreffend geht das Landgericht von einer solchen mehrstufigen Prüfung der Schuldfähigkeit des Angeklagten aus und kommt zunächst nachvollziehbar zum Ergebnis, dass das vom Sachverständigen dargestellte Gesamtbild des Zustandes des Angeklagten mit seinen Verhaltensauffälligkeiten zu einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ führt, die als schwere andere seelische Abartigkeit im Sinne des § 20 StGB einzustufen ist (UA S. 61). Dabei berücksichtigt das Landgericht auch zahlreiche Vorfälle, welche der Sachverständige im Zusammenhang mit der Inhaftierung des Angeklagten schilderte. So sei der Angeklagte sehr fordernd aufgetreten, habe nach Tabletten verlangt und habe bei einer Nichterfüllung seiner Forderungen sehr ungehalten mit Bedrohungen anderer Personen und der Androhung von Selbstverletzungen reagiert. Es sei auch oftmals zu Fixierungen des Angeklagten in Haft gekommen, weil sich der Angeklagte nicht beruhigen konnte und selbst in solchen Situationen noch versucht habe, sich zu verletzen, indem er irgendwelche Gegenstände verschluckt habe. Weiter habe es den Angeklagten sehr umgetrieben, dass er beruhigende Medikamente bekomme, um schlafen zu können, die er sich gegebenenfalls auch bei Mitgefangenen beschaffen musste.
Im Folgenden lehnt das Landgericht aber eine erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten deshalb ab, weil es zwischen der grundsätzlich bestehenden Erkrankung des Angeklagten mit deren dargestellten Ausprägungen und der Tat keinen symptomatischen Zusammenhang sieht (UA S. 65). Dies wird vor allem damit begründet, dass der Angriff des Angeklagten auf den Zeugen Z. auf seiner freien Entscheidung beruhte und ein planvolles und rationales Vorgehen darstellte. Weiter habe sich der Angeklagte auch freiwillig ergeben und damit ein ganz anderes Verhalten gezeigt als bei den Fällen, bei welchen er im Strafvollzug in Erregungszustände geriet. Auch wenn sich der Angeklagte eigentlich einem aussichtslosen Kampf aussetzte, da er der Sicherungsgruppe deutlich unterlegen war, sei ausnahmsweise von keiner erheblichen Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten auszugehen (UA S. 68).
bb) Dies begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
Indem das Landgericht eine Störung angenommen hat, deren Schweregrad ausreichend ist, um sie unter das Eingangsmerkmal schwere andere seelische Abartigkeit des § 20 StGB zu fassen, musste es davon ausgehen, dass die Störung Symptome aufweist, die in ihrer Gesamtheit das Leben des Angeklagten vergleichbar schwer und mit ähnlichen Folgen stören, belasten oder einengen wie krankhafte seelische Störungen (vgl. hierzu nur BGH, Beschlüsse vom 23. Februar 2017 - 1 StR 362/16 Rn. 34 und vom 27. Januar 2017 - 1 StR 532/16 Rn. 16 mwN). Wird aber eine schwere andere seelische Abartigkeit als Eingangsmerkmal im Sinne von § 20 StGB bejaht, so liegt wegen der damit festgestellten Schwere der Abartigkeit auch eine erhebliche Beeinträchtigung des Steuerungsvermögens nahe (vgl. BGH, Urteile vom 25. März 2015 - 2 StR 409/14, BGHR StGB § 21 Seelische Abartigkeit 43 und vom 6. Mai 1997 - 1 StR 17/97, BGHR StGB § 21 Seelische Abartigkeit 31 sowie Beschluss vom 16. Mai 1991 - 4 StR 204/91, BGHR StGB § 21 Seelische Abartigkeit 20). Dies gilt hier umso mehr, als gerade aus dem Vorverhalten des Angeklagten im Vollzug und unmittelbar vor der verfahrensgegenständlichen Tat mit den Stichen gegenüber dem Mitgefangenen die erheblichen emotionalen Regulationsschwierigkeiten deutlich geworden sind, die es im Ergebnis nicht nachvollziehbar erscheinen lassen, weshalb sich der Angeklagte beim festgestellten Sachverhalt einem eigentlich aussichtslosen Kampf aussetzten sollte. Angesichts dessen, dass die Einschränkungen durch die emotional instabile Persönlichkeitsstörung schwer genug sein müssen, um zur Anwendung eines Eingangsmerkmals im Sinne der §§ 20, 21 StGB zu führen, hat die Erwägung des Landgerichts, der Angeklagte sei planvoll und rational vorgegangen, nur geringe Aussagekraft und begründet ein unaufgelöstes Spannungsverhältnis mit den übrigen Urteilsfeststellungen.
2. Da der Senat auf Grund der bisherigen Feststellungen zur Schuldfähigkeit des Angeklagten nicht ausschließen kann, dass sich im Rahmen der neuen Verhandlung Erkenntnisse ergeben könnten, die sich auf den Schuldspruch auswirken, kann auch dieser keinen Bestand haben, auch um dem neuen Tatgericht insoweit insgesamt widerspruchsfreie neue Feststellungen zu ermöglichen. Die Sache bedarf insoweit - naheliegender Weise unter Heranziehung eines weiteren Sachverständigen - neuer Verhandlung und Entscheidung.
3. Die Feststellungen des Landgerichts zum objektiven Tatgeschehen werden durch den aufgezeigten Rechtsfehler aber nicht berührt. Sie können daher bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Ergänzende Feststellungen kann das neue Tatgericht treffen, soweit sie zu den bisherigen nicht in Widerspruch stehen.
HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 727
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2019, 238; StV 2021, 84
Bearbeiter: Christoph Henckel