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HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 694

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 135/19, Beschluss v. 07.05.2019, HRRS 2019 Nr. 694


BGH 4 StR 135/19 - Beschluss vom 7. Mai 2019 (LG Arnsberg)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Gefährlichkeitsprognose).

§ 63 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Eine Unterbringung nach § 63 StGB kommt nur in Betracht, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades dafür besteht, dass von dem Täter infolge seines fortdauernden Zustands erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.

2. Die notwendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwickeln und hat sich darauf zu erstrecken, ob und welche rechtswidrigen Taten von dem Täter infolge seines Zustandes drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (Häufigkeit, Rückfallfrequenz) und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt. Der Umstand, dass ein Täter trotz bestehender Grunderkrankung in der Vergangenheit über einen längeren Zeitraum nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten ist, kann dabei ein gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger gefährlicher Straftaten sein und ist deshalb regelmäßig zu erörtern.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil des Landgerichts Arnsberg vom 10. Dezember 2018 mit den Feststellungen aufgehoben. Die objektiven Feststellungen zur Anlasstat bleiben bestehen.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Seine hiergegen gerichtete Revision hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg.

I.

Das sachverständig beratene Landgericht hat die folgenden Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Der zuletzt am 1. März 2005 wegen einer am 24. September 2004 begangenen schweren räuberischen Erpressung verurteilte Beschuldigte leidet an einer bereits langjährig bestehenden und chronifizierten paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie sowie einem polyvalenten Suchtmittelmissbrauch. Am 16. Januar 2018 klingelte er an der Wohnungstür seiner Eltern. Als sein Vater öffnete, drückte er die Tür auf. In diesem Moment erlosch das Licht im Treppenhaus. Der Beschuldigte sah sich einer Person gegenüber und fühlte sich durch diese ohne konkreten Anlass bedroht. Er fasste den Entschluss, diese Person zu töten. In der Folge ergriff er mit einer Hand den Hals seines durch eine Krebserkrankung geschwächten Vaters, würgte ihn und drückte ihn gegen eine Wand. Als er von seiner hinzutretenden Mutter angeschrien wurde, löste er seinen Griff und ließ von dem Geschädigten ab. Dieser trug eine sichtbare Rötung am Hals davon, die sich bald zurückbildete. Es ist nicht auszuschließen, dass der Beschuldigte verkannt hat, dass es sich bei dem Geschädigten um seinen Vater handelte.

2. Die Voraussetzungen des § 63 StGB lägen vor. Der Beschuldigte sei zwar von dem Versuch des Totschlags zurückgetreten, habe aber eine gefährliche Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB begangen. Dabei handele es sich um eine erhebliche rechtswidrige Tat. Bei ihrer Begehung sei er aufgrund einer krankheitsbedingten floriden psychotischen Wahrnehmung nicht in der Lage gewesen, das Unrecht seines Tuns einzusehen. Auch seien von ihm infolge seines Zustands weitere erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten, weil es vom Zufall abhänge, wen er situativ in sein Wahnsystem einbeziehe, Frustrationstoleranz bei ihm kaum vorhanden und er nicht in der Lage sei, Bedürfnisse zurückzustellen.

II.

Die Unterbringungsentscheidung nach § 63 StGB kann nicht bestehen bleiben, weil die Gefahrenprognose nicht tragfähig begründet ist.

1. Eine Unterbringung nach § 63 StGB kommt nur in Betracht, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades dafür besteht, dass von dem Täter infolge seines fortdauernden Zustands erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Die notwendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwickeln und hat sich darauf zu erstrecken, ob und welche rechtswidrigen Taten von dem Täter infolge seines Zustandes drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (Häufigkeit, Rückfallfrequenz) und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 5. Juli 2013 - 2 BvR 2957/12, Rn. 27; BGH, Beschluss vom 7. Juni 2016 - 4 StR 79/16, NStZ-RR 2016, 306 mwN). Der Umstand, dass ein Täter trotz bestehender Grunderkrankung in der Vergangenheit über einen längeren Zeitraum nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten ist, kann dabei ein gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger gefährlicher Straftaten sein und ist deshalb regelmäßig zu erörtern (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 27. Februar 2019 - 4 StR 419/18, Rn. 13; Beschluss vom 4. Juli 2012 - 4 StR 224/12, NStZ-RR 2012, 337, 338; Beschluss vom 11. März 2009 - 2 StR 42/09, NStZ-RR 2009, 198, 199; Urteil vom 17. November 1999 - 2 StR 453/99, BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 27).

2. Daran gemessen erweisen sich die Erwägungen, mit denen das Landgericht seine Gefahrenprognose begründet hat, als lückenhaft. Denn die Strafkammer hätte sich dabei auch mit der Frage auseinandersetzen müssen, welche Bedeutung dem Umstand zukommt, dass der Beschuldigte vor der Anlasstat letztmals am 24. September 2004 strafrechtlich in Erscheinung getreten ist. Nach den Urteilsgründen besteht seine Psychose „bereits langjährig“ und ist „chronifiziert“ (UA 17). Dies spricht - obgleich der Beginn der Erkrankung nicht eindeutig festgestellt ist - dafür, dass es in der Vergangenheit bereits eine längere Phase gab, in der der Beschuldigte trotz bestehenden Defekts straffrei blieb. Der Umstand, dass er von der zuständigen Strafvollstreckungskammer bereits im Januar 2006 aus dem Vollzug der wegen der Tat vom 24. September 2004 angeordneten Maßregel nach § 64 StGB in den Vollzug der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus überwiesen wurde (vgl. § 67a Abs. 1 StGB aF), legt nahe, dass er schon zu diesem Zeitpunkt in einem Zustand war, in dem sich der Maßregelvollzug nach § 63 StGB als die besser geeignete Behandlungsart darstellte.

III.

Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zum äußeren Geschehen bei der Anlasstat können bestehen bleiben. Der neue Tatrichter wird sich allerdings genauer als bisher zu der Frage zu verhalten haben, ob die Voraussetzungen des § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB erfüllt sind (vgl. zu Angriffen gegen den Hals BGH, Urteil vom 8. Dezember 2016 - 1 StR 344/16, Rn. 12; Beschluss vom 11. März 2014 - 5 StR 20/14, Rn. 3; Urteil vom 12. März 2013 - 4 StR 42/13, NStZ-RR 2013, 519, 520, Rn. 4; Urteil vom 20. März 2012 - 1 StR 648/11, NStZ-RR 2012, 215 f.; weitere Nachweise bei MünchKomm-StGB/Hardtung, 3. Aufl., § 224 Rn. 46). Dazu kann er ergänzende Feststellungen treffen, sofern diese nicht mit den aufrecht erhaltenen Feststellungen in Widerspruch stehen.

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 694

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner