HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 69
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 37/18, Urteil v. 18.10.2018, HRRS 2019 Nr. 69
Auf die Revisionen der Nebenkläger wird das Urteil des Landgerichts Verden vom 15. Juni 2017 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten dieser Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Die Revision des Angeklagten wird verworfen.
Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels und die den Nebenklägern hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren und sechs Monaten verurteilt und seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Dagegen richten sich die jeweils auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revisionen der Nebenkläger P. T. und B. T., die geltend machen, dass das Landgericht den Angeklagten zu Unrecht nicht wegen Mordes verurteilt habe. Der Angeklagte wendet sich mit der allgemeinen Sachrüge gegen seine Verurteilung. Die Revisionen der Nebenkläger führen zur Aufhebung des Urteils; das Rechtsmittel des Angeklagten hat keinen Erfolg.
1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:
Der Angeklagte befand sich seit Januar 2013 aufgrund einer früheren Verurteilung, mit der auch seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet worden waren, im Maßregelvollzug in Rehburg-Loccum.
Am 12. September 2015 hatte er unbegleiteten Tagesausgang und traf spätestens gegen 15:00 Uhr an einem Waldstück südlich des Loccumer Klosters auf die später getötete J. T. Ob die beiden sich bereits kannten und verabredet hatten oder ob sie einander zufällig begegneten, hat das Landgericht nicht feststellen können. Es ist jedenfalls zugunsten des Angeklagten davon ausgegangen, dass das Opfer ihm freiwillig zu einem im Wald gelegenen Platz folgte, der sich etwa 120 Meter abseits des befestigten Wegs befindet. Dort kam es zum Austausch sexueller Handlungen, wobei das Landgericht wiederum zugunsten des Angeklagten angenommen hat, dass dies freiwillig geschah. Während des Zusammentreffens entschloss sich der Angeklagte, J. T. durch Erwürgen zu töten. Zugunsten des Angeklagten hat die Strafkammer unterstellt, dass er sich hierzu spontan entschloss; ein Motiv hat sie nicht festzustellen vermocht. Der Angeklagte würgte das Opfer so heftig und lange, dass es einen Zungenbiss erlitt und infolge des Angriffs gegen ihren Hals erstickte. Im Rahmen seiner Gegenwehr fügte es dem Angeklagten Kratzer an der linken Wange zu.
Nachdem der Angeklagte Frau T. getötet hatte, trug er ihren mit Ausnahme einer Socke am linken Fuß unbekleideten Leichnam ca. 30 Meter weiter in den Wald hinein und bedeckte ihn mit Stöcken und Ästen. Sodann entfernte er am Tatort die Spuren, übersah dabei jedoch zum einen die Brille des Opfers sowie zum anderen ein Kaugummipapier mit DNA-Anhaftungen, die mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu 14,5 Quadrillionen von ihm stammen. Anschließend fuhr er mit seinem Fahrrad zum Maßregelvollzugszentrum zurück.
2. Das Landgericht hat die Tat als Totschlag (§ 212 StGB) gewertet. Von der Verwirklichung eines Mordmerkmals gemäß § 211 Abs. 2 StGB hat es sich nicht zu überzeugen vermocht.
Hinsichtlich des Merkmals der Verdeckungsabsicht hat die Strafkammer im Rahmen der Beweiswürdigung ausgeführt, dass eine Straftat, die hätte verdeckt werden sollen, nicht festzustellen gewesen sei. Zwar sei es „durchaus vorstellbar, dass der Angeklagte eine sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung zum Nachteil der J. T. begangen hat und nach dieser Tat befürchtete, J. T. werde ihn anzeigen“ (UA S. 59 f.); ebenfalls sei denkbar, „dass sich der Angeklagte aus Angst vor einer Strafverfolgung entschloss, J. T. zu töten“ (UA S. 60). Jedoch handle es sich bei dieser Annahme nur um ein mögliches, nicht aber um ein sicher feststehendes Geschehen (UA S. 60). Letztlich erscheine es auch möglich, „ohne dass dies… positiv festzustellen oder zu Gunsten des Angeklagten anzunehmen“ sei, dass der Angeklagte und Frau T. aus einem nicht bekannten Grund in Streit geraten seien und er sich deshalb entschlossen habe, sie zu töten (UA S. 61).
Die Revisionen der Nebenkläger, die die unterbliebene Verurteilung des Angeklagten wegen Mordes gemäß § 211 StGB beanstanden, haben Erfolg.
Die Begründung, mit der das Landgericht die Annahme des Mordmerkmals der Verdeckungsabsicht abgelehnt hat, begegnet - auch unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 31. Mai 2016 - 3 StR 86/16, juris Rn. 11; Urteil vom 2. Februar 2017 - 4 StR 423/16, juris Rn. 8) - durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Die Beweiswürdigung des Landgerichts erweist sich als lückenhaft, denn die Strafkammer hat nicht sämtliche Umstände, die dazu geeignet waren, die Entscheidung zu beeinflussen, in ihre Überlegungen einbezogen und einer umfassenden Gesamtwürdigung zugeführt (vgl. BGH, Urteil vom 2. Februar 2017 - 4 StR 423/16, juris Rn. 8). Sie hat es insbesondere verabsäumt, das strafrechtlich relevante Vorleben des Angeklagten in den Blick zu nehmen (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 27. September 2017 - 2 StR 146/17, NStZ-RR 2017, 383).
Den Feststellungen des Landgerichts zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten ist zu entnehmen, dass dieser in der Vergangenheit wiederholt wegen Sexualdelikten verurteilt worden ist, bei denen er Zufallsopfer auswählte und diese zur Durchsetzung seiner sexuellen Interessen gewaltsam am Hals würgte. So griff er in einem Fall in einem Waldstück die ihm nicht bekannte Geschädigte von hinten an, indem er ihr einen Arm um den Hals legte und so fest zudrückte, dass diese für kurze Zeit das Bewusstsein verlor. Sodann schleppte er sie einige Meter hinter einen Baum und versuchte, sexuelle Handlungen an ihr zu vollziehen, wobei er ihr mehrfach damit drohte, ihr die Kehle durchzuschneiden und sie umzubringen. In einem anderen Fall näherte sich der Angeklagte auf der Straße einer ihm fremden Geschädigten, umfasste mit einem Arm von hinten ihren Hals, drückte ihr mit der anderen Hand den Mund zu und nahm anschließend unter fortwährender Gewalteinwirkung sexuelle Handlungen an ihr vor. Und schließlich riss der Angeklagte in einem weiteren Fall eine ihm nicht bekannte Geschädigte auf einem Parkplatz von ihrem Auto weg, indem er einen Arm von hinten um ihren Hals legte und so fest zudrückte, dass sie keine Luft mehr bekam. Als die Geschädigte seiner Aufforderung, das Auto zu öffnen, nicht nachkam, drückte er fester zu. Im Fahrzeug umgriff er sodann mit seinen Händen ihren Hals und äußerte, dass sie tun solle, was er von ihr verlange, wenn sie nicht sterben wolle. Weil die Geschädigte sich weiter weigerte, drückte der Angeklagte ihr wieder mit der Hand den Hals, so dass sie keine Luft mehr bekam. Zudem sagte er zu ihr: „Entweder Du lässt locker, oder Du bist weg!".
In Anbetracht der erkennbaren Parallelen zwischen dem äußeren Erscheinungsbild des hier verfahrensgegenständlichen Geschehens und der in den aufgeführten Vortaten wiederholt zu Tage getretenen gleichartigen Vorgehensweise des Angeklagten hätte es sich aufgedrängt, das strafrechtliche Vorleben des Angeklagten im Rahmen der gebotenen Gesamtwürdigung der Beweise und Indizien zu erörtern (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 27. September 2017 - 2 StR 146/17, NStZ-RR 2017, 383). Dies gilt insbesondere mit Blick auf diejenigen Sachverhaltsteile, zu denen die Strafkammer keine Feststellungen zu treffen vermocht hat und stattdessen von der jeweils für den Angeklagten günstigsten Möglichkeit ausgegangen ist. Denn hinsichtlich dieser Aspekte war die Erkenntnisgrundlage ohne Berücksichtigung der Vorstrafentaten nicht vollständig ausgeschöpft. So hätte es etwa nahe gelegen, das bei diesen Taten gezeigte Verhalten des Angeklagten bei der Beurteilung der Fragen, ob der Angeklagte und die Geschädigte einander zufällig begegneten und die Geschädigte freiwillig sexuell mit dem Angeklagten verkehrte, zu erörtern und in die Gesamtwürdigung einzustellen.
In diesem Zusammenhang ist erneut darauf hinzuweisen, dass es nach der stetigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs weder aufgrund des Zweifelssatzes noch sonst geboten ist, zu Gunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (vgl. hierzu BGH, Urteile vom 10. Mai 2017 - 2 StR 258/16, juris Rn. 17; vom 19. Oktober 2017 - 3 StR 158/17, juris Rn. 24 mwN).
Vor diesem Hintergrund hätte sich die Strafkammer auch hinsichtlich eines möglichen Motivs für die Tötung die Frage stellen müssen, welchen Grund der Angeklagte gehabt haben sollte, die Geschädigte unmittelbar nach einem einvernehmlichen sexuellen Kontakt zu töten. Für die vom Landgericht hierzu angeführte Überlegung, dass der Angeklagte und die Geschädigte aus einem unbekannten Grund in Streit geraten sein könnten, und der Angeklagte sich deshalb dazu entschlossen haben könnte, die Geschädigte zu töten, lassen sich den Urteilsgründen keine Anhaltspunkte entnehmen.
Die Revision des Angeklagten ist unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. Die sachlich-rechtliche Nachprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler zu seinem Nachteil aufgedeckt. Das Landgericht hat sich mit einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung von der Täterschaft des Angeklagten überzeugt. Auch die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Dem steht nicht entgegen, dass bereits das Landgericht Aurich mit Urteil vom 19. November 2012 diese Maßregel gegen den Angeklagten verhängt hat (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 31. August 1995 - 4 StR 292/95, BGHR StGB § 66 Vollzug 1; LK/Rissing-van Saan/Peglau, StGB, 12. Aufl., § 66 Rn. 225). Die Voraussetzungen für die (zweite) Anordnung der Sicherungsverwahrung sind erfüllt. Es handelt sich um einen Fall der obligatorischen Anordnung nach § 66 Abs. 1 StGB. Dabei hat das Landgericht auch dem für den Ausspruch einer zweiten Sicherungsverwahrung in besonderem Maße geltenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hinreichend Rechnung getragen, indem es die Regelung des § 67d StGB in den Blick genommen hat (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 17. September 1998 - 5 StR 404/98, juris Rn. 3 f.).
HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 69
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2019, 57; StV 2020, 97
Bearbeiter: Christian Becker