HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 43
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner
Zitiervorschlag: BGH, 2 ARs 182/18, Beschluss v. 26.09.2018, HRRS 2019 Nr. 43
Für die nachträglichen Entscheidungen, die sich auf die Strafaussetzung zur Bewährung aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts Tübingen vom 14. Oktober 2015 beziehen, ist das Amtsgericht Tübingen zuständig.
Mit Urteil des Amtsgerichts Calw vom 28. Juni 2012 war der Verurteilte wegen versuchter räuberischer Erpressung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt worden; die Vollstreckung der Freiheitsstrafe war zur Bewährung ausgesetzt und die Bewährungsaufsicht durch Beschluss des Amtsgerichts Calw vom 29. August 2012 dem Amtsgericht Tübingen als Wohnsitzgericht übertragen worden. Die Bewährungszeit wurde mehrfach verlängert und die Strafe schließlich am 8. September 2017 erlassen.
Das Amtsgericht Tübingen verhängte mit Strafbefehl vom 14. Oktober 2015, rechtskräftig seit dem 10. November 2015, gegen den Verurteilten wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in sechs Fällen eine Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten, deren Vollstreckung es für die Dauer von drei Jahren zur Bewährung aussetzte. Mit Beschluss vom 9. Januar 2017 verlängerte das Amtsgericht Tübingen die Bewährungszeit um ein Jahr bis zum 9. November 2019.
Mit seit diesem Tag rechtskräftigem Urteil vom 20. Oktober 2016 verhängte das Amtsgericht Tübingen gegen den Verurteilten wegen gefährlicher Körperverletzung und Sachbeschädigung eine weitere Gesamtfreiheitsstrafe von elf Monaten, deren Vollstreckung ebenfalls zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die Bewährungszeit wurde mit Beschluss vom selben Tag auf drei Jahre festgesetzt.
Nachdem der Verteidiger des Verurteilten Ende Januar 2017 mitgeteilt hatte, dass der Verurteilte von M. nach B. verzogen sei, gab das Amtsgericht Tübingen mit Beschluss vom 3. Februar 2017 die nachträglichen Entscheidungen, die sich auf die Strafaussetzung zur Bewährung aus dem Strafbefehl vom 14. Oktober 2015 beziehen, an das Amtsgericht Pforzheim ab.
Mit Verfügung vom 5. Mai 2017 bat das Amtsgericht Pforzheim das Amtsgericht Tübingen um Rückübernahme unter Verweis auf die Verurteilungen zu höheren Freiheitsstrafen durch die Amtsgerichte Calw (Urteil vom 28. Juni 2012) und Tübingen (Urteil vom 20. Oktober 2016). Das Amtsgericht Tübingen übernahm die Bewährungsüberwachung mit Beschluss vom 22. Mai 2017 zurück und übertrug sie zugleich dem Amtsgericht Calw, das die Übernahme jedoch unter Hinweis auf den fehlenden Wohnsitz des Verurteilten in seinem Bezirk und den Beschluss vom 29. August 2012 ablehnte.
Mit Beschluss vom 27. Juli 2017 übertrug das Amtsgericht Tübingen die nachträglichen Entscheidungen, die sich auf die Strafaussetzung zur Bewährung aus dem Strafbefehl vom 14. Oktober 2015 beziehen, erneut auf das Amtsgericht Pforzheim mit der Begründung, die Überwachung der Bewährung aus dem Urteil vom 20. Oktober 2016 sei inzwischen ebenfalls an das Amtsgericht Pforzheim abgegeben worden. Im Hinblick auf das Urteil des Amtsgerichts Calw vom 28. Juni 2012 sei die Bewährungszeit inzwischen abgelaufen und der Straferlass eingeleitet worden. Das Amtsgericht Pforzheim übernahm mit Beschluss vom 23. Oktober 2017 erneut die Bewährungsüberwachung.
Mit Verfügung vom 5. Januar 2018 übersandte das Amtsgericht Pforzheim das Bewährungsheft an das Amtsgericht Tübingen „mit der Bitte um Stellungnahme bzgl. Rückübernahme […] unter Hinweis auf die Zuständigkeitskonzentration gem. § 462a StPO“. Das Amtsgericht Tübingen lehnte die Rückübernahme mit Verfügung vom 26. März 2018 ab. Der Verurteilte habe seinen Wohnsitz in Pforzheim. Die Überwachung der Bewährung aus dem Urteil vom 20. Oktober 2016 sei zwar am 30. August 2017 an das Amtsgericht Tübingen zurückgegeben worden; die Begründung, der Verurteilte sei nicht mehr im Bezirk des Amtsgerichts Pforzheim wohnhaft, habe sich aber als unzutreffend herausgestellt. Es sei deshalb damit zu rechnen, dass dieses Verfahren demnächst ebenfalls wieder an das Amtsgericht Pforzheim abgegeben werde.
Das Amtsgericht Pforzheim hat die Sache mit Verfügung vom 12. Juni 2018 dem Bundesgerichtshof zur Bestimmung des zuständigen Gerichtes vorgelegt. Es ist der Auffassung, nur das Amtsgericht Calw sei befugt, die Bewährungsüberwachung an das jeweilige Wohnsitzgericht abzugeben, da dieses die höchste Strafe verhängt habe.
1. Der Bundesgerichtshof ist entsprechend § 14 StPO als gemeinschaftliches oberes Gericht der Amtsgerichte Pforzheim (Bezirk des Oberlandesgerichts Karlsruhe) und Tübingen (Bezirk des Oberlandesgerichts Stuttgart) zuständig.
2. Für die nachträglichen Entscheidungen, die sich auf die Strafaussetzung zur Bewährung aus dem Strafbefehl vom 14. Oktober 2015 beziehen, ist nach §§ 453, 462a Abs. 4 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 2 StPO das Amtsgericht Tübingen zuständig.
a) Aufgrund des Konzentrationsprinzips wäre das Amtsgericht Calw zwar als „Stammgericht“ auch für die Bewährungsaufsicht für die vom Amtsgericht Tübingen bewilligten Strafaussetzungen zuständig gewesen, weil das Amtsgericht Calw die höchste Strafe verhängt hatte (§ 462a Abs. 4 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 2 StPO). Das Amtsgericht Calw hatte aber mit Beschluss vom 29. August 2012 für die in seinem Verfahren bewilligte Strafaussetzung die Bewährungsaufsicht an das Amtsgericht Tübingen als (damaliges) Wohnsitzgericht des Verurteilten wirksam übertragen (§ 462a Abs. 2 Satz 2 StPO). Dies hatte zur Folge, dass dem Amtsgericht Tübingen auch die Bewährungsaufsicht und die nachträglichen Entscheidungen oblagen, die sich auf die Strafaussetzungen bezogen, die für die Strafen des Amtsgerichts Tübingen bewilligt worden waren. Zur Weiterübertragung wäre das Amtsgericht Tübingen nicht befugt gewesen, da die Abgabe durch das Amtsgericht Calw bindend ist (§ 462a Abs. 2 Satz 2, 2. Halbsatz StPO); es hätte lediglich beim Amtsgericht Calw anregen können, die Sache zurückzunehmen und sie dann an ein anderes Amtsgericht abzugeben (vgl. Senat, Beschluss vom 27. November 1996 - 2 ARs 409/96, BGH bei Kusch NStZ 1997, 376, 379).
b) Die vor dem 8. September 2017 vom Amtsgericht Tübingen vorgenommenen Abgaben an das Amtsgericht Pforzheim entfalteten demnach mangels Kompetenz keine Bindungswirkung. Erst mit dem am 8. September 2017 wirksam gewordenen Erlass der Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Calw wäre das Amtsgericht Tübingen nunmehr als Gericht des ersten Rechtszuges grundsätzlich zuständig und befugt gewesen, die Bewährungsüberwachungen nach § 462a Abs. 2 Satz 2 StPO an das Wohnsitzgericht abzugeben (vgl. auch Senat, Beschluss vom 4. Januar 1999 - 2 ARs 516/98, NStZ 1999, 215; Beschluss vom 30. November 2005 - 2 ARs 443/05, NStZ-RR 2006, 115).
Allerdings setzt allein die Möglichkeit, die aufgrund des Strafbefehls vom 14. Oktober 2015 nach § 453 StPO zu treffenden nachträglichen Entscheidungen gemäß § 462a Abs. 2 StPO bindend an das Wohnsitzgericht abzugeben, die Zuständigkeitskonzentration des § 462a Abs. 4 StPO nicht außer Kraft. Ziel dieser gesetzlichen Regelung ist es, zur Vermeidung von divergierenden Entscheidungen die Zuständigkeit frühzeitig und dauerhaft bei einem Gericht zu konzentrieren (vgl. Senat, Beschluss vom 8. Juni 1998 - 2 ARs 188/98, NStZ 1998, 586). § 462a Abs. 4 StPO ist dabei auch - wie hier - auf den Fall mehrerer selbstständiger Verurteilungen durch dasselbe Gericht anzuwenden (vgl. Senat, Beschluss vom 4. Februar 1976 - 2 ARs 22/76, BGHSt 26, 276, 277; Löwe/Rosenberg/Graalmann-Scheerer, StPO, 26. Aufl., § 462a Rn. 80 mwN).
Da die Überwachung der Bewährung aus dem Urteil des Amtsgerichts Tübingen vom 20. Oktober 2016 nicht mit bindender Wirkung an das Amtsgericht Pforzheim abgegeben worden ist und jedenfalls seit dem 30. August 2017 wieder vom Amtsgericht Tübingen wahrgenommen wird, führte die vom Amtsgericht Tübingen hier vorgenommene (isolierte) Übertragung der Bewährungsüberwachung in der vorliegenden Sache auf das Wohnsitzgericht zu einer dem Ziel des § 462a Abs. 4 StPO zuwiderlaufenden Gefahr der Entscheidungszersplitterung.
Die Prüfung und Entscheidung, ob die nachträglichen Entscheidungen, die sich auf alle durch das Amtsgericht Tübingen gegenüber dem Verurteilten ausgesprochenen Strafaussetzungen zur Bewährung beziehen, nunmehr an das Amtsgericht Pforzheim abgegeben werden sollen, obliegt dem Amtsgericht Tübingen (§ 462a Abs. 2 Satz 2 StPO).
HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 43
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner