HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 1207
Bearbeiter: Holger Mann
Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 1832/19, Beschluss v. 25.10.2019, HRRS 2019 Nr. 1207
Die Übergabe des Beschwerdeführers an die türkischen Behörden wird bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, einstweilen untersagt.
Die Generalstaatsanwaltschaft Hamm wird mit der Durchführung der einstweiligen Anordnung beauftragt.
Die mit einem Eilantrag verbundene Verfassungsbeschwerde betrifft die Auslieferung des Beschwerdeführers, eines türkischen Staatsangehörigen kurdischer Volkszugehörigkeit, zur Strafverfolgung in die Türkei. Der Beschwerdeführer rügt unter anderem, das Oberlandesgericht habe in der Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung die Gefahr, dass er politischer Verfolgung und unmenschlichen Haftbedingungen ausgesetzt sein werde, trotz seines umfangreichen Vortrags zu systemischen Defiziten in der türkischen Justiz und dem Strafvollzug und der detaillierten Schilderung seiner eigenen Verfolgungshistorie in der Türkei, wegen der ein Asylverfahren in Deutschland anhängig sei, nicht hinreichend aufgeklärt. Es habe sich lediglich auf die von der Türkei abgegebenen Zusicherungen gestützt, die nicht belastbar seien. Zudem habe es verkannt, dass seine Auslieferung ihn nicht nur der Strafverfolgung bezüglich eines ihm fälschlicherweise angelasteten Tötungsdelikts aussetze. Vielmehr werde er dadurch auch einem seit mehr als zehn Jahren in der Türkei anhängigen Strafverfahren unter anderem wegen der ihm ebenfalls fälschlicherweise angelasteten „Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation“ ausgesetzt, in dem er einer von mehr als hundert Angeklagten sei und kein faires Verfahren, sondern vielmehr Misshandlungen und eine grob rechtsstaatswidrige Verurteilung zu erwarten habe.
Zur Verfahrenssicherung wird die Übergabe des Beschwerdeführers an die Türkei gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, einstweilen untersagt.
1. Gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG gegeben sind, ist wegen der weittragenden Folgen einer einstweiligen Anordnung regelmäßig ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 55, 1 <3>; 82, 310 <312>; 94, 166 <216 f.>; 104, 23 <27>; 106, 51 <58>).
Als Mittel des vorläufigen Rechtsschutzes hat die einstweilige Anordnung auch im verfassungsgerichtlichen Verfahren die Aufgabe, die Schaffung vollendeter Tatsachen zu verhindern; sie soll auf diese Weise dazu beitragen, Wirkung und Bedeutung einer erst noch zu erwartenden Entscheidung in der Hauptsache zu sichern und zu erhalten (vgl. BVerfGE 42, 103 <119>). Deshalb bleiben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht, es sei denn, die Hauptsache erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 89, 38 <44>; 103, 41 <42>; 118, 111 <122>; stRspr). Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen, so hat das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich lediglich im Rahmen einer Folgenabwägung die Nachteile abzuwägen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 105, 365 <371>; 106, 351 <355>; 108, 238 <246>; 125, 385 <393>; 132, 195 <232 f. Rn. 87>; stRspr).
2. Nach diesen Maßstäben ist eine einstweilige Anordnung zu erlassen.
a) Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Es erscheint auf der Grundlage des Vortrags des Beschwerdeführers vielmehr möglich, dass die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts, mit der die Auslieferung des Beschwerdeführers für zulässig erklärt wurde, den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzt.
b) Die daher gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG erforderliche Folgenabwägung geht zugunsten des Beschwerdeführers aus. Die Folgen, die einträten, wenn der Beschwerdeführer ausgeliefert werden würde, sich später aber herausstellte, dass die Auslieferung des Beschwerdeführers rechtswidrig war, wiegen erheblich schwerer als die Folgen, die entstünden, wenn die Auslieferung einstweilen untersagt bliebe, sich später aber herausstellte, dass sie ohne Rechtsverstoß hätte durchgeführt werden können. Denn im erstgenannten Fall wäre dem Beschwerdeführer eine Geltendmachung seiner Einwände gegen die Auslieferung nicht mehr möglich. Demgegenüber könnte der Beschwerdeführer, sollte sich die geplante Auslieferung als rechtmäßig erweisen, ohne Weiteres zu einem späteren Zeitpunkt an die türkischen Behörden übergeben werden. Sein Aufenthalt in Deutschland würde sich lediglich bis zu einem solchen späteren Termin verlängern.
3. Fragen der Auslieferungshaft bleiben von der einstweiligen Anordnung unberührt.
HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 1207
Bearbeiter: Holger Mann