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HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 869

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 646/17, Beschluss v. 19.06.2018, HRRS 2018 Nr. 869


BGH 4 StR 646/17 - Beschluss vom 19. Juni 2018 (LG Münster)

Betrug (Täuschung durch Unterlasen: Garantenpflicht aus Sozialrecht)

§ 13 Abs. 1 StGB; § 263 Abs. 1 StGB; § 60 Abs. 1 Satz 2 SGB I

Leitsatz des Bearbeiters

Es bedarf vorliegend keiner Entscheidung, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen sich aus der sozialrechtlichen Regelung des § 60 Abs. 1 Satz 2 SGB I überhaupt eine strafrechtliche Garantenpflicht ergeben kann.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Münster vom 18. Juli 2017 wird

a) der Betrugsvorwurf, soweit er sich auf Zahlungen des Landesamtes für Besoldung und Versorgung des Landes Nordrhein-Westfalen für die Monate Dezember 2007 bis einschließlich April 2009 bezieht, von der Strafverfolgung ausgenommen; die insoweit entstandenen Verfahrenskosten und notwendigen Auslagen des Angeklagten trägt die Staatskasse;

b) das vorgenannte Urteil im Ausspruch über die Einziehung des Wertes von Taterträgen dahin abgeändert, dass die Einziehung eines Betrages von 187.765,06 € angeordnet wird.

2. Im Übrigen wird die Revision als unbegründet verworfen; insoweit trägt der Beschwerdeführer die Kosten des Rechtsmittels.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Betruges unter Einbeziehung dreier Einzelstrafen aus einer früheren Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Ferner hat es die Einziehung eines Betrages in Höhe von 247.089,25 € angeordnet. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner allgemein auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel führt zu der aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Beschränkung der Strafverfolgung und damit einhergehend zu einer Änderung der Einziehungsentscheidung; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. a) Nach den Feststellungen des Landgerichts lebte der erwerbslose Angeklagte ab August 2007 mit seinem Vater, der Beamter im Ruhestand war und monatliche Ruhegehaltszahlungen sowie Witwergeld vom Landesamt für Besoldung und Versorgung des Landes Nordrhein-Westfalen (LBV) bezog, in einer gemeinsamen Wohnung in Münster. Ruhegehalt und Witwergeld wurden auf ein im Jahr 2006 eingerichtetes Konto eingezahlt, für das sowohl der Angeklagte als auch sein Vater verfügungsberechtigt waren.

Nach dem Tod seines Vaters am 4. November 2007 entschied sich der Angeklagte, das LBV hierüber in Unkenntnis zu lassen. Er wollte für möglichst lange Zeit Ruhegehalt und Witwergeld seines Vaters beziehen und für seinen eigenen Lebensunterhalt verwenden. Das LBV erlangte in der Folgezeit keine Kenntnis vom Tod des Vaters des Angeklagten und zahlte für die Zeit von Dezember 2007 bis einschließlich Januar 2015 monatlich Ruhegehalt und Witwergeld auf das genannte Konto aus, insgesamt 313.506,87 €.

Mit zwei an den Vater des Angeklagten adressierten Schreiben vom 6. März 2009 und vom 12. März 2010 mahnte das LBV jeweils die Übersendung einer Steuerkarte an. Der Angeklagte, der verhindern wollte, dass das LBV vom Tode seines Vaters erfuhr, beantwortete die Schreiben unter dem 25. März 2009 und unter dem 24. März 2010, wobei er, insbesondere durch die Imitation der Unterschrift seines Vaters, den Eindruck erweckte, dieser habe die Schreiben verfasst. Er erklärte unter anderem, keine Lohnsteuererklärung mehr abgeben zu wollen und eine Mehrbesteuerung in Kauf zu nehmen.

Wie von dem Angeklagten beabsichtigt, ging das LBV aufgrund der Schreiben davon aus, dass der Vater des Angeklagten weiterhin lebe. Erst Ende 2014 fiel bei einer behördeninternen Prüfung auf, dass seit Ende 2007 kein Beihilfeantrag mehr gestellt worden war; durch eine daraufhin veranlasste Anfrage beim zuständigen Einwohnermeldeamt erlangte das LBV Kenntnis vom Tod des Vaters des Angeklagten. Mit Wirkung ab Februar 2015 stellte es die Zahlungen ein.

b) Das Landgericht hat eine Strafbarkeit des Angeklagten wegen Betruges durch Unterlassen angenommen. Aus dem in § 64 Abs. 4 LBeamtVG NRW i.V.m. § 118 Abs. 4 SGB VI geregelten Erstattungsanspruch habe sich „analog § 60 Abs. 1 Satz 2 SGB I“ eine strafrechtliche Garantenpflicht des Angeklagten ergeben, das LBV über den Tod seines Vaters zu informieren. Eine analoge Anwendung dieser Vorschrift sei gerechtfertigt, da anderenfalls ein unberechtigter Empfänger von beamtenrechtlichen Ruhegehaltszahlungen günstiger gestellt werde als ein unberechtigter Empfänger von Rentenleistungen.

2. Der Senat nimmt aus verfahrensökonomischen Gründen den Betrugsvorwurf mit Zustimmung des Generalbundesanwalts gemäß § 154a Abs. 2 StPO von der Strafverfolgung aus, soweit er sich auf Zahlungen des LBV für den Zeitraum von Dezember 2007 bis einschließlich April 2009 bezieht. Die Verfahrensbeschränkung hat zugleich die aus der Beschlussformel ersichtliche Änderung des Ausspruches über die Einziehung des Wertes von Taterträgen zur Folge.

3. In dem nach der Verfahrensbeschränkung verbleibenden Umfang hält die Verurteilung des Angeklagten wegen Betruges sachlich-rechtlicher Nachprüfung im Ergebnis stand.

a) Soweit das Landgericht auf eine Täuschung durch Unterlassen abgestellt hat, begegnet dies allerdings rechtlichen Bedenken, da eine strafrechtliche Garantenpflicht (§ 13 StGB) des Angeklagten, aufgrund derer er das LBV über den Tod seines Vaters hätte informieren müssen, nicht bestand.

aa) Soweit das Landgericht zur Begründung einer gesetzlichen Garantenstellung auf die Vorschrift des § 64 Abs. 4 LBeamtVG NRW i.V.m. § 118 Abs. 4 SGB VI und eine damit verknüpfte analoge Anwendung von § 60 Abs. 1 Satz 2 SGB I abgestellt hat, geht dies bereits im Ansatz fehl, da § 64 LBeamtVG NRW erst mit dem Dienstrechtsmodernisierungsgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen vom 14. Juni 2016 (GV. NRW. 2016, S. 310) eingeführt worden und erst zum 1. Juli 2016 - mithin geraume Zeit nach Beendigung des Tatzeitraums - in Kraft getreten ist.

bb) Eine strafrechtliche Garantenpflicht bestand aber auch nicht aufgrund der zur Tatzeit geltenden Vorschriften.

(1) Zu Beginn des Tatzeitraums galt für Beamte des Landes Nordrhein-Westfalen gemäß Art. 125a Abs. 1 Satz 1 GG weiterhin das Beamtenversorgungsgesetz des Bundes, da der Landesgesetzgeber von seiner Gesetzgebungskompetenz, die durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. August 2006 (BGBl. I, S. 2034, 2035) auf ihn übergegangen war, noch keinen Gebrauch gemacht hatte.

Zwar enthielt das Beamtenversorgungsgesetz des Bundes in seiner zu Beginn des Tatzeitraums geltenden Fassung in § 52 Abs. 5 eine Erstattungspflicht desjenigen, der dem Versorgungsberechtigten zustehende Geldleistungen nach dessen Tod in Empfang genommen hatte. Eine neben diese Erstattungspflicht tretende Mitteilungspflicht sah das BeamtVG - auch in späteren Gesetzesfassungen - jedoch nicht vor.

(2) Eine strafrechtliche Garantenpflicht folgt auch nicht aus einer analogen Anwendung der sozialrechtlichen Vorschrift des § 60 Abs. 1 Satz 2 SGB I.

Es fehlt bereits an einer planwidrigen Regelungslücke als Voraussetzung für eine Analogie. Vielmehr hat der Gesetzgeber in § 62 BeamtVG spezifische Regelungen dazu getroffen, bei welcher Änderung versorgungsrelevanter Umstände eine Anzeigepflicht des Beamten besteht. Zudem enthält § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BeamtVG auch Anzeigepflichten des verwitweten Ehepartners des Beamten. Da schließlich § 52 Abs. 5 BeamtVG nur eine Erstattungspflicht für zu Unrecht nach dem Tod des Versorgungsberechtigten erbrachte Leistungen, indes keine diesbezügliche Anzeigepflicht vorsah, mithin dem Gesetzgeber die vorliegend in Rede stehende Fallgestaltung vor Augen stand, kann nicht davon ausgegangen werden, dass insoweit die Regelung einer Anzeigepflicht für andere Personen als den Beamten selbst und den verwitweten Ehepartner des Beamten planwidrig unterblieben ist.

Aus dem durch das Gesetz zur Neuordnung und Modernisierung des Bundesrechts vom 5. Februar 2009 (BGBl. I, S. 160) in § 52 Abs. 4 BeamtVG eingeführten Verweis auf § 118 Abs. 4 SGB VI - diese Vorschrift regelt eine Erstattungspflicht für zu Unrecht erbrachte Rentenleistungen nach dem Tod des Berechtigten - ergibt sich nichts anderes. Durch diese dynamische Verweisung sollte lediglich eine Anpassung an die rentenrechtliche Regelung erfolgen und eine fortlaufende Neuregelung des Erstattungsanspruches im Beamtenversorgungsgesetz entbehrlich werden (vgl. BTDrucks. 16/7076, S. 160). Dass durch den Verweis auf das Sozialgesetzbuch weitergehende Verpflichtungen - insbesondere weitere Mitteilungspflichten - geschaffen werden sollten, ist nicht ersichtlich; denn ein Verweis auf § 60 Abs. 1 Satz 2 SGB I ist gerade nicht erfolgt.

Es bedarf daher vorliegend keiner Entscheidung, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen sich aus der sozialrechtlichen Regelung des § 60 Abs. 1 Satz 2 SGB I überhaupt eine strafrechtliche Garantenpflicht ergeben kann (vgl. zum Streitstand bezüglich nach dem Tod des Berechtigten fortgezahlter Rentenleistungen OLG Zweibrücken, Beschluss vom 14. August 2017 - 1 OLG 2 Ss 37/17, juris; OLG Braunschweig, NStZ 2015, 520 ff.; jeweils mwN).

b) Die Feststellungen tragen jedoch eine Verurteilung des Angeklagten wegen Betruges durch eine aktive Täuschungshandlung. Durch das von ihm verfasste Schreiben vom 25. März 2009 erweckte der Angeklagte gegenüber dem LBV gezielt den Eindruck, dass sein Vater noch lebe. Infolge der hierdurch hervorgerufenen Fehlvorstellung auf Seiten des LBV wurden die monatlichen Auszahlungen nicht beendet, sondern bis einschließlich Januar 2015 weiterhin vorgenommen. Daher ist jedenfalls bezüglich der ab Ende April 2009 erfolgten Auszahlungen eine Strafbarkeit wegen Betruges gegeben.

c) Die Vorschrift des § 265 StPO steht einer Verurteilung des Angeklagten auf Grundlage einer aktiven Täuschung nicht entgegen. Es ist auszuschließen, dass sich der Angeklagte gegen den Vorwurf des Betruges durch aktives Tun wirksamer als geschehen hätte verteidigen können, zumal sein hierfür maßgebliches Schreiben vom 25. März 2009 - ebenso wie sein weiteres Schreiben vom 24. März 2010 - bereits im Anklagesatz genannt ist.

d) Der Senat schließt ebenfalls aus, dass die Strafkammer angesichts des um 59.423,19 € - also um weniger als ein Fünftel - verringerten Schadensumfangs eine niedrigere Strafe verhängt hätte, da sie bei der Bemessung der Freiheitstrafe im Rahmen des § 263 Abs. 3 StGB nicht die konkrete Schadenshöhe in den Mittelpunkt ihrer Erwägungen gerückt, sondern maßgeblich darauf abgestellt hat, dass die erhebliche Schadenshöhe die Grenze für das Vorliegen eines Vermögensverlustes großen Ausmaßes weit überschritten habe.

4. Da der nicht von der Verfahrensbeschränkung betroffene Teil des Urteils durch Verwerfung der Revision rechtskräftig wird, war auch die Entscheidung nach § 154a Abs. 2 StPO mit einer Kostenentscheidung zu verbinden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 31. Mai 2016 - 3 StR 54/16, StraFo 2016, 346; vom 15. Juni 1993 - 4 StR 287/93, BGHR StPO § 154a Kostenentscheidung 1; KK-StPO/Diemer, 7. Aufl., § 154a Rn. 12; LR-StPO/Beulke, 26. Aufl., § 154a Rn. 27).

HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 869

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2019, 78

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner