HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 720
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 28/18, Beschluss v. 29.05.2018, HRRS 2018 Nr. 720
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 30. August 2017 dahingehend abgeändert, dass der Schuldspruch wegen versuchten Totschlags entfällt. Der Angeklagte ist damit wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubten Führen einer Schusswaffe und vorsätzlichem unerlaubten Besitz von Munition verurteilt.
2. Der Strafausspruch des oben genannten Urteils wird aufgehoben.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine allgemeine Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
4. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hatte den Angeklagten in einem ersten Urteil wegen „versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung und mit vorsätzlichem unerlaubten Führen einer Schusswaffe und mit vorsätzlichem unerlaubten Besitz von Munition“ zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Auf die Revision des Angeklagten hatte der Senat dieses Urteil - mit Ausnahme der Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen - aufgehoben.
Nunmehr hat das Landgericht den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in weiterer Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubten Führen einer Schusswaffe und mit vorsätzlichem unerlaubten Besitz von Munition zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit der Rüge der Verletzung materiellen und formellen Rechts. Sein Rechtsmittel führt zum Wegfall des Schuldspruchs wegen versuchten Totschlags und zur Aufhebung des Strafausspruchs.
Nach den Feststellungen kam es zwischen dem Angeklagten und seinem Arbeitgeber, dem Geschädigten U., in der vom Angeklagten bewohnten Wohnung zu einem Zerwürfnis. In dessen Rahmen versetzte der sehr erregte U. dem Angeklagten zwei Faustschläge, aufgrund derer der Angeklagte gegen den Türrahmen prallte und zu Boden ging. Der ebenfalls in der Wohnung anwesende H. hielt U. daraufhin am Arm fest und forderte ihn zum Gehen auf, woraufhin U. vom Angeklagten abließ und in Richtung Wohnungstüre ging. Der in Wut geratene Angeklagte fasste nunmehr den Entschluss, an U. Vergeltung zu üben. Er holte eine unter seiner Matratze verborgene Schreckschusswaffe hervor, deren Lauf so manipuliert war, dass damit Kartuschenmunition, Kaliber 9 mm, versehen mit einer nachgefertigten Stahlrundkugel, Kaliber 4 mm, mit einer Masse von 0,26 g, verschossen werden konnte. Die Waffe war mit sechs dieser Geschosse geladen. Weder für die Waffe noch für die Munition besaß der Angeklagte die erforderliche Erlaubnis.
In seinem Zorn war der Angeklagte nun entschlossen, U. zu erschießen. Er ging davon aus, ihn noch im Eingangsbereich der Wohnung oder im Treppenhaus zu stellen und dort auf ihn schießen zu können. U. war jedoch von H., der die Bewaffnung des Angeklagten wahrgenommen hatte, gewarnt und zur Flucht aufgefordert worden. Dem kam U. nach und lief den vor der Wohnung gelegenen Treppenabsatz bis zu dem vor der Haustür gelegenen zweiten Treppenabsatz hinunter. H. verließ ebenfalls die Wohnung, zog die Wohnungstüre hinter sich zu und hielt die Türklinke mit beiden Händen fest, um zu verhindern, dass der Angeklagte nachfolgte. U. blieb stehen und beobachtete die Bemühungen H. s. Der Angeklagte stellte fest, dass die Tür von außen zugehalten wurde, er wusste auch, dass dies durch H. erfolgte. Er sah sich daher zunächst an seinem Vorhaben, auf U. zu schießen, gehindert. Er beschloss, die Blockade an der Tür zu überwinden. Deswegen schoss er aus einer Entfernung von höchstens einem Meter schräg von oben nach unten durch die Wohnungstüre. Die in die Kartusche eingesetzte Stahlrundkugel durchschlug das hölzerne Türblatt unterhalb des Türgriffes, verfehlte H., dessen Verletzung der Angeklagte billigend in Kauf genommen hatte. Die Kugel schlug auf dem Treppenabsatz vor der Wohnungstüre auf dem Boden des Hausflurs auf, prallte von dort wieder ab und flog als Querschläger über die Treppenstufen hinweg in Richtung des unteren Treppenabsatzes und traf U. dort am linken Oberkörper. Das Durchdringen des Türblattes in schräger Bahn hatte allerdings zu einer Drosselung der Geschwindigkeit und einer Herabsetzung der Energiedichte geführt, so dass das Geschoss nicht mehr in den Körper von U. eindrang, sondern lediglich eine Prellmarke verursachte. Hätte die Kugel das Auge getroffen, wären gewichtigere Verletzungen zu erwarten gewesen. Bei dem Schuss hatte der Angeklagte eine Verletzung des U. billigend in Kauf genommen, ging allerdings auch wegen des Energieverlusts bei Durchschlagen des Türblattes nicht davon aus, ihn tödlich treffen zu können.
U. floh aus dem Gebäude und brachte sich in einem in der Nähe befindlichen Kaufhaus in Sicherheit. Der Angeklagte verließ einige Sekunden nach dem Schuss die Wohnung und begab sich in das Treppenhaus. Er ging dabei davon aus, U. noch vor dem Haus anzutreffen und dort, wie von Anfang an beabsichtigt, sofort ungehindert auf ihn schießen zu können. Er traf dort jedoch allein noch H. an, den er nach U. s Verbleib fragte, wobei er mit der Pistole hantierte. H. teilte ihm daraufhin mit, er wolle mit der Sache nichts mehr zu tun haben, stieg in sein Auto und fuhr davon. Der Angeklagte hatte spätestens jetzt erkannt, dass U. entkommen war und er sein Ziel, ihn zu erschießen, nicht mehr würde verwirklichen können. Er wandte sich sodann dem Fahrzeug des U. zu, das er beschädigte.
1. Die nicht ausgeführte Verfahrensrüge ist unzulässig, § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO.
2. Der Schuldspruch wegen versuchten Totschlags kann auf die sachlich-rechtliche Überprüfung hin allerdings keinen Bestand haben. Denn nach den Feststellungen ist nicht dargetan, dass der Angeklagte gemäß § 22 StGB bereits unmittelbar zur Verwirklichung des Totschlags angesetzt hat.
a) Gemäß § 22 StGB liegt der Versuch einer Straftat vor, sobald der Täter nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt. Dies ist nicht erst dann der Fall, wenn er bereits eine der Beschreibung des gesetzlichen Tatbestandes entsprechende Handlung vornimmt bzw. ein Tatbestandsmerkmal verwirklicht. Auch eine frühere, vorgelagerte Handlung kann bereits die Strafbarkeit wegen Versuchs begründen. Das ist der Fall, wenn sie nach der Vorstellung des Täters bei ungestörtem Fortgang ohne Zwischenakte zur Tatbestandsverwirklichung führt oder im unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang in sie einmündet (s. etwa BGH, Urteile vom 16. September 1975 - 1 StR 264/75, BGHSt 26, 201, 203; vom 16. Januar 1991 - 2 StR 527/90, BGHSt 37, 294, 297 f. und vom 20. März 2014 - 3 StR 424/13, NStZ 2014, 447; Beschlüsse vom 29. Januar 2014 - 1 StR 654/13, JR 2014, 299, 300 und vom 20. September 2016 - 2 StR 43/16, NStZ 2017, 86 f.).
Diese abstrakten Maßstäbe bedürfen angesichts der Vielzahl denkbarer Sachverhaltsgestaltungen jedoch stets der wertenden Konkretisierung unter Beachtung der Umstände des Einzelfalles. Hierbei können etwa die Dichte des Tatplans oder der Grad der Rechtsgutsgefährdung, der aus Sicht des Täters durch die zu beurteilende Handlung bewirkt wird, für die Abgrenzung zwischen Vorbereitungs- und Versuchsstadium Bedeutung gewinnen (vgl. BGH, Urteil vom 26. Januar 1982 - 4 StR 631/81, BGHSt 30, 363, 364 f.; Beschlüsse vom 24. Juli 1987 - 2 StR 338/87, BGHSt 35, 6, 9 und vom 20. September 2016 - 2 StR 43/16, NStZ 2017, 86).
b) Nach diesen Maßstäben hat der Angeklagte noch nicht zum Versuch der Tötung U. s angesetzt.
Bei der rechtlichen Würdigung führt das Landgericht hierzu aus, dass zur Tötung des U. unmittelbar angesetzt wurde, „indem der Angeklagte die Waffe aus dem Versteck holte, in Richtung des Wohnungseingangs lief, um dort oder im Treppenhaus auf U. zu schießen, und dann auch einen Schuss abgab, um die Blockade der Tür zu überwinden“. Weitere Ausführungen zur Frage des unmittelbaren Ansetzens finden sich nicht.
aa) Soweit das Landgericht danach als unmittelbar in die Tatbestandsverwirklichung mündende Handlung den Schuss durch die Wohnungstür angesehen hat, reicht dies angesichts der konkreten Umstände des Geschehens für ein unmittelbares Ansetzen nicht aus. So hat es sich - rechtsfehlerfrei - davon überzeugt, dass dieser Schuss ohne Tötungsvorsatz erfolgte, da es am kognitiven Element des Tötungsvorsatzes fehlte. Dass dennoch mit dem der Aufhebung der Blockade dienenden Schuss nach der Vorstellung des Angeklagten die Schwelle zum „jetzt geht es los“ überschritten und objektiv zur tatbestandsmäßigen Angriffshandlung angesetzt wurde (vgl. nur BGH, Urteil vom 16. Januar 1991 - 2 StR 527/90, BGHSt 37, 294, 297 f.; Beschluss vom 20. September 2016 - 2 StR 43/16, NStZ 2017, 86), wird von den Feststellungen nicht getragen. Denn hierfür war zu berücksichtigen, dass auch nach der Aufhebung der Blockade, also des Eintritts des mit dem Schuss beabsichtigen Erfolgs, nach der Vorstellung des Angeklagten noch weitere Zwischenakte erforderlich waren, um zur Tatbestandsverwirklichung übergehen zu können. Denn ihm war angesichts der geschlossenen Wohnungstür bewusst, auch wenn H. die Türklinke nicht mehr festhalten würde, er selbst diese zunächst würde öffnen müssen und spätestens dies dem U. Gelegenheit geben könnte, auf die Straße zu flüchten. Das wird durch die festgestellte Verzögerung von einigen Sekunden zwischen Schussabgabe und dem Verlassen der Wohnung belegt. Danach konnte der Angeklagte nicht davon ausgehen, durch den der Aufhebung der Blockade dienenden Schuss im unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang auf U. schießen zu können. Hierzu musste er erst noch die Türe öffnen und seinen Standort verändern, um sich in die Lage zu bringen, das Opfer andernorts stellen zu können und es in sein Schussfeld zu bekommen. Mit dem Schuss durch die Tür, um diese öffnen zu können, war damit aus seiner Sicht der Grad der Gefährdung des Rechtsguts Leben des U. noch nicht konkret genug, da es auch bei ungestörtem Fortgang noch mehrere Zwischenakte bedurfte, um auf ihn schießen zu können.
bb) Soweit das Landgericht - abweichend von der Darstellung in der rechtlichen Würdigung -, das unmittelbare Ansetzen an die Feststellung geknüpft haben sollte, die Vorstellung des Angeklagten nach dem Schuss und bei Heraustreten aus der Wohnung sei darauf gerichtet gewesen, dass sich U. noch in unmittelbarer Nähe befinde und er - der Angeklagte - vor der Haustür ungehindert auf ihn schießen könne, vermag auch dies den Übergang in das Versuchsstadium zur Tötung nicht zu belegen. Denn auch insoweit fehlt es nach der Vorstellung des Angeklagten an dem unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Heraustreten aus der Wohnungstür unter Mitnahme der Tatwaffe einerseits und der Tatbestandsverwirklichung, also dem Schuss auf U. andererseits. In dem Moment, als der Angeklagte einige Sekunden nach der Schussabgabe die Wohnung verließ, befand sich U. nicht mehr im Hausflur, was dem Angeklagten bewusst war. Es war daher nach seiner Vorstellung noch erforderlich, dem Flüchtenden nachzusetzen, ihn vor der Haustür zu stellen und dort die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Schussabgabe zu schaffen. Allein der Schritt aus der Wohnungstür oder das Durchschreiten des Hausflurs brachte das Leben des U. nach der Vorstellung des Angeklagten damit nicht in eine konkretere Gefahr als durch die Entschlussfassung zur Tötung selbst. Daran ändert auch die bestehen bleibende Absicht, U. zu erschießen, sobald sich vor der Haustür eine Gelegenheit dafür bieten sollte, nichts, da es noch einiger Zwischenakte bedurfte, um seine Absicht umsetzen zu können.
Eine darüber hinausgehende Vorstellung des Angeklagten, vor der Haustür werde sich sicher die Möglichkeit zur ungehinderten Schussabgabe auf U. ergeben, ist nicht beweiswürdigend unterlegt. Dem Angeklagten war bewusst, dass U. vor ihm, dem bewaffneten Angreifer, auf der Flucht war. Dafür, dass er vor diesem Hintergrund sicher davon ausgehen konnte, nach Erreichen des Gehwegs dort ungehindert auf ihn schießen zu können, sind weder Anhaltspunkte festgestellt noch angesichts der Verlagerung des Geschehens in das öffentliche Straßenland naheliegend.
3. Der weitergehende Schuldspruch ist rechtsfehlerfrei. Der Senat kann ausschließen, dass eine nochmalige Zurückverweisung zu Feststellungen führen könnte, die den Schuldspruch wegen eines versuchten Totschlags zu tragen vermögen. Denn beide bisher mit der Sache befassten Tatgerichte haben den Sachverhalt sorgfältig aufgeklärt. Der Senat hat deswegen in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO den im Übrigen rechtsfehlerfreien Schuldspruch dahingehend geändert, dass die Verurteilung wegen versuchten Totschlags entfällt.
Das entzog der Strafzumessungsentscheidung die Grundlage.
HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 720
Externe Fundstellen: NStZ 2018, 648; NStZ 2019, 18 ; StV 2018, 705
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner