HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 271
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 239/17, Urteil v. 09.01.2018, HRRS 2018 Nr. 271
1. Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts München II vom 22. November 2016 wird verworfen.
2. Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Das Landgericht hat gegen den Angeklagten wegen schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung unter Einbeziehung weiterer Verurteilungen einen Dauerarrest von vier Wochen verhängt und ihm verschiedene Weisungen erteilt.
Die Staatsanwaltschaft rügt mit ihrer zu Ungunsten des Angeklagten eingelegten und auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Revision die Verletzung materiellen Rechts. Sie erstrebt die Verurteilung zu einer Jugendstrafe wegen der Schwere der Schuld.
Ihr Rechtsmittel hat keinen Erfolg.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts verließ der zur Tatzeit 19 Jahre und acht Monate alte Angeklagte mit drei Begleitern am 5. Juli 2016 gegen 19.30 Uhr das Volksfest in V. Als sie feststellten, dass sie zu wenig Zigaretten hatten, um gemeinsam rauchen zu können, erklärte der leicht angetrunkene und enthemmte Angeklagte, er gehe zum Zigaretten „schnorren“. Er sprach die Passanten B. und W. auf Zigaretten an, wobei er in der rechten Hand eine fast ausgetrunkene Flasche Bier (0,5 l) hielt. Beide wiesen ihn jedoch ab und setzten ihren Weg fort. Der Zeuge B., der eine WhatsApp-Nachricht erhalten hatte, blieb stehen und begann, sein Smartphone im Wert von 200 € in beiden Händen haltend, die Nachricht zu beantworten.
Der Angeklagte beschloss nun spontan und alkoholbedingt enthemmt, das Smartphone an sich zu bringen. Er trat von hinten an B. heran und schlug ihm von schräg hinten die Flasche gegen den Kopf, wobei der Schlag „aus einer Ausholbewegung wie für einen Schlag mit der bloßen Hand“ erfolgte und den Geschädigten an der linken Kopfseite traf. Die Flasche zerbrach. Dann entriss ihm der Angeklagte mit der linken Hand das Smartphone, um es zu behalten und flüchtete. Kurz vor seiner Festnahme durch die Polizei warf er das Mobiltelefon in ein Gebüsch. Der Geschädigte erhielt das Mobiltelefon zurück. Er hatte durch den Schlag mit der Flasche eine 1 cm lange, tiefe Platzwunde an der linken Schädelseite, eine kleine Risswunde am linken Ohrläppchen und ein Schädel-Hirn-Trauma ersten Grades erlitten, das ihm etwa zwei Tage Beschwerden bereitete.
2. Die Kammer hat das Vorliegen der Schwere der Schuld gemäß § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG verneint.
Zwar könne das objektive Gewicht der Tat hinsichtlich der Schwere des Unrechts nach allgemeinem Strafrecht, das eine Mindestfreiheitsstrafe von fünf Jahren vorsehe, ein Indiz für die Bejahung der „Schuldschwere“ sein. Jedoch führe dies hier in der Gesamtabwägung mit der Persönlichkeitsstruktur des Angeklagten nicht zur Bejahung der Schwere der Schuld. In der konkreten Ausgestaltung handele es sich um eine durch ungewohnten Alkoholkonsum enthemmte Handlung des Angeklagten. Dieser habe in einer jugendtypischen Kurzschlusshandlung die „negative Antwort“ des Geschädigten auf sein „Schnorren“ nach Zigaretten als Anlass für eine durchaus heftige Reaktion genommen. Gerade hierin zeige sich das jugendtypische fehlende Nachdenken und Reflektieren in einer Kurzschlussreaktion. Die Tat sei von keinerlei Notwendigkeit getrieben gewesen, da der Angeklagte zum Tatzeitpunkt mindestens ein Mobiltelefon mit Vertrag besessen und es auch für die erforderlichen Kontakte zu seinem Weisungsbetreuer zuverlässig genutzt habe.
Die Nachprüfung des Urteils auf die Revision der Staatsanwaltschaft hat keinen Rechtsfehler zum Vorteil des Angeklagten ergeben. Die Jugendkammer hat nicht nur schädliche Neigungen rechtsfehlerfrei verneint, sondern auch die Schwere der Schuld gemäß § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG.
1. Der Schuldgehalt der Tat ist bei der Deliktsbegehung durch jugendliche und heranwachsende Täter jugendspezifisch zu bestimmen (BGH, Urteil vom 20. April 2016 - 2 StR 320/15, BGHSt 61, 188, 191). Die „Schwere der Schuld“ im Sinne des § 17 Abs. 2 JGG wird daher nicht vorrangig anhand des äußeren Unrechtsgehalts der Tat und ihrer Einordnung nach dem allgemeinen Strafrecht bestimmt, sondern es ist in erster Linie auf die innere Tatseite abzustellen (BGH, Urteil vom 19. Februar 2014 - 2 StR 413/13, NStZ 2014, 407, 408). Der äußere Unrechtsgehalt der Tat und das Tatbild sind jedoch insofern von Belang, als hieraus Schlüsse auf die charakterliche Haltung, die Persönlichkeit und die Tatmotivation des Jugendlichen oder Heranwachsenden gezogen werden können (BGH, Beschlüsse vom 17. Dezember 2014 - 3 StR 521/14, NStZ-RR 2015, 155, 156; vom 6. Mai 2013 - 1 StR 178/13, NStZ 2013, 658, 659; vom 14. August 2012 - 5 StR 318/12, NStZ 2013, 289, 290 und vom 19. November 2009 - 3 StR 400/09, NStZ 2010, 281; Urteil vom 11. November 1960 - 4 StR 387/60, BGHSt 15, 224, 226). Entscheidend ist, ob und in welchem Umfang sich die charakterliche Haltung, die Persönlichkeit sowie die Tatmotivation des Täters vorwerfbar in der Tat manifestiert haben (BGH, Urteil vom 11. November 1960 - 4 StR 387/60, BGHSt 15, 224, 226).
2. Die Jugendkammer hat bei ihrer Bewertung der „Schuldschwere“ im Sinne des § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG diesen Bewertungsmaßstab angelegt. Sie hat insbesondere betont, dass bei der zu treffenden Beurteilung dem äußeren Unrechtsgehalt der Tat keine selbständige Bedeutung zukommt. Rechtsfehlerhaft wäre es gewesen, die Schwere der Schuld ausschließlich oder wesentlich auf den äußeren Unrechtsgehalt der Tat zu stützen, weil das Entscheidende die innere Tatseite ist, also inwieweit sich charakterliche Haltung, Persönlichkeit und Tatmotivation des Angeklagten in vorwerfbarer Schuld niedergeschlagen haben.
Die Jugendkammer hat die Bewertung des Unrechtsgehalts der Tat auch nicht völlig unterlassen, sondern hat in ihre Gesamtbewertung eingestellt, dass das allgemeine Strafrecht für den schweren Raub eine Mindestfreiheitsstrafe von fünf Jahren vorsieht. In diesem Rahmen hat sie erörtert, inwieweit aus der Bewertung des Unrechtsgehalts der Tat ein Schluss auf die Persönlichkeit des Angeklagten und die Höhe seiner Schuld möglich ist. Sie hat hierbei die Aspekte der Enthemmung durch ungewohnten Alkoholkonsum, die Spontaneität der Tat als Reaktion auf das abschlägig beschiedene „Schnorren“ nach Zigaretten für sich bzw. seine Begleiter in Gestalt einer „jugendtypischen Kurzschlusshandlung“ benannt sowie die fehlende Notwendigkeit für die Wegnahme des Mobiltelefons, da der Angeklagte ein eigenes besaß.
Nicht ausdrücklich eingestellt hat die Jugendkammer (im Rahmen der Prüfung des Maßes der ausgeübten Gewalt bei § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB und der tateinheitlich begangenen gefährlichen Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB) die Art des Zuschlagens mit der fast leeren Bierflasche. Da das Landgericht jedoch zuvor den gegen die linke Kopfseite des Geschädigten erfolgten Schlag anschaulich mit „aus einer Ausholbewegung wie für einen Schlag mit der bloßen Hand“ von schräg hinten beschrieben hatte, der keine erheblichen Verletzungen des Opfers verursachte, ist auszuschließen, dass ihr dies aus dem Blick geraten sein könnte.
Das Landgericht hat damit rechtsfehlerfrei die Ablehnung der „Schuldschwere“ mit dem Umfang der Schuld des Angeklagten begründet, insbesondere mit der Stärke seines verbrecherischen Willens (Kurzschlusshandlung), mit seinen Beweggründen (Reaktion auf das erfolglose „Schnorren“) und mit den Zwecken, die er mit der Tat verfolgte (keine persönliche Bereicherung, sondern eine Art Abstrafen).
Zudem kann der Senat den Urteilsgründen, insbesondere den Ausführungen der Jugendkammer im Rahmen der Prüfung „schädlicher Neigungen“, mit der gebotenen Sicherheit entnehmen, dass selbst dann, wenn die Schuld des Angeklagten als „schwer“ i.S.d. § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG einzustufen wäre, die Verhängung von Jugendstrafe deshalb nicht in Betracht kommen kann, weil dies aus erzieherischen Gründen nicht erforderlich ist (vgl. BGH, Urteile vom 11. November 1960 - 4 StR 387/60, BGHSt 15, 224, 225 f.; vom 29. September 1961 - 4 StR 301/61, BGHSt 16, 261, 263 und vom 9. August 2000 - 3 StR 176/00, NStZ-RR 2001, 215, 216; Beschluss vom 20. Januar 1998 - 4 StR 656/97, NStZ-RR 1998, 317, 318); denn die Jugendkammer konnte bei dem Angeklagten keine „Persönlichkeits- oder Erziehungsmängel“ feststellen.
HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 271
Externe Fundstellen: NStZ 2018, 659; StV 2019, 468
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede