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HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 994

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 1866/17, Beschluss v. 07.09.2017, HRRS 2017 Nr. 994


BVerfG 2 BvR 1866/17 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 7. September 2017 (OLG Nürnberg / LG Nürnberg-Fürth)

Erfolgloser Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die Zwangsmedikation eines im Maßregelvollzug Untergebrachten (psychiatrisches Krankenhaus; Zwangsbehandlung mit Neuroleptika; entgegenstehende Patientenverfügung; Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit; Interessenabwägung; Gefahr irreversibler Gesundheitsschäden).

Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG; § 32 Abs. 1 BVerfGG

Leitsatz des Bearbeiters

Wird ein im Maßregelvollzug Untergebrachter entgegen seiner Patientenverfügung einer Zwangsbehandlung mit Neuroleptika unterzogen, so liegt hierin zwar ein schwerwiegender Grundrechtseingriff. Diesen hat der Untergebrachte jedoch einstweilen hinzunehmen, wenn ihm andernfalls irreversible hirnorganische Gesundheitsschäden sowie eine Chronifizierung seiner Psychose drohen, die eine lebenslange Fortdauer der Unterbringung nach sich ziehen kann.

Entscheidungstenor

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Gründe

Der Beschwerdeführer beantragt den Erlass einer einstweiligen Anordnung dahingehend, dass der Maßregelvollzugseinrichtung, in der er untergebracht ist, die Fortsetzung der Zwangsmedikation des Beschwerdeführers untersagt werde.

1. Gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Muss der Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens als offen angesehen werden, sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde später aber Erfolg hätte, gegen die Nachteile abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde der Erfolg aber zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 91, 70 <74 f.>; 105, 365 <370 f.>; stRspr). Eine einstweilige Anordnung kann nur ergehen, wenn diese Abwägung ein deutliches Überwiegen der Gründe ergibt, die für den Erlass der Anordnung sprechen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 15. November 2006 - 2 BvQ 63/06 -, juris, Rn. 3; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 3. Februar 2011 - 2 BvR 132/11 -, juris, Rn. 2; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. April 2013 - 2 BvR 759/13 -, juris, Rn. 2).

2. Danach kann eine einstweilige Anordnung hier nicht erlassen werden. Zwar ist die Verfassungsbeschwerde weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 128, 282 <304 ff.>, 129, 269 <281 f.>; 133, 112 <134 ff. Rn. 59 ff.>). Insbesondere kann die Frage, wie sich eine Patientenverfügung, die eine Behandlung mit Neuroleptika untersagt, auf die Rechtmäßigkeit einer Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug auswirkt, erst im Hauptsacheverfahren geklärt werden. Die gebotene Folgenabwägung führt jedoch zu dem Ergebnis, dass die begehrte einstweilige Anordnung nicht ergehen kann, weil die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechenden Belange nicht in der erforderlichen Weise deutlich überwiegen.

Ergeht die einstweilige Anordnung nicht, erweist sich die Verfassungsbeschwerde aber später als begründet, muss der Beschwerdeführer einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff bis auf weiteres hinnehmen. Zum einen erfolgt die Zwangsmedikation des Beschwerdeführers entgegen einer - der Annahme des Fachgerichts zufolge - wirksamen Patientenverfügung, mit der der Beschwerdeführer eine Zwangsbehandlung mit Neuroleptika untersagte. Darüber hinaus liegt bereits in der zwangsweisen Verabreichung als solcher, unabhängig von etwaigen nachteiligen Wirkungen des Medikaments, ein schwerer Eingriff. Nach den Annahmen, von denen im vorliegenden Verfahren die Klinik und das sachverständig beratene Landgericht sowie das Oberlandesgericht ausgegangen sind und die beim gegenwärtigen Verfahrensstand nach den hier maßgeblichen Abwägungsgrundsätzen hypothetisch als zutreffend zu unterstellen sind (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 18. August 2014 - 2 BvR 1513/14 -, juris, Rn. 6), besteht eine konkrete Gefahr, dass Belange von erheblichem Gewicht aber auch dann beeinträchtigt werden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung ergeht, die Verfassungsbeschwerde sich aber später als unbegründet erweist. Die angeordnete Zwangsbehandlung erfolgte nach den Angaben der Klinik und den Feststellungen des sachverständig beratenen Landgerichts vor allem, um den Beschwerdeführer vor irreversiblen hirnorganischen Gesundheitsschäden zu bewahren, die bei weiterer Verzögerung des Behandlungseintritts mit hoher Wahrscheinlichkeit eingetreten wären, sowie zur Abwendung einer Chronifizierung der bei dem Beschwerdeführer bestehenden Psychose. Eine mögliche Folge des Abbruchs der zwischenzeitlich erfolgten Behandlung, die zu einer gewissen Besserung geführt hat, wäre, dass der 37-jährige Beschwerdeführer sein Leben lang freiheitsentziehenden Maßnahmen ausgesetzt wäre. Denn in unbehandeltem Zustand ist laut Sachverständigengutachten vom 31. Mai 2017 weiterhin mit der dauernden Gefahr unkalkulierbarer selbst- und fremdaggressiver Handlungen des Beschwerdeführers zu rechnen. Unter diesen Umständen kann das erforderliche deutliche Überwiegen der für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe nicht festgestellt werden.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 994

Bearbeiter: Holger Mann