HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 967
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 510/16, Beschluss v. 11.07.2017, HRRS 2017 Nr. 967
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Hildesheim vom 11. August 2016 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Dagegen wendet sich der Beschwerdeführer mit seiner auf zwei Verfahrensbeanstandungen und die in allgemeiner Form erhobene Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.
I. Die Verfahrensrügen sind - wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend ausgeführt hat - unbegründet. Der näheren Erörterung bedarf nur die Rüge der Verletzung des § 258 Abs. 2 StPO, die darauf gestützt ist, dass dem Angeklagten in der Hauptverhandlung nicht das letzte Wort erteilt worden sei.
1. Der Beanstandung liegt das folgende Verfahrensgeschehen zugrunde:
Die Eltern des im Zeitraum der Hauptverhandlung 15 Jahre alten Angeklagten nahmen an den ersten beiden Hauptverhandlungstagen teil, die Mutter des Angeklagten teilweise auch am dritten Hauptverhandlungstag; sie verließ den Gerichtssaal allerdings kurz vor Schluss der Beweisaufnahme. Nachdem diese geschlossen worden war, erhielten zunächst die Staatsanwaltschaft, die Nebenklage und die Verteidigung das Wort zur Stellung ihrer Schlussanträge. Im Anschluss daran hatte der Angeklagte das letzte Wort, bevor die Hauptverhandlung bis zum nächsten Tag unterbrochen wurde. An diesem waren die Eltern des Angeklagten wieder erschienen. Sie hatten als gesetzliche Vertreter des Angeklagten das letzte Wort. Danach verkündete die Vorsitzende das Urteil; dem Angeklagten wurde nicht erneut das letzte Wort gewährt.
2. Diese Verfahrensweise begründet entgegen der Auffassung der Verteidigung eine Verletzung von § 258 Abs. 2 StPO nicht.
a) Allerdings wird im Schrifttum überwiegend die Auffassung vertreten, dem Angeklagten gebühre stets das „allerletzte“ Wort (KK/Ott, StPO, 7. Aufl., § 258 Rn. 20; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl., § 258 Rn. 23; LR/Stuckenberg, StPO, 26. Aufl., § 258 Rn. 39; SKStPO/Velten, 5. Aufl., § 258 Rn. 37; HKJGG/Schatz, 7. Aufl., § 67 Rn. 21; NHKJGG/Trüg, 2. Aufl., § 67 Rn. 10; Eisenberg, JGG, 19. Aufl., § 67 Rn. 9a; BeckOK JGG/Grommes, § 67 Rn. 16; aA Radtke/Hohmann/Forkert-Hosser, StPO, § 258 Rn. 30; BeckOK StPO/Eschelbach, § 258 Rn. 19; vgl. auch Brunner/Dölling, JGG, 12. Aufl., § 67 Rn. 6). Es sei ihm in jedem Fall nach seinem Erziehungsberechtigten oder gesetzlichen Vertreter zu erteilen, weil dessen Ausführungen mit denen eines Interessenvertreters vergleichbar seien (SKStPO/Velten aaO). Deshalb bestehe kein überzeugender Grund, die Ausführungen des Erziehungsberechtigten oder gesetzlichen Vertreters anders zu behandeln, als die seines Verteidigers (LR/Stuckenberg aaO). Zum Teil wird vertreten, § 258 Abs. 3 StPO sei in diesen Fällen analog anzuwenden (SKStPO/Velten aaO).
b) Die Rechtsprechung und die Gegenmeinung in der Literatur gehen demgegenüber davon aus, dass die Reihenfolge, in der dem Angeklagten und seinem Erziehungsberechtigten bzw. gesetzlichen Vertreter das letzte Wort zu erteilen sei, im Ermessen des Vorsitzenden stehe (vgl. RG, Urteil vom 16. Februar 1923 - I 716/22, RGSt 57, 265, 266; BGH, Urteil vom 10. Dezember 1965 - 4 StR 561/65; Beschluss vom 17. Januar 2003 - 2 StR 443/02, BGHSt 48, 181, 182; Radtke/Hohmann/Forkert-Hosser aaO; BeckOK StPO/Eschelbach aaO; Brunner/Dölling aaO).
c) Der letztgenannten Auffassung ist zu folgen.
Nach § 67 Abs. 1 JGG steht dem Erziehungsberechtigten und dem gesetzlichen Vertreter das Recht zu, gehört zu werden, Fragen und Anträge zu stellen oder bei Untersuchungshandlungen anwesend zu sein, soweit dem Beschuldigten ein solches Recht zusteht. In Verbindung mit § 258 Abs. 2 StPO folgt daraus, dass diesen Personen - wie dem jugendlichen Angeklagten - das Recht auf das letzte Wort zusteht. Die Vorschrift des § 258 Abs. 3 StPO regelt auch insoweit nur das Verhältnis zwischen dem Plädoyer eines Verteidigers und dem grundsätzlich danach zu gewährenden letzten Wort des Erziehungsberechtigten und gesetzlichen Vertreters. Zu der Reihenfolge, in der dem Angeklagten und seinem Vertreter jeweils das letzte Wort zu gewähren ist, enthält das Gesetz keine ausdrückliche Regelung (vgl. insoweit auch SKStPO/Velten aaO), so dass der Wortlaut des Gesetzes für ihre Gleichrangigkeit spricht, jedenfalls aber keinen Hinweis auf einen Vorrang der Rechte des Angeklagten gibt.
Für eine andere Auslegung oder gar eine analoge Anwendung von § 258 Abs. 3 StPO besteht kein Raum: Bei dem Recht aus § 258 Abs. 2 StPO in Verbindung mit § 67 Abs. 1 JGG handelt es sich um ein dem Recht des Angeklagten auf das letzte Wort gleichgestelltes Äußerungsrecht, nicht aber um das Recht auf einen Schlussvortrag. Zu einem solchen ist dem Erziehungsberechtigten und gesetzlichen Vertreter gemäß § 258 Abs. 1 StPO in Verbindung mit § 67 Abs. 1 JGG Gelegenheit zu geben (HKJGG/Schatz aaO); das Recht auf das letzte Wort ist demgegenüber nach der Systematik des § 258 StPO ein aliud. Die gesetzliche Konzeption sieht es demnach gerade nicht vor, die Ausführungen des Erziehungsberechtigten oder gesetzlichen Vertreters so zu behandeln, wie die des Verteidigers des jugendlichen Angeklagten.
Ein Vorrang der Interessen des Jugendlichen gegenüber denjenigen des Erziehungsberechtigten, der es verbindlich geboten erscheinen lassen könnte, dem Jugendlichen stets das „allerletzte“ Wort zu geben, ergibt sich auch nicht aus Sinn und Zweck von § 67 Abs. 1 JGG: Die Vorschrift begründet als einfachgesetzliche Ausprägung des verfassungsrechtlich verbürgten Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 GG eine eigene Rechtsposition der Erziehungsberechtigten und gesetzlichen Vertreter, die die Stellung des Jugendlichen im Verfahren zwar nicht schwächt, dessen Position gegenüber aufgrund der Gleichwertigkeit der Interessenlagen aber gleichrangig ist (NHKJGG/Trüg aaO, § 67 Rn. 1; wohl auch Brunner/Dölling aaO, § 67 Rn. 5; aA Eisenberg aaO, § 67 Rn. 4).
Auch die historische Auslegung erbringt keine Hinweise auf einen etwaigen Vorrang der Rechtsstellung des Beschuldigten gegenüber derjenigen des Erziehungsberechtigten. In § 30 des Jugendgerichtsgesetzes vom 27. Februar 1923 (RGBl. I, S. 135) war erstmals geregelt, dass die „Rechte des Beschuldigten zur Anwesenheit bei Amtshandlungen, auf Gehör und zur Vorlegung von Fragen […] auch dem gesetzlichen Vertreter“ zustanden. In dem Entwurf dazu heißt es lediglich, dass die Rechte des gesetzlichen Vertreters erweitert werden sollten; es erscheine „wünschenswert, dem gesetzlichen Vertreter […] die gleichen Rechte einzuräumen, die der Beschuldigte hat“, ohne dass dadurch die Rechte des Erziehungsberechtigten erschöpft sein sollten (Verhandlungen des Reichstags, I. Wahlperiode 1920, Bd. 375, Anlagen zu den Stenographischen Berichten, Aktenstück Nr. 5171, S. 21).
Nach alledem fehlt es auch an den für eine analoge Anwendung von Gesetzen erforderlichen Voraussetzungen, namentlich einer planwidrigen Regelungslücke (vgl. S/S/Eser/Hecker, StGB, 29. Aufl., § 1 Rn. 35 mwN). Denn es ist nicht zu erkennen, dass der Gesetzgeber versehentlich und planwidrig davon abgesehen hat, einen Vorrang der Rechte des jugendlichen Beschuldigten vor denjenigen seiner Erziehungsberechtigten und gesetzlichen Vertreter zu normieren.
d) Wenn danach aber das letzte Wort des Angeklagten und dasjenige seines Erziehungsberechtigten und Vertreters grundsätzlich gleich zu behandeln sind, liegt es im pflichtgemäßen Ermessen des Vorsitzenden, in welcher Abfolge er diese gleichrangigen Äußerungsrechte gewährt (§ 238 Abs. 1 StPO), solange im Übrigen die sich aus § 258 Abs. 2, 3 StPO ergebende Reihenfolge beachtet wird (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Januar 2003 - 2 StR 443/02, BGHSt 48, 181, 182). Die Revision macht einen Ermessensfehlgebrauch des Vorsitzenden nicht geltend, ein solcher ist insbesondere mit Blick auf das konkrete Verfahrensgeschehen auch nicht ersichtlich.
II. Die auf die Sachrüge veranlasste umfassende Überprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Ergänzend zu den Ausführungen des Generalbundesanwalts bemerkt der Senat:
Die Strafkammer hat nicht verkannt, dass zur Bestimmung der zurechenbaren Schuld des jugendlichen Täters das Tatunrecht am Maßstab der gesetzlichen Strafandrohungen des Erwachsenenstrafrechts heranzuziehen ist (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 17. Dezember 2014 - 3 StR 521/14, NStZ-RR 2015, 155, 156 mwN). Es begegnet insoweit aber Bedenken, dass sie angesichts der konkreten Tatsituation, in der der Angeklagte im Hinblick auf sein asiatisches Aussehen von einem der Geschädigten wiederholt beleidigt worden war, nicht ausdrücklich geprüft hat, ob bei Anwendung von Erwachsenenstrafrecht ein benannter minder schwerer Fall gemäß § 213 Alternative 1 StGB in Betracht zu ziehen war. Da die Strafkammer die wiederholten Provokationen aber bei der Strafzumessung im engeren Sinne zu Gunsten des Angeklagten berücksichtigt und die konkrete Strafhöhe zudem wesentlich an seinem Erziehungsbedarf ausgerichtet hat, kann der Senat ausschließen, dass der Strafausspruch auf diesem Rechtsfehler beruht.
HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 967
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2017, 349
Bearbeiter: Christian Becker