HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 834
Bearbeiter: Holger Mann
Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 1287/17, Beschluss v. 25.07.2017, HRRS 2017 Nr. 834
1. Die Verfahren 2 BvR 1287/17 und 2 BvR 1583/17 werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
2. Die Staatsanwaltschaft München II wird angewiesen, die im Rahmen der Durchsuchung der Geschäftsräume der Rechtsanwaltskanzlei Jones Day in der Prinzregentenstraße 11 in München am 15. März 2017 sichergestellten Unterlagen (lfd. Nummern 1 bis 185 des Durchsuchungs-/Sicherstellungsprotokolls vom 15. März 2017) sowie die angefertigte Datensicherung (Festplatte gemäß lfd. Nummer 186 des Durchsuchungs-/Sicherstellungsprotokolls vom 15. März 2017) - diese nach Vollziehung der durch Beschluss des Landgerichts München I vom 7. Juni 2017 (6 Qs 9/17, 6 Qs 10/17, 6 Qs 11/17) angeordneten Herausgabe der unter dem Dateipfad „interwoven“ von einem in Belgien befindlichen Server heruntergeladenen Daten und Vernichtung davon gefertigter Kopien - bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerden, längstens für die Dauer von sechs Monaten, bei dem Amtsgericht München versiegelt zu hinterlegen.
Eine Auswertung oder sonstige Verwertung der sichergestellten Unterlagen und der Datensicherung hat in diesem Zeitraum zu unterbleiben.
Die Beschwerdeführerin, eine international tätige Rechtsanwaltskanzlei, wendet sich mit den von ihr erhobenen Verfassungsbeschwerden gegen die auf § 103 StPO gestützte Durchsuchung der Räumlichkeiten ihres Münchener Kanzleistandorts im Zuge des sogenannten „VW-Dieselskandals“ sowie gegen die Sicherstellung der dabei aufgefundenen Unterlagen und elektronischen Daten.
1. Die Beschwerdeführerin ist eine partnerschaftlich organisierte und weltweit an über 40 Standorten mit insgesamt mehr als 2.500 Rechtsanwälten tätige Rechtsanwaltskanzlei in der Rechtsform einer Partnership nach dem Recht des US-amerikanischen Bundesstaats Ohio. In der Bundesrepublik unterhält sie drei Standorte in Düsseldorf, Frankfurt am Main und München, für die jeweils ein sogenannter „Partner-In-Charge“ als leitender beziehungsweise geschäftsführender Partner zuständig ist. Außerdem werden die drei deutschen Standorte von einem sogenannten „Partner-In-Charge Germany“ vertreten. Am Münchener Standort sind insgesamt über 30 in Deutschland zugelassene Rechtsanwälte und Patentanwälte tätig.
Anlässlich eines in den USA geführten strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens wegen Abgasmanipulationen an Dieselfahrzeugen wurde die Beschwerdeführerin im September 2015 von der Volkswagen AG mit internen Ermittlungen, rechtlicher Beratung und der Vertretung gegenüber den US-amerikanischen Strafverfolgungsbehörden beauftragt. Mit dem Mandat waren auch Rechtsanwälte aus dem Münchener Büro der Beschwerdeführerin befasst. Zum Zwecke der Sachaufklärung sichteten die Rechtsanwälte der Beschwerdeführerin konzernweit eine Vielzahl von Dokumenten und führten über 700 Befragungen von Mitarbeitern des Volkswagen-Konzerns durch. Der Aufsichtsrat der ebenfalls von den Ermittlungen betroffenen Audi AG ermächtigte seinen stellvertretenden Vorsitzenden, über die Volkswagen AG einen Zugriff auf die die Audi AG betreffenden Ergebnisse der „External Investigation“ der Beschwerdeführerin zu veranlassen (Aufsichtsratsbeschluss vom 7. Oktober 2015). Laut Jahresabschlussbericht der Audi AG für das Geschäftsjahr 2015 erhielten deren Aufsichtsrat und Vorstand zum Zeitpunkt der Jahresabschlussaufstellung einen mündlichen Zwischenbericht über den Stand der Untersuchungen.
Im Januar 2017 einigten sich die Volkswagen AG und das U.S. Department of Justice im Rahmen eines sogenannten Plea Agreement auf die Zahlung eines Strafgeldes in Höhe von 2,8 Milliarden USD. Die Volkswagen AG bekannte sich in einem der Verständigung beigefügten statement of facts schuldig, durch eine Tochterfirma in den USA Dieselfahrzeuge mit unzulässigen Abgaskontrollvorrichtungen vertrieben zu haben. Betroffen waren Fahrzeuge mit 2,0 Liter-Dieselmotoren der Volkswagen AG und mit 3,0 Liter-Dieselmotoren, die die Audi AG entwickelt und hergestellt hatte.
Wegen der Vorgänge im Zusammenhang mit den 3,0 Liter-Dieselmotoren der Audi AG führt die Staatsanwaltschaft München II ein Ermittlungsverfahren wegen Betruges und strafbarer Werbung, das sich bislang gegen Unbekannt richtet. Auf ihren Antrag ordnete das Amtsgericht München mit Beschluss vom 6. März 2017 auf der Grundlage von § 103 StPO die Durchsuchung der Münchener Geschäftsräume der Beschwerdeführerin an. Die Durchsuchung sollte der Auffindung von Dokumenten dienen, die von der Beschwerdeführerin im Zuge ihrer internen Ermittlungen über die Vorgänge um den 3,0 Liter-Dieselmotor der Audi AG zusammengetragen oder erstellt worden waren.
Die Durchsuchungsanordnung wurde am 15. März 2017 vollzogen. Insgesamt wurden 185 Aktenordner und Hefter mit Unterlagen aus den Büros der sachbearbeitenden Rechtsanwälte und einem eigens für das Mandat eingerichteten Aktenraum sichergestellt. Die Ermittler sicherten außerdem einen umfangreichen Bestand an elektronischen Daten, von denen sie einen Teil zunächst von einem in Belgien befindlichen Server herunterluden.
Gegen die Durchsuchungsanordnung legte die Beschwerdeführerin am 17. März 2017 Beschwerde ein, der das Amtsgericht München mit Entscheidung vom 21. März 2017 nicht abhalf. Das Landgericht München I verwarf die Beschwerde der Beschwerdeführerin - sowie die ebenfalls gegen die Durchsuchungsanordnung gerichtete Beschwerde der Volkswagen AG - mit Beschluss vom 8. Mai 2017 als unbegründet. Die dagegen gerichtete Anhörungsrüge der Beschwerdeführerin vom 2. Juni 2017 verwarf das Landgericht München I mit Beschluss vom 6. Juni 2017 als unzulässig.
Im Hinblick auf die Sicherstellung beantragte die Beschwerdeführerin am 17. März 2017 die sofortige Herausgabe der Unterlagen und Daten, woraufhin das Amtsgericht München die Sicherstellung mit Beschluss vom 21. März 2017 gemäß § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO gerichtlich bestätigte. Hiergegen legte die Beschwerdeführerin am 13. April 2017 Beschwerde ein, der das Amtsgericht München mit Entscheidung vom 26. April 2017 nicht abhalf. Auf die Beschwerde ordnete das Landgericht München I mit Beschluss vom 7. Juni 2017 an, dass die von dem in Belgien befindlichen Server heruntergeladenen Dateien an die Beschwerdeführerin herauszugeben und davon gefertigte Kopien zu vernichten seien. Im Übrigen verwarf es die Beschwerde als unbegründet.
2. Mit ihren Verfassungsbeschwerden wendet sich die Beschwerdeführerin einerseits gegen die Durchsuchungsanordnung vom 6. März 2017 sowie die in der Folge ergangenen Beschlüsse des Amtsgerichts München vom 21. März 2017 und des Landgerichts München I vom 8. Mai 2017 und 6. Juni 2017 und andererseits gegen die Bestätigung der Sicherstellung vom 21. März 2017 und die in der Folge ergangenen Beschlüsse des Amtsgerichts München vom 26. April 2017 sowie des Landgerichts München I vom 7. Juni 2017. Durch die Durchsuchungsanordnung sieht sie sich in ihren Grundrechten aus Art. 13 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 sowie Art. 20 Abs. 3 GG verletzt, durch die Bestätigung der Sicherstellung in ihren Grundrechten aus Art. 14 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.
Die Beschwerdeführerin ist der Ansicht, sie sei Trägerin der geltend gemachten Grundrechte. Dies folge aus der organisatorischen Eigenständigkeit ihrer deutschen Standorte, die im Geschäftsverkehr selbstständig nach außen auftreten würden. Außerdem seien die dort tätigen Rechtsanwälte - sowohl die Partner als auch die angestellten Rechtsanwälte - in der Mehrzahl deutsche Staatsangehörige mit einer Anwaltszulassung und einem Tätigkeitsmittelpunkt in der Bundesrepublik Deutschland. Deshalb und weil die in Art. 19 Abs. 3 GG enthaltene Regelung im Lichte der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und im Lichte internationaler Vereinbarungen, hier des deutsch-amerikanischen Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrages vom 29. Oktober 1954 auszulegen sei, sei sie eine inländische juristische Person im Sinne von Art. 19 Abs. 3 GG.
Im Wesentlichen beruft sich die Beschwerdeführerin darauf, dass Amtsgericht und Landgericht bei der Auslegung von § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO und § 160a StPO den grundrechtlichen Schutz der Vertrauensbeziehung zwischen Rechtsanwalt und Mandant nicht hinreichend berücksichtigt hätten. Für den Beschlagnahmeschutz aus § 97 StPO sei nicht die formale Stellung des Mandanten als Beschuldigter im konkreten Ermittlungsverfahren entscheidend, sondern allein das Vertrauensverhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandant, so dass sich die Anordnung der Durchsuchung wegen eines Beschlagnahmeverbotes als unverhältnismäßig und damit auch die Sicherstellung als verfassungswidrig erweise.
Die Beschwerdeführerin beantragt, die Ermittlungsbehörden im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 32 BVerfGG anzuweisen, die im Rahmen der Durchsuchung ihrer Kanzleiräumlichkeiten sichergestellten Unterlagen sowie die angefertigte Datensicherung - diese nach Löschung beziehungsweise Herausgabe der von dem in Belgien befindlichen Server heruntergeladenen Daten gemäß der Anordnung des Landgerichts München I - bei dem Amtsgericht München versiegelt zu hinterlegen, und ihnen jegliche Auswertung oder sonstige Verwendung der Unterlagen und der Datensicherung im Ermittlungsverfahren bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde zu untersagen.
Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung liegen vor.
1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde wäre von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 7, 367 <371>; 103, 41 <42>; 121, 1 <15>; 134, 138 <140 Rn. 6 m.w.N.>; stRspr).
Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde jedoch der Erfolg versagt bliebe (vgl. BVerfGE 105, 365 <371>; 106, 351 <355>; 121, 1 <17>; 125, 385 <393>; 126, 158 <168>; 129, 284 <298>; 132, 195 <232 f. Rn. 87>; stRspr). Die Folgenabwägung gemäß § 32 BVerfGG stützt sich mithin auf eine bloße Einschätzung der Entscheidungswirkungen (vgl. nur BVerfGE 94, 166 <217>).
2. Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet.
a) Die Beschwerdeführerin scheidet nicht offensichtlich als Trägerin der geltend gemachten Grundrechte aus. Nach Art. 19 Abs. 3 GG können sich regelmäßig nur inländische juristische Personen auf materielle Grundrechte berufen. Aus den vor ihr dargelegten Gründen erscheint es allerdings nicht ausgeschlossen, dass sie wegen ihres Kanzleistandorts in Deutschland jedenfalls wie eine inländische juristische Person im Sinne von Art. 19 Abs. 3 GG zu behandeln ist. Abschließend kann dies im Eilverfahren nicht geklärt werden.
b) In der Sache wirft die Verfassungsbeschwerde insbesondere die Frage auf, in welchem Umfang das im Rahmen von Art. 13 Abs. 1 GG zu berücksichtigende Vertrauensverhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandant mit Blick auf Art. 12 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG grundrechtlichen Schutz genießt und inwieweit in dieses Verhältnis durch staatliche Ermittlungsmaßnahmen wie beispielsweise eine Durchsuchung eingegriffen werden darf, wenn der Rechtsanwalt im Auftrag seines Mandanten mit einer internen Untersuchung befasst ist, auf deren Ergebnisse die Ermittlungsbehörden zugreifen möchten, weil sie sich davon weitergehende Erkenntnisse für ihre Ermittlungen in einem Verfahren versprechen, in welchem der Mandant zwar nicht formell Beschuldigter ist, das aber in unmittelbarem Zusammenhang mit den im Rahmen des Mandatsverhältnisses durchgeführten internen Ermittlungen steht. Auch dies kann im Eilverfahren nicht abschließend geklärt werden.
3. Im Rahmen der somit erforderlichen Folgenabwägung überwiegen die Gründe für den Erlass der einstweiligen Anordnung.
Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, könnte die Staatsanwaltschaft in der Zwischenzeit eine Auswertung des sichergestellten Materials vornehmen, ohne hierzu berechtigt zu sein. Dieser Zugriff der Strafverfolgungsbehörden auf die im Zuge der internen Ermittlungen erstellten und gesammelten Unterlagen und Daten könnte nicht nur zu einer - möglicherweise irreparablen - Beeinträchtigung des rechtlich geschützten Vertrauensverhältnisses (vgl. BVerfGE 113, 29 <49> m.w.N.) zwischen der Volkswagen AG und der Beschwerdeführerin führen. Auch andere Mandanten, die mit dem Ermittlungsverfahren in keinem Zusammenhang stehen, könnten im Falle einer Auswertung - zumal angesichts der medialen Aufmerksamkeit, die dem Fall zukommt - ihre Geschäftsgeheimnisse und persönlichen Daten bei der Beschwerdeführerin in Unsicherheit wähnen und deshalb ihre Aufträge zurückziehen (vgl. BVerfGE 105, 365 <372>; BVerfGK 1, 245 <248>). Dies gilt insbesondere für solche Mandanten, die die Beschwerdeführerin wie die Volkswagen AG mit internen Ermittlungen in ihren Unternehmen beauftragt haben, etwa um sich gegenüber staatlichen Ermittlungsbehörden zu positionieren. Schließlich könnten durch die Auswertung persönliche Daten unbeteiligter Dritter, insbesondere von Mitarbeitern der Volkswagen AG oder ihrer Tochtergesellschaften wie etwa der Audi AG, die ihre Daten in der Sphäre der Beschwerdeführerin sicher glaubten, zur Kenntnis der Strafverfolgungsbehörden gelangen.
Erginge dagegen die einstweilige Anordnung, erwiesen sich die Verfassungsbeschwerden später jedoch als unbegründet, würde damit lediglich eine Verzögerung der staatsanwaltlichen Ermittlungen für eine begrenzte Zeitspanne einhergehen. Ein Beweisverlust hinsichtlich der Informationen aus dem sichergestellten Material wäre nicht zu befürchten, wenn auch den Ermittlungsbehörden vorerst die Möglichkeit versperrt bliebe, mit Hilfe dieser Informationen weitere Ermittlungshandlungen vorzunehmen, die der Beweiserhebung oder der Verfahrenssicherung dienen. Bei Abwägung der jeweiligen Folgen wiegen die möglichen Nachteile für die Beschwerdeführerin schwerer als die durch den Erlass der einstweiligen Anordnung eintretende vorübergehende Beschränkung der staatlichen Strafverfolgung.
HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 834
Bearbeiter: Holger Mann