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HRRS-Nummer: HRRS 2005 Nr. 133

Bearbeiter: Stephan Schlegel

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 2001/02, Beschluss v. 03.09.2004, HRRS 2005 Nr. 133


BVerfG 2 BvR 2001/02 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 3. September 2004 (OLG Frankfurt/Main/LG Kassel)

Verfassungsbeschwerde gegen strafprozessuale Eröffnungsbeschlüsse (Subsidiarität; Ausnahme; keine Möglichkeit der Ausräumung im fachgerichtlichen Verfahren); Verbot der Doppelbestrafung (ne bis in idem; Verbot doppelter Strafverfolgung); Anfechtung des Eröffnungsbeschlusses (Zweitverfahren; Geltendmachung des Fehlens von nova); Nötigung durch Verfahrenshandlungen von Strafverteidigern; Justizgewährleistungsanspruch (Rechtsschutz durch Rechtsmittel gegen die Verletzung von Verfahrensgrundrechten).

Art. 103 Abs. 3 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 210 Abs. 1 StPO; § 211 StPO; § 304 Abs. 1 StPO; § 240 StGB; § 119 Abs. 5 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Gewährleistung des Art. 103 Abs. 3 GG bietet nicht nur Schutz vor Doppelbestrafung, sondern auch Schutz vor doppelter Strafverfolgung (vgl. BVerfGE 12, 62, 66).

2. Die Vorschrift des § 210 Abs. 1 StPO ist verfassungskonform einengend dahingehend auszulegen, dass sie im Fall eines Eröffnungsbeschlusses in einem Zweitverfahren dann nicht anzuwenden ist, wenn der Angeklagte das Fehlen von nova geltend macht.

3. Zwar können strafprozessuale Eröffnungsbeschlüsse nach feststehender Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich nicht Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein (vgl. BVerfGE 1, 9, 10; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Dezember 1998 - 2 BvQ 37/98), was auch für Beschwerdeentscheidungen gilt, die auf solche Beschlüsse hin ergehen. Etwas anderes gilt jedoch ausnahmsweise dann, wenn die angegriffene Entscheidung nach dem substantiierten Vortrag des Beschwerdeführers Verfassungsrecht verletzen kann und die verfassungsrechtliche Beschwer im weiteren fachgerichtlichen Verfahren nicht folgenlos ausgeräumt werden könnte.

4. Die Gerichte haben bei Auslegung und Anwendung der Vorschriften über die Rechtsmittel die verfassungsrechtliche Grundentscheidung zu berücksichtigen, bei einer möglichen Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten frühzeitigen und effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten (vgl. BVerfGE - Plenum - 107, 395, 407 f.). Der aus dem Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit den Grundrechten abgeleitete allgemeine Justizgewährungsanspruch gewährleistet dabei Rechtsschutz gegen die erstmalige Verletzung von Verfahrensgrundrechten durch ein Gericht.

Entscheidungstenor

1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 7. November 2002 - 3 Ws 1171/02 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem allgemeinen Justizgewährungsanspruch. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.

2. Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Rechtsschutzmöglichkeiten bei einer möglichen Verletzung der verfassungsrechtlichen Gewährleistung ne bis in idem (Art. 103 Abs. 3 GG) im Falle erneuter Anklageerhebung und Eröffnung des Hauptverfahrens nach einem unanfechtbaren Nichteröffnungsbeschlusses (§§ 204, 211 StPO).

I.

1. Die Staatsanwaltschaft Kassel erhob durch Anklageschrift vom 15. Januar 2002 zum zweiten Mal Anklage gegen den Beschwerdeführer, der als Rechtsanwalt und Strafverteidiger tätig ist. Sie legte ihm ein - gemeinsam mit dem mitangeschuldigten Rechtsanwalt L. begangenes - Vergehen der Nötigung zur Last.

a) Der Beschwerdeführer war Pflichtverteidiger des wegen versuchten Mordes angeklagten M. A. Bei einer Kontrolle am 19. Oktober 1998 wurden in den Schuhen des Angeklagten zwei Sägeblätter und ein Bargeldbetrag entdeckt. Der Vorsitzende beabsichtigte - gestützt auf § 119 Abs. 5 StPO -, für die weitere Hauptverhandlung als besondere Sicherungsmaßnahme Fußfesselung anzuordnen. Er suchte daher vor Beginn der Hauptverhandlung am 26. Oktober 1998 das Gespräch mit den über diesen Vorfall bereits informierten Verteidigern. Im Verlaufe dieses Gesprächs, dessen Einzelheiten von den Beteiligten unterschiedlich geschildert werden, soll der Verteidiger des mitangeklagten Zwillingsbruders des M. A. - Rechtsanwalt L. - der beabsichtigten Anordnung der Fußfesselung vehement widersprochen und bekundet haben, er werde an der weiteren Hauptverhandlung nicht teilnehmen, wenn die Fesselung tatsächlich angeordnet werde. Für den Fall der Aussetzung der Hauptverhandlung befürchtete der Vorsitzende die Haftentlassung der beiden vielfach vorbestraften Angeklagten, die sich zu diesem Zeitpunkt bereits seit nahezu fünf Jahren in Untersuchungshaft befanden, und beschloss daher, von der Anordnung der Fesselung abzusehen. Mehr als sieben Monate später, am 88. Verhandlungstag, dem 31. Mai 1999, drang der Angeklagte M. A. in einer Verhandlungspause in das Beratungszimmer ein, stürzte sich auf den Vorsitzenden und versuchte, ihm einen mitgeführten Kugelschreiber mit festgestellter Mine ins Auge zu stechen, was misslang. Das Strafverfahren endete mit einer - zwischenzeitlich rechtskräftigen - Verurteilung der beiden Angeklagten, deren Sicherungsverwahrung angeordnet wurde.

b) Mit Anklageschrift vom 23. Januar 2000 hatte die Staatsanwaltschaft erstmals Anklage zum Landgericht Kassel erhoben. Die Ankündigung des Verteidigers L., er lasse dann den Prozess ohne Rücksicht auf die Kosten platzen, habe sich der Beschwerdeführer zu eigen gemacht. Diese Handlung und das gemeinsame Verlassen des Sitzungssaals durch die beiden Pflichtverteidiger wurde als gemeinschaftlich begangene Nötigung in einem besonders schweren Fall gewürdigt.

c) Mit Beschluss vom 15. Mai 2000 hat das Landgericht Kassel die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt und zur Begründung ausgeführt, dass auf der Grundlage dieser Sachverhaltsschilderung eine Nötigung nach § 240 StGB nicht anzunehmen sei. Das Verhalten der angeschuldigten Rechtsanwälte stelle sich zwar insgesamt als prozessordnungswidrig, nicht jedoch als strafbar dar.

d) Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft, in der auch angekündigt wurde, ein vorläufiges Berufsverbot gemäß § 132 a StPO bei dem Beschwerdegericht beantragen zu wollen, hat der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main am 11. Juli 2000 als unbegründet verworfen (abgedruckt, in: StV 2001, S. 407 ff.). Zutreffend habe die Strafkammer hinreichenden Tatverdacht aus rechtlichen Gründen verneint. Die Gegenvorstellung blieb erfolglos.

e) Das Landgericht Kassel eröffnete durch Beschluss vom 12. März 2002 das Hauptverfahren und ließ die zweite Anklage der Staatsanwaltschaft Kassel vom 15. Januar 2002 zur Hauptverhandlung zu. Die hiergegen gerichtete Beschwerde vom 11. Oktober 2002 verwarf das Oberlandesgericht Frankfurt am Main durch Beschluss vom 7. November 2002 als unzulässig. Eine Anfechtungsmöglichkeit sei auch in Fällen ausgeschlossen, in denen der Angeschuldigte das Nichtvorliegen von nova bemängele. § 211 StPO regele einen Sonderfall des Strafklageverbrauchs, nicht eine besondere Form des Eröffnungsbeschlusses.

II.

Mit der fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerde greift der Beschwerdeführer den Eröffnungsbeschluss des Landgerichts und den Beschluss des Oberlandesgerichts an. Der Eröffnungsbeschluss des Landgerichts verkenne die Ausstrahlungswirkung des Art. 103 Abs. 3 GG, weil er sich nicht mit der Frage des Vorliegens von nova auseinander setze. Das Oberlandesgericht habe durch Verwerfung der Beschwerde als unzulässig Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verletzt. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes fordere bei einem möglichen Verstoß gegen das Gebot des ne bis in idem eine frühzeitige Prüfung der Frage, ob der Verbrauch der Strafklage einer Fortführung des Verfahrens entgegen stehe.

III.

Die Regierung des Landes Hessen hat von einer Äußerung abgesehen.

IV.

Die Verfassungsbeschwerde wird zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchst. b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist insoweit in einer die Zuständigkeit der Kammer ergebenden Weise offensichtlich begründet. Die für die Beurteilung maßgebenden Fragen zur Auslegung hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts vom 7. November 2002 verletzt den allgemeinen Justizgewährungsanspruch.

1. Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht der Grundsatz der Subsidiarität nicht entgegen. Strafprozessuale Eröffnungsbeschlüsse können zwar nach feststehender Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich nicht Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein (vgl. BVerfGE 1, 9 <10>; 25, 336 <343>; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Dezember 1998 - 2 BvQ 37/98 -; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 5. März 1998 - 2 BvQ 5/98 -; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 751/89 -, NJW 1989, S. 2464). Für Beschwerdeentscheidungen, die auf solche Beschlüsse hin ergehen, kann grundsätzlich nichts anderes gelten. Anders ist es aber dann, wenn die Entscheidung nach dem substantiierten Vortrag des Beschwerdeführers Verfassungsrecht verletzen kann und die verfassungsrechtliche Beschwer im weiteren fachgerichtlichen Verfahren nicht folgenlos ausgeräumt werden könnte. Dies wird freilich auf Ausnahmefälle beschränkt sein.

Dass es hier so liegt, ist Folge des besonderen Umfangs der aus Art. 103 Abs. 3 GG folgenden Gewährleistung. Die Vorschrift bietet nicht nur Schutz vor Doppelbestrafung, sondern auch Schutz vor doppelter Strafverfolgung (vgl. BVerfGE 12, 62 <66>; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Stand: 42. Lfg. 2/2003, Art. 103 Abs. 3 GG, Rn. 301; Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. III, Art. 103 Abs. 3 GG, Rn. 178; Schulze-Fielitz, in: Dreier, Art. 103 Abs. 3 GG, Rn. 25). Für den von Verfassungs wegen gebotenen Schutz vor erneuter Strafverfolgung kommt die erst am Ende des fachgerichtlichen Verfahrens stehende Kontrolle durch das Revisionsgericht zu spät. Dies gilt hier um so mehr, als der Beschwerdeführer einen Antrag der Staatsanwaltschaft auf Verhängung eines vorläufigen Berufsverbots zu gewärtigen hat.

2. Das Oberlandesgericht hat mit seiner Entscheidung, die gegen den Eröffnungsbeschluss gerichtete Beschwerde als unzulässig zu verwerfen, den Justizgewährungsanspruch verletzt und zugleich die Ausstrahlungswirkung des Art. 103 Abs. 3 GG verkannt.

a) Die Gerichte haben bei Auslegung und Anwendung der Vorschriften über die Rechtsmittel die verfassungsrechtliche Grundentscheidung zu berücksichtigen, bei einer möglichen Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten frühzeitigen und effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten (vgl. BVerfGE - Plenum - 107, 395 <407 f.>). Der aus dem Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit den Grundrechten abgeleitete allgemeine Justizgewährungsanspruch gewährleistet dabei Rechtsschutz gegen die erstmalige Verletzung von Verfahrensgrundrechten durch ein Gericht.

b) Danach ist die Auslegung und Anwendung der Vorschrift des § 210 Abs. 1 StPO auf die vorliegende Fallkonstellation verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar. § 210 Abs. 1 StPO schließt die Anfechtbarkeit einer positiven Entscheidung des Gerichts über die Eröffnung des Hauptverfahrens aus. Er ist insoweit eine Spezialregelung im Sinne des § 304 Abs. 1 StPO a.E., der die Beschwerde gegen alle gerichtlichen Beschlüsse eröffnet, wenn das Gesetz sie nicht ausdrücklich einer Anfechtung entzieht. Schon dieser systematische Zusammenhang spricht dafür, die (Ausnahme-)Vorschrift des § 210 Abs. 1 StPO im Rahmen der durch den Wortlaut gezogenen Grenze verfassungskonform einengend auszulegen und den Fall eines Eröffnungsbeschlusses in einem Zweitverfahren nicht in seinen Anwendungsbereich einzubeziehen. Dies entspricht auch dem durch Art. 103 Abs. 3 GG vorgegebenen Sinn und Zweck der einfach-rechtlichen Regelung. Die Verfassungsbestimmung bezweckt es, "die Person davor zu schützen, ein weiteres Mal der existentiellen Unsicherheit eines Strafverfahrens ausgesetzt zu werden" (Nolte, a.a.O., Rn. 215). Ausdruck dieser Schutzwirkung muss es sein, eine zeitnahe justizförmige Überprüfung der (erneuten) gerichtlichen Eröffnungsentscheidung zu ermöglichen. Im Hinblick auf die Bedeutung des Strafklageverbrauchs kann nicht offen bleiben, ob im Zeitpunkt der Eröffnungsentscheidung tatsächlich nova vorlagen oder nicht. Dies hat das Oberlandesgericht verkannt.

V.

Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen ergibt sich aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

HRRS-Nummer: HRRS 2005 Nr. 133

Externe Fundstellen: StV 2005, 196

Bearbeiter: Stephan Schlegel