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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
September 2013
14. Jahrgang
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Von RiAG Dr. Lorenz Leitmeier, München
Das Bundesverfassungsgericht richtete am 19.3.2013 in seinem lange erwarteten Urteil zu § 257c StPO,[1] der die Verständigung ("Deal") regelt, eine "sehr ernst gemeinte Mahnung an alle Akteure in einem Strafverfahren": Bei der Anwendung dieser Vorschrift bestünden "erhebliche Vollzugsdefizite"; in den konkreten Fällen hätten sich die Gerichte und Staatsanwälte nicht ausreichend an die strengen gesetzlichen Vorgaben gehalten, die angegriffenen Urteile hob das Bundesverfassungsgericht deshalb auf.
§ 257c StPO selbst wurde indes als verfassungskonform bewertet. Das BVerfG bemängelte also die Praxis, nicht die Vorschrift: § 257c StPO sei stimmig[2] und habe umfangreiche Schutzmechanismen, um die verfassungsrechtlichen Vorgaben einzuhalten.[3]
Das Bundesverfassungsgericht erachtet § 257c StPO zurecht in seiner Struktur als grundgesetzkonform. Die gegen die Verständigung seit jeher vorgetragenen Angriffe der Rechtswissenschaft vermögen rechtstheoretisch nicht zu überzeugen; zuletzt versuchte Hans Theile, mit den Mitteln der Systemtheorie die Verständigung als unvereinbar mit der Amtsermittlung nachzuweisen.[4] Nachdem bereits Kant gegen das Konzept der Absprachen bemüht wurde,[5] soll damit auch Luhmann Kronzeuge gegen § 257c StPO sein; die geisteswissenschaftliche Elite gegen einen Paragraphen also. Bemüht man sich indes um eine Analyse von § 257c StPO, ohne gleich die Giganten der (Rechts-)Philosophie als vermeintlich notwendige Zeugen aufzurufen, zeigt sich: § 257c StPO ist mitnichten der gern zitierte Paradigmenwechsel[6] im Strafprozess; die Vorschrift ist noch nicht einmal ein großer Fremdkörper, sie fügt sich sogar einigermaßen harmonisch in die StPO ein - mit Einschränkungen freilich:
§ 244 Abs. 2 StPO gibt dem Gericht die vollständige Ermittlung des entscheidungsrelevanten Sachverhalts auf.[7] Viele Einwände, die gegen das Zusammenspiel von § 244 Abs. 2 StPO und § 257c StPO vorgebracht werden, basieren auf einer unsauberen Interpretation des § 244 Abs. 2 StPO: Die Beweisaufnahme ist nämlich von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind - von Bedeutung sind aber keine Beweismittel, die den ermittelten Sachverhalt redundant bestätigen. Die "materielle Wahrheit" als Basis des Strafurteils kann nur einmal ermittelt werden: Ist eine Überzeugung ohne begründete Zweifel gebildet, können Beweismittel mit dem Beweisthema "Sachverhalt laut Anklage" keinen Erkenntnisgewinn mehr liefern.
Auch unter Geltung des § 257c StPO ist im Strafprozess allein maßgeblich der "materiell wahre Sachverhalt", auch wenn - hier ist Theile Recht zu geben[8] - dieses "ontische Substrat" keiner vollständig erfassen kann: Jeder Prozessbeteiligte ist in der überkomplexen Wirklichkeit mit seinen jeweiligen Standpunkten und Perspektiven individuell orientiert, alle richten ihr Handeln auf etwas aus, das jeder nur interpretiert, das letztlich aber keinem zugänglich ist: die Wahrheit.[9]
Auch wenn niemand von einem archimedischen Punkt aus den "ontischen Sachverhalt" objektiv wahrnehmen kann - das Gericht muss die Existenz und Erkennbarkeit der materiellen Wahrheit jedenfalls annehmen, sie ist unverzichtbarer Bezugspunkt des Strafverfahrens: Wie soll die materielle Wahrheit aus dem Strafprozess entfernt werden, ohne ihn sinnlos zu machen? Was soll von Amts wegen ermittelt werden, wenn nicht das, was (aus Sicht des Gerichts) "tatsächlich geschehen" ist?
Wer die materielle Wahrheit als Bezugspunkt des Strafverfahrens eliminiert, verlässt die Verfassung: "Das im Grundgesetz verankerte Schuldprinzip und die mit ihm verbundene Pflicht zur Erforschung der materiellen Wahrheit sowie der Grundsatz des fairen, rechtsstaatlichen Verfahrens, die Unschuldsvermutung und die Neutralitätspflicht des Gerichts schließen es aus, die Handhabung der Wahrheitserforschung, die rechtliche Subsumtion und die Grundsätze der Strafzumessung zur freien Disposition der Verfahrensbeteiligten und des Gerichts zu stellen."[10]
§ 257c StPO setzt die materielle Wahrheit als Bezugspunkt voraus, weil anders der Strafprozess nicht funktionieren würde: Die Anklage ist die Vorgabe, an der das Verfahren ausgerichtet wird, sie ist immer schon "in der Welt". Die Beweisaufnahme ist so vorzunehmen, dass der Tatvorwurf aus der Anklage nachgewiesen oder eben nicht nachgewiesen wird. Von Amts wegen ist - nur, aber intensiv - das vorgeworfene Tatgeschehen zu ermitteln; das Gericht muss herausfinden, ob das a priori "in den Raum gestellte" Ergebnis bestätigt wird (oder nicht).
Wer also die materielle Wahrheit als einzigen Bezugspunkt des Strafverfahrens bestreitet, verfehlt den Umstand, dass in keiner Strafverhandlung "ergebnisoffen" verhandelt wird - es ist immer die Anklage, es ist immer der konkrete Tatvorwurf, der die Verhandlung strukturiert. Alles, was für dessen Ermittlung nicht "erforderlich" ist, bleibt außen vor. Dies zeigt sich schön an § 244 Abs. 3 S. 2 StPO: wenn eine Tatsache "schon erwiesen" ist, dann ist keine Beweisaufnahme nötig.
Amtsermittlung gemäß § 244 Abs. 2 StPO heißt eben nicht, alle (im Wortsinn:) möglichen Beweismittel auszuschöpfen, sondern in Richtung auf einen bereits (vermeintlich) ermittelten Sachverhalt. Die Vorgabe bilden §§ 200 Abs. 1 S. 1, 264 StPO: Konkret dieser Sachverhalt ist nachzuweisen (oder nicht), kein "irgendwie gearteter" Sachverhalt.
Damit ist es aber falsch, eine abgekürzte ("schlanke") Beweisaufnahme per se als Verstoß gegen 244 Abs. 2 StPO zu werten; ist der Sachverhalt durch ein oder mehrere Beweismittel bereits zur Überzeugung des Gerichts ermittelt, dann sind weitere Beweiserhebungen schlicht nicht "erforderlich".
Und noch nicht einmal zugespitzt bedeutet dies: Wenn der Sachverhalt aufgrund eines glaubhaften Geständnisses erwiesen ist, dann ist er erwiesen. Die Vorgabe des § 244 Abs. 2 StPO ist damit erfüllt: Umfassende Sachaufklärung soll sicherstellen, dass der Überzeugungsbildung die Ausschöpfung der erreichbaren Erkenntnismittel vorausgeht; die freie richterliche Überzeugung - die zur Aufklärungspflicht in einem Spannungsverhältnis steht -lässt es aber zu, dass allein das (glaubhafte) Geständnis den Richter überzeugt.[11]
Ein Urteil kann im besten Einklang mit § 244 Abs. 2 StPO allein auf ein Geständnis gestützt werden; im Strafprozess passiert dies jeden Tag unzählige Male. Andernfalls müsste man bei jeder Schleusung nach dem glaubhaften Geständnis des Schleusers auch die geschleusten Personen als Zeugen vernehmen (unter möglicherweise großem Aufwand). Oder soll § 244 Abs. 2 StPO wirklich fordern, dass das Gericht bei eingestandenen Schwarzfahrten auch die Kontrolleure vernimmt? Alle Selbstauskunftsformulare verliest? Bei Sexualdelikten erspart ein glaubhaftes Geständnis nicht nur eine überflüssige, sondern zumeist auch schmerzhafte Vernehmung der (des) Geschädigten.[12]
Wenn ein Geständnis glaubhaft ist und den Richter überzeugt: Dann ist diese "Überzeugung" durch die Einholung weiterer Beweismittel zumeist nicht steigerbar. Auch § 244 Abs. 2 StPO fordert nicht, dass diese Überzeugung "abgesichert" wird durch weitere Beweise. Bei Körperverletzungsdelikten würde die Vernehmung weiterer Zeugen zumeist den (aufgeklärten) Sachverhalt wieder verworrener machen. Freilich ist hier zuzugeben, dass dieses Modell von der (idealtypischen) Annahme ausgeht, der Angeklagte als der "Tatnächste" ist zu besseren Angaben in der Lage als die Zeugen. Dass der ermittelte Sachverhalt auf einer Verständigung basiert, ist bei der Beweiswürdigung noch nicht (in Gestalt einer Ausgleichsregel etwa), hingegen bei der Strafzumessung zu berücksichtigen.
Deutlich wird die Bedeutung eines Geständnisses bei einer Selbstanzeige: Wenn sich ein Täter selbst des vielfachen Betrugs bezichtigt und die Schadenssummen nennt, erfordert § 244 Abs. 2 StPO sicher nicht, dass alle Geschädigten vernommen werden. Hier reichen vereinzelte Vernehmungen aus. Wenn also der Betreiber einer Modelagentur gesteht, über drei Jahre lang an die 100 Models auf Basis falscher Angaben (unter)bezahlt zu haben, dann reicht es, einige Zeugen zu vernehmen. Unstreitige Grenze ist jedoch immer, dass der Angeklagte nicht einfach den Irrtum eines anderen und dessen Motivationskausalität "verbindlich gestehen" kann. Wenn es Zweifel am Geständnis gibt, dann ist (weiter) zu ermitteln.
Amtsermittlung und die (hohe) Bedeutung eines Geständnisses sind also kein Gegensatz: Ein glaubhaftes Geständnis ist eine StPO-konforme "Abkürzung" durch die Strafverhandlung, bringt die Übereinstimmung der Anklage mit dem "ontischen Substrat", das bestraft wird. Wer etwas anderes fordert, erhebt Redundanz zum ungeschriebenen Prinzip der Strafprozessordnung.
Wenn der Sachverhalt immer durch eine umfassende Beweisaufnahme zu ermitteln wäre, müsste auch das Rechtsinstitut Strafbefehl abgeschafft werden. §§ 407 ff. StPO funktionieren so, wie das die Gegner einer Verständigung nicht akzeptieren wollen: Sie legen ein (fiktives) Geständnis zugrunde, der Sachverhalt wird als zugestanden angesehen. Das Gleiche kann über § 257c StPO rechtsverbindlich in die Hauptverhandlung eingeführt werden.[13]
Wer § 257c StPO für einen Fremdkörper hält, muss auch §§ 407 ff. StPO für Fremdkörper halten; sie basieren auf demselben Prinzip: Konkrete Strafe gegen (unterstelltes) Geständnis.
Was aber für einfache und eindeutige Fälle gilt, kann nicht prinzipiell unzulässig sein in komplexeren Fällen: Der Richter kann sich die Überzeugung von Schuld oder Unschuld des Anschuldigten dadurch bilden, dass sich dieser geständig einlässt - und dies mit dem Inhalt der Ermittlungsakten übereinstimmt.
Neben der verkürzten Auslegung von § 244 Abs. 2 StPO beruht die vermeintliche Unvereinbarkeit der §§ 244 Abs. 2 und § 257c StPO auch auf einer Fehlinterpretation von § 257c StPO:
"Konsens" ist ein Wertbegriff. Unabhängig, wie man diesen Begriff genau definiert, eine Voraussetzung ist zwingend: Ein "Konsens" wird ohne Zwang herbeigeführt. Eine Einigung im normativen Sinne erfordert einen zwangfreien Diskurs, erfordert gleichrangige Gesprächspartner, erfordert eine symmetrische Struktur der Kommunikation. Damit ist aber klar: Im Strafprozess wird kein Konsens erzielt; eine größere Zwangsveranstaltung als eine Strafverhandlung gibt es nämlich kaum: Wie soll ein Angeklagter, dem eine Freiheitsstrafe von fünfzehn Jahren droht, zwangfrei zu einem Konsens kommen? Könnte er sich wirklich ohne Zwang einigen, würde er nur einem Freispruch zustimmen.
Die "ideale Kommunikation" kann man im Strafprozess nicht einmal als regulative Idee anstreben;[14] der Strafprozess ist vom Aufruf der Sache bis zur Rechtsmittelbelehrung strategisches Handeln, nicht kommunikatives Handeln. Weder bei der Sachverhaltsermittlung, noch bei der Rechtsfolge erzielen die Prozessbeteiligten einen Konsens im normativen Sinn: Ohne Frage ist die Wahrheit des Strafverfahrens ein Konstrukt und entsteht erst innerhalb des Strafverfahrens, indem mit unterschiedlichen Interessen über divergierende Wahrheitsbilder verhandelt wird.[15] Entscheidend aber ist: Es kommt allein auf "die Wahrheit" an, die das Gericht ermittelt; das Gericht einigt sich mit keinem Prozessbeteiligten auf eine bestimmte "materielle Wahrheit". § 261 StPO nimmt allein das Gericht in die Pflicht, es spricht nicht von Konsens. Auch § 257c StPO etabliert nichts anderes als die materielle Wahrheit, sondern setzt sie voraus: Was anders als der "wahre Sachverhalt" sollte Grund, Gegenstand und Bezugspunkt des Strafverfahrens sein?
Wahrheit kann im Strafverfahren niemals konsensual generiert werden: Einem Konsens kann sich jeder verweigern - was aber, wenn sich der Angeklagte nicht mit dem Gericht auf eine "Wahrheit" einigen kann? Ein "agree to disagree", einen Abbruch der Verhandlungen gibt es im Strafprozess nicht. Verteidigung und Staatsanwaltschaft können die Sicht des Gerichts beeinflussen, aber ihr Einverständnis ist nicht erforderlich.
Würde § 257c StPO die materielle Wahrheit durch einen "Konsens" ersetzen, könnten sich die Prozessbeteiligten unabhängig vom Tatgeschehen prinzipiell auf das einigen, was sie möchten - soll das ernsthaft im Strafprozess möglich sein? Sollte § 257c StPO wirklich einen solchen Wahrheitsbegriff als regulatives Ideal anstreben?
Auch die Systemtheorie gibt das nicht her: Theile argumentiert, dass ein einseitiges gerichtliches Wahrheitsbild die soziale Komplexität zu stark reduziere, dass die Form der Wahrheit dadurch unterkomplex werde[16] - dieses Argument verfehlt aber den Strafprozess: Es ist ein normatives Argument ("Das Strafverfahren sollte anders sein."), das an der Empirie vorbeigeht ("Das Strafverfahren ist aber so, wegen § 261 StPO."). Vom Sein auf das Sollen zu schließen ("naturalistischer Fehlschluss") ist genauso unmöglich wie umgekehrt.
Mit § 257c StPO hat sich der Gesetzgeber also nicht vom "traditionellen Prozessziel" verabschiedet:[17] Diese Vorschrift normiert kein "Konsens-Modell" im Rahmen einer (anzustrebenden) "idealen Sprechsituation"; sie normiert lediglich eine "Verständigung", bei der eine konkrete Rechtsfolge festgelegt wird, wenn der Angeklagte den Tatvorwurf anerkennt. Ein Strafverfahren ist und bleibt ein hoheitliches, immer "streitiges" Zwangsverfahren ohne Raum für Konsens.
Nicht haltbar ist daher die Aussage: "Grundlage eines im Wege der Verständigung erzielten Strafurteils ist eben nicht der materiell wahre Sachverhalt, sondern der Konsens der Verfahrensbeteiligten."[18] Wer den Konsens als leitendes Prinzip - ohne Bezug zu einem "materiell wahren Sachverhalt" - ansieht, der müsste nachweisen, dass sich die Verfahrensbeteiligten auch auf einen Freispruch wegen erwiesener Unschuld "einigen" können, ohne eine Beweisaufnahme durchzuführen. Spätestens an dieser Aufgabe wird das Konsensmodell scheitern.
Die gesamte Verhandlung steht unter dem Imperativ des strategischen Handelns, für den Angeklagten ist der
Strafprozess eine Risikoveranstaltung, er muss eine Prozesstaktik wählen und sie (bei guter Verteidigung) permanent anpassen: Reicht die Beweislage für eine Verurteilung? Macht Bestreiten Sinn? Erreicht er mit einem - möglicherweise taktischen - Geständnis eine mildere Strafe? Wenn ja, zu welchem Zeitpunkt erbringt ein Geständnis am meisten Strafmilderung? Ist es besser, gegenüber dem Staatsanwalt etwas einzuräumen, oder auf Fragen des Gerichts?
Im Strafprozess handelt jeder Angeklagte nach Maßgabe prozessualer Kosten und Nutzen. Das ist von der StPO so gewollt, jedem Angeklagten sind die Rechte dafür gegeben, dass er sie nutzt. Und was ein Geständnis "wert" ist, mit dem sich der Angeklagte der Anklage unterwirft, schildert jeder Verteidiger seinem Mandanten in der Erstberatung; darauf weist der Richter häufig nach Verlesung der Anklage hin.
Aus rechtsstaatlicher Sicht verbürgt § 257c StPO damit den Grundsatz des fairen Verfahrens: Er fasst das Strafzumessungskriterium "Geständnis" in konkrete, verbindliche Formen. Letztlich stärkt das die Rechte des Angeklagten, er hat sichere Optionen.
Rechtlicher Grund der Verbindlichkeit ist nicht der Vertragsgedanke: Verträge werden zwischen (strukturell) Freien und Gleichen geschlossen; im Strafprozess hingegen werden keine Verträge geschlossen, auch keine "Quasi-Verträge":[19] Im Strafprozess wird verurteilt oder freigesprochen.
Kaum jemand ist (strukturell) unfreier und ungleicher als der Angeklagte in einem Strafverfahren: Wenn er nicht kommt, wird er vorgeführt; wenn er gehen will, wird er aufgehalten; wenn er sich nicht "verständigt", wird er "streitig" verurteilt. Der Angeklagte kann nie gleichberechtigt mit den übrigen Prozessbeteiligten verhandeln, das "Spiel" ist prinzipiell asymmetrisch: Der Angeklagte ist der einzige, für den es wirklich "um etwas geht", nur er spielt mit Einsatz. Verträge erfordern Symmetrie, im Strafprozess herrscht Asymmetrie. Es gibt keine Augenhöhe im Machtgefälle.
Die Zustimmung des Angeklagten im Rahmen des § 257c StPO als vertragliche zu werten, ist deshalb genauso verfehlt wie das staatstheoretische Argument, man stimme durch seine bloße Anwesenheit in einem Land dessen Gesetzen implizit zu.[20] Wenn die Alternative der Verlust der Heimat ist, wenn die Alternative die "streitige" Verurteilung ist - dann ist "Zustimmung" rechtslogisch nur "Unterwerfung".
Rechtlicher Grund der Verbindlichkeit ist die "Bindung des Leviathan": Diese Bindung ist qualitativ keine andere als die Bindung an den Strafrahmen des Gesetzes, die das Gericht von Anfang an zu beachten hat. Die Bindung nach einer Verständigung ist lediglich konkreter, Ober- und Untergrenze liegen näher zusammen als bei dem entsprechenden Strafgesetz - weil der Sachverhalt aufgrund des Geständnisses eben genau(er) ermittelt ist, als dies der Gesetzgeber bei der abstrakten Fassung der Tatbestandsmerkmale zugrundelegen kann.
Dass das Gericht mit einer Verständigung keinen (Quasi-)Vertrag mit den übrigen Prozessbeteiligten schließt, zeigt auch der Vergleich mit dem Subordinationsvertrag im öffentlichen Recht: Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass der Angeklagte durch die Verständigung keine Rechte, keine Ansprüche erhält; er kann sich nur verbindlich darauf verlassen, dass die Strafe so und nicht höher ausfällt. Dieses Recht ist strukturell nicht mehr wert als das Recht, nach Eintritt der Rechtskraft nicht härter bestraft zu werden als tenoriert.
Auch § 257c Abs. 4 S. 3 StPO, der die Bindungswirkung bei gravierenden Änderungen wegfallen lässt, zeigt den Grundsatz des "fairen Verfahrens" - im Strafgericht als Ort strategischen Handelns kann sich der Angeklagte darauf verlassen, dass die Regeln nicht während des Spiels geändert werden.[21]
Interpretiert man § 244 Abs. 2 StPO und § 257c StPO im gezeigten Sinn, lassen sich beide Vorschriften zwanglos miteinander vereinbaren: § 244 Abs. 2 StPO wird Genüge getan, wenn der Sachverhalt aufgrund eines (von Amts wegen überprüften) glaubhaften Geständnisses festgestellt ist, der Angeklagte sich also durch ein Geständnis unterwirft.
Zwei Einschränkungen freilich gibt es; zwei Voraussetzungen müssen zwingend gegeben sein: Zunächst ist das "soll" in § 257c Abs. 2 S. 2 StPO als "muss" zu lesen. Der Angeklagte kann ein Geständnis taktisch in dem Sinne einsetzen, dass er damit eine mildere Strafe erreichen möchte - das ist Gerichtsalltag. Er kann allerdings das Geständnis nicht "frei verfügbar", ohne Rücksicht auf die materielle Wahrheit, als Verhandlungsmasse einsetzen. Der ermittelte Sachverhalt muss im Einklang mit dem Amtsermittlungsgrundsatz stehen - und das tut er nur, wenn er "wahr" ist. Wenn der Sachverhalt aber ohne Beweisaufnahme allein durch die Aussage des Angeklagten ermittelt wird, dann muss diese Einlassung zwingend ein Geständnis sein;[22] nur dann ist die Anklage bestätigt, nur dann ist die (umfassende) Beweisaufnahme nicht mehr "erforderlich" im Sinne des § 244 Abs. 2 StPO. Dies entspricht dem Grundgedanken der §§ 407ff. StPO, wonach der Angeklagte den - nach "Aktenlage" begründeten - Tatvorwurf akzeptieren ("gestehen") kann, indem er keinen Einspruch einlegt. Die richterliche Tatsachen- und Schuldfeststellung erfolgt auch hier, wenngleich auf "beschränkter schriftlicher Grundlage".[23]
Daraus ergibt sich ohne weiteres die zweite zwingende Voraussetzung: Das Gericht muss das Geständnis sorgfältig auf seine Glaubhaftigkeit prüfen. Dies freilich fordert
der BGH in ständiger Rechtsprechung;[24] das Bundesverfassungsgericht hat nunmehr unmissverständlich klargestellt, dass inhaltsleere Formalgeständnisse wertlos sind: "Vor dem Hintergrund des Regelungsziels, die Grundsätze der Amtsaufklärungspflicht des Gerichts und der richterlichen Überzeugungsbildung unangetastet zu lassen, kann § 257c Abs. 1 Satz 2 StPO (…) nur so verstanden werden, dass das verständigungsbasierte Geständnis zwingend auf seine Richtigkeit zu überprüfen ist. Diese Überprüfung hat sich (…) durch Beweiserhebung in der Hauptverhandlung (vgl. § 261 StPO) zu vollziehen."[25]
Im übrigen gab sich auch bislang kein gewissenhafter Richter unhinterfragt mit der Verteidigererklärung zufrieden: "Mein Mandant räumt den Sachverhalt in objektiver und subjektiver Hinsicht ein." Als "Zustimmung" zur Anklage und als Basis für § 257c StPO reicht das nicht.
Die Probleme des § 257c StPO liegen nicht rechtstheoretisch auf der Ebene des Gesetzes, sondern - entsprechend dem dritten Leitsatz des BVerfG-Urteils - auf der Ebene des Vollzugs.
§ 257c Abs. 1 S. 2 i.V.m. § 244 Abs. 2 StPO ist dementsprechend bei richtiger Auslegung und Anwendung eine problemlose Verweisung: § 244 Abs. 2 StPO meint nicht Redundanz, sondern Vollständigkeit; § 257c StPO meint nicht Konsens, sondern Unterwerfung. § 244 Abs. 2 StPO fordert nicht, so lange zu ermitteln, bis der Sachverhalt mehrfach bestätigt ist, sondern aufgeklärt, möglicherweise durch ein Geständnis; § 257c StPO fordert nicht, dass sich der Angeklagte mit dem Staat auf eine Strafe (zwangsfrei) "einigt", sondern dass er sich der Anklage und folgend einer bestimmten Strafe "unterwirft", zwingend durch ein Geständnis.
§ 257c StPO erreicht Rechtssicherheit: Wurde bislang ein Geständnis "strafmildernd berücksichtigt", kennt der Angeklagte nun die Rechtsfolge genauer. Zwei Bedingungen sind für eine Verständigung gemäß § 257c StPO allerdings zu erfüllen: Der Angeklagte "soll" nicht nur gestehen, er "muss" es; andernfalls würde die gerichtliche Pflicht zur Ermittlung der materiellen Wahrheit gegen den Willen des Gesetzgebers zurückgedrängt.[26]
Und um eine sichere Übereinstimmung des Sachverhalts mit der Anklage zu gewährleisten, muss das Gericht das Geständnis kritisch prüfen, nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts durch Beweiserhebung in der Hauptverhandlung. Ist das Gericht dann von einem Geständnis überzeugt, ist eine weitere Beweisaufnahme nicht mehr "erforderlich".
Wer hingegen den (vermeintlich) konsensualen Verfahrenstypus, der (vermeintlich) von § 257c StPO etabliert wird, für unvereinbar hält mit den "hergebrachten" Grundsätzen des Strafprozesses, der kann nicht dessen Ausbau als eigenständige "zweite Spur", also dessen Verstärkung fordern.[27]
Letztlich ist dies die Pointe von Theiles Aufsatz: Vertritt man die These, wonach § 257c StPO einen "Fremdkörper" im Verfahrensrecht darstellt, ist es paradox, die Verständigung ausbauen zu wollen. In Wahrheit zeigt dieser Wunsch nur, dass die "Fremdkörper-These" falsch ist - § 257c StPO bricht nicht mit den Grundsätzen der StPO.
[1] BVerfG, 2 BvR 2628/10 vom 19.3.2013, Rn. 1 - 132 = HRRS 2013 Nr. 222.
[2] BVerfG, 2 BvR 2628/10 vom 19.3.2013, Rn. 72 = HRRS 2013 Nr. 222.
[3] BVerfG, 2 BvR 2628/10 vom 19.3.2013, Rn. 118 = HRRS 2013 Nr. 222.
[4] NStZ 2012, 666-671.
[5] Schünemann, Konsens im Strafverfahren - Performativer Selbstwiderspruch, Chimäre oder konkrete Utopie?, in: Risse im Fundament, Flammen im Gebälk: Zum Zustand des kontinentaleuropäischen Strafverfahrens, Berlin (2010), S. 98.
[6] Im Sinne von Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Chicago (1962).
[7] Nur Meyer-Goßner, StPO, 56. Aufl. (2013), § 244 Rdn. 11 m.w.N.
[8] NStZ 2012, 666, 667.
[9] Vgl. Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, Fünftes Buch, Wir Furchtlosen, S. 374: "Die Welt ist uns vielmehr noch einmal ´unendlich´ geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, daß sie unendliche Interpretationen in sich schließt.", in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New York (1980).
[10] BVerfG, 2 BvR 2628/10 vom 19.3.2013, Leitsatz 1; vgl. auch Rn. 6 ff., 35, 44, 53, 65, 73, 103, 110 = HRRS 2013 Nr. 222.
[11] Fischer , Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Aufl. (2008), § 244 Rn. 28f. m.w.N.
[12] Im Einzelfall kann freilich gerade die Vernehmung der (des) Geschädigten auch psychisch entlastend für die (den) Geschädigte(n) sein.
[13] BVerfG, 2 BvR 2628/10 vom 19.3.2013, Rn. 104 = HRRS 2013 Nr. 222.
[14] So aber Theile NStZ 2012, 666, 670.
[15] Theile NStZ 2012, 666, 667, unter Verweis auf Lesch, StrafprozessR, 2. Aufl. (2002), Kap. 2, Rn. 248/72, Kap. 1 Rn 4.
[16] NStZ 2012, 666, 667.
[17] So aber Theile NStZ 2012, 666, 668. Dagegen klar BVerfG, 2 BvR 2628/10 vom 19.3.2013, Rn. 68 = HRRS 2013 Nr. 222.
[18] Theile NStZ 2012, 666, 669.
[19] Begriff aus BGH, Beschluss vom 3.3.2005 - GSSt 1/04, NJW 2005, 1440 = HRRS 2005 Nr. 310. "Vertragsähnliche Erledigungsformen" strikt ablehnend BVerfG, 2 BvR 2628/10 vom 19.3.2013, Rn. 105 = HRRS 2013 Nr. 222.
[20] Zutreffend Ottmann ZfP 33 (1986), 22-32.
[21] Vgl. BVerfG, 2 BvR 2628/10 vom 19.3.2013, Rn. 111 = HRRS 2013 Nr. 222.
[22] Meyer-Goßner, StPO, 56. Aufl. (2013), § 257c Rdn. 16.
[23] Meyer-Goßner, StPO, 56. Aufl. (2013), Vor § 407 Rdn. 2.
[24] Nur BGH, Beschluss vom 3.3.2005 - GSSt 1/04 - NJW 2005, 1440, 1442 = HRRS 2005 Nr. 310.
[25] BVerfG, 2 BvR 2628/10 vom 19.3.2013, Rn. 71 = HRRS 2013 Nr. 222.
[26] BT-Drucks. 16/12310, S. 8.
[27] So aber Theile NStZ 2012, 666, 671.