Alle Ausgaben der HRRS, Aufsätze und Anmerkungen ab dem Jahr 2000.
HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Oktober 2004
5. Jahrgang
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Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
mit der insgesamt 118 Entscheidungen umfassenden Oktober-Ausgabe publiziert die HRRS erneut zahlreiche vom BGH zur Veröffentlichung in BGHSt oder BGHR vorgesehene Entscheidungen. Hervorzuheben sind u. A. die Entscheidung zur Versagung der Strafrahmenverschiebung infolge verminderter Schuldfähigkeit und die Vorlage zur Auslegung des § 69 StGB, in welcher der BGH die HRRS erstmals zitiert.
Mit der Abhandlung von Rübenstahl/Gaede publizieren wir einen Aufsatz, der die zahlreich gestellten Fragen und Probleme der Vorlage des dritten Strafsenats zur Unwirksamkeit des absprachebedingten Rechtsmittelverzichts umfassend aufarbeitet. Positiv bemerkenswerte Rationalisierungstendenzen der BGH-Rechtsprechung des zurückliegenden Jahres bringen Ihnen die Anmerkungen von Ventzke näher.
Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion
Karsten Gaede
Wiss. Ass.
1. Das Abhören und das Aufzeichnen des Telephongesprächs eines Inhaftierten stellt einen Eingriff in Art. 8 EMRK dar. Gleiches gilt für die Aufbewahrung derart erlangter Aufzeichnungen.
2. Der Ausdruck "gesetzlich vorgesehen" erfordert zum einen, dass die fragliche Maßnahme eine Grundlage im nationalen Recht besitzt. Zum anderen bezieht er sich auf die Qualität der fraglichen Rechtsgrundlage: Die Rechtsgrundlage muss für den Betroffenen zugänglich sein, sie muss ihn in die Lage versetzen, die für ihn möglichen Konsequenzen vorhersehen zu können und sie muss mit der rule of law vereinbar sein. Ein Gesetz genügt dabei der Vorhersehbarkeit im Sinne des Art. 8 EMRK, wenn es so präzise abgefasst ist, dass die betroffene Person - wenn nötig mit kundiger Beratung - ihr Verhalten nach dem Gesetz ausrichten kann.
3. Hinsichtlich der Kommunikationsüberwachung durch staatliche Stellen muss das nationale Recht dem Einzelnen infolge des Mangels an einer öffentlichen Kontrolle und wegen der Gefahr des Missbrauchs einen Schutz gegen willkürliche Eingriffe in seine von Art. 8 EMRK eröffneten Konventionsrechte bieten. Das Abhören und andere Formen der Überwachung von Telephongesprächen stellen einen schweren Eingriff in das Privatleben und die private Korrespondenz dar und müssen daher auf einem Gesetz beruhen, das besonders präzise beschaffen ist. Es ist von essenzieller Bedeutung, dass klare und detaillierte Regelungen existieren. Diese Anforderungen erstrecken sich auch auf Regelungen hinsichtlich der Löschung etwaiger Aufzeichnungen.
Die Auslegung des § 3 Abs. 1 Nr. 3 GjS, wonach es auf
die Einsehbarkeit des Ladengeschäfts ankommt und nicht auf die Einsehbarkeit der indizierten Schriften selbst, verstößt nicht gegen das Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2 GG.
1. Der Schutzbereich der Informationsfreiheit erstreckt sich auch auf die Beschaffung und Nutzung technischer Einrichtungen, die eine an die Allgemeinheit gerichtete Information erst individuell erschließen (vgl. BVerfGE 90, 27, 32).
2. Der Widerruf der Erlaubnis zum Besitz eines Zubehörteils für den Empfang von Videotext in der Strafhaft greift in das von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleistete Grundrecht des Gefangenen ein, sich aus allgemein zugänglichen Quellen, zu denen Videotextseiten gehören, ungehindert zu unterrichten.
3. Beim Widerruf einer Besitzerlaubnis gemäß § 70 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 Nr. 2 StVollzG hat die Justizvollzugsanstalt den Grundsatz des Vertrauensschutzes als Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips zu beachten (vgl. BVerfGE 72, 200, 257). Es ist im Einzelfall zu prüfen, ob die Belange des Allgemeinwohls oder das Interesse des Gefangenen am Fortbestand einer Rechtslage, auf die er sich eingerichtet hat und auf die er vertraut, den Vorrang verdienen.
4. Es ist von Verfassungs wegen nicht gefordert, dass der Widerruf einer Besitzerlaubnis nur auf Sicherheitsgründe gestützt werden darf, die speziell in der Person des betroffenen Gefangenen liegen. Ausreichend ist die grundsätzlich gegebenen Eignung eines Gegenstands für sicherheits- oder ordnungsgefährdende Verwendungen, sofern konkrete derartige Verwendungen nicht oder nur mit einem von der Anstalt nicht erwartbaren Aufwand durch Kontrollmaßnahmen ausgeschlossen werden könnten
1. Die Streichung eines blinden Schöffen von der Schöffenliste verstößt nicht gegen das Verbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, Behinderte zu benachteiligen.
2. Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG will den Schutz des allgemeinen Gleichheitssatzes für bestimmte Personengruppen verstärken und der staatlichen Gewalt insoweit engere Grenzen vorgeben, als die Behinderung nicht als Anknüpfungspunkt für eine benachteiligende Ungleichbehandlung dienen darf (vgl. BVerfGE 85, 191, 206; 96, 288 302). Dieses Diskriminierungsverbot ist jedoch nicht schrankenlos. Fehlen einer Person gerade wegen ihrer Behinderung bestimmte körperliche Fähigkeiten, die unerlässliche Voraussetzung für die Wahrnehmung eines Rechts sind, liegt in der Verweigerung dieses Rechts kein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot. Eine rechtliche Schlechterstellung Behinderter ist danach zulässig, wenn behinderungsbezogene Besonderheiten es zwingend erfordern (BVerfGE 85, 191, 207; 99, 341, 357).
3. Die Ansicht, nach der es der strafprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz verlange, dass sich jedes Mitglied des Spruchkörpers selbst und unmittelbar einen - auch optischen - Eindruck von den Verfahrensbeteiligten machen könne, ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden.
4. Das Streichungsverfahren aus der Schöffenliste erfüllt mit seinem Erfordernis einer förmlichen richterliche Entscheidung nach Anhörung des betroffenen Schöffen, die aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG gebotene verfahrensmäßige und organisatorische Absicherung der Rechte Behinderter.
1. Das Gewicht des Eingriffs durch eine Wohnungsdurchsuchung und der verfassungsrechtlichen Bedeutung
des Schutzes der räumlichen Privatsphäre erfordert es, dass der richterlichen Anordnung gemäß Art. 13 Abs. 2 GG eine eigenverantwortliche Prüfung der Eingriffsvoraussetzungen zugrunde liegt. Die richterliche Durchsuchungsanordnung ist keine bloße Formsache (vgl. BVerfGE 57, 346, 355).
2. Um die Durchführung der Eingriffsmaßnahme messbar und kontrollierbar zu gestalten (vgl. BVerfGE 20, 162, 224; 103, 142, 151), muss der Beschluss insbesondere den Tatvorwurf so beschreiben, dass der äußere Rahmen abgesteckt wird, innerhalb dessen die Zwangsmaßnahme durchzuführen ist. Der Richter muss die aufzuklärende Straftat, wenn auch kurz, doch so genau umschreiben, wie es nach den Umständen des Einzelfalls möglich ist (vgl. BVerfGE 20, 162, 224; 42, 212, 220 f.).
3. Ein Durchsuchungsbefehl, der keinerlei tatsächliche Angaben über den Inhalt des Tatvorwurfs enthält und der zudem den Inhalt der konkret gesuchten Beweismittel nicht erkennen lässt, wird rechtsstaatlichen Anforderungen jedenfalls dann nicht gerecht, wenn solche Kennzeichnungen nach dem bisherigen Ergebnis der Ermittlungen ohne weiteres möglich und den Zwecken der Strafverfolgung nicht abträglich sind (vgl. BVerfGE 42, 212, 220 f.; 71, 64, 65).
4. Art. 19 Abs. 4 GG enthält ein Grundrecht auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt (vgl. BVerfGE 67, 43, 58; stRspr). Der Bürger hat einen Anspruch auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle in allen bestehenden Instanzen (vgl. BVerfGE 78, 88, 99; 96, 27, 39; stRspr). In Fällen tief greifender Grundrechtseingriffe - wie beispielsweise der Wohnungsdurchsuchung auf Grund richterlicher Anordnung -, in denen die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt sich nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene die gerichtliche Entscheidung in der von der Rechtsordnung vorgesehenen Instanz kaum erlangen kann, gebietet es effektiver Grundrechtsschutz, dass der Betroffene Gelegenheit erhält, die Berechtigung des schwerwiegenden, wenn auch nicht mehr fortwirkenden Grundrechtseingriffs gerichtlich klären zu lassen (vgl. BVerfGE 96, 27, 40). Das Rechtsmittelgericht darf ein von der jeweiligen Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel daher nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer "leer laufen" lassen (vgl. BVerfGE 78, 88, 99; 96, 27, 39). Diese Erwägungen gelten unabhängig davon, dass die Durchsuchung als solche im Hinblick auf die gegebenenfalls noch nicht abgeschlossene Durchsicht der sichergestellten Gegenstände gemäß § 110 StPO noch nicht beendet sein könnte.
1. Art. 3 Abs. 1 GG gebietet es, Gleiches gleich und Ungleiches seiner Eigenart entsprechend verschieden zu behandeln (BVerfGE 42, 64, 72; stRspr). Eine unterschiedliche Behandlung muss sich daher auf Unterschiede in den Sachverhalten zurückführen lassen, die es rechtfertigen, sie als im Hinblick auf die fragliche Behandlung ungleich anzusehen. Art. 3 Abs. 1 GG ist verletzt, wenn für eine vom Gesetzgeber vorgenommene Differenzierung ein einleuchtender Grund nicht auffindbar ist (vgl. BVerfGE 42, 374, 388; stRspr). Innerhalb dieser Grenzen ist es Sache des Gesetzgebers, diejenigen Sachverhalte auszuwählen, an die er dieselbe Rechtsfolge knüpft, die er also im Rechtssinn als gleich ansehen will (BVerfGE 75, 108, 157; 103, 310, 318).
2. Mit Rücksicht auf die unterschiedliche Bedeutung, die der Arbeit nach der Zweckbestimmung von Untersuchungs- und Strafhaft zukommt, war der Gesetzgeber nicht gehalten, die von erwachsenen Untersuchungsgefangenen geleistete Arbeit in gleicher Weise wie die Arbeit von Strafgefangenen anzuerkennen.
3. Ein Anspruch auf Entgeltangleichung folgt auch nicht aus der Unschuldsvermutung: dem Untersuchungsgefangenen wird mit der Bemessung des Entgelts für von ihm geleistete Arbeit weder Schuld zugewiesen noch eine Strafe auferlegt.
Die Terminierung fachgerichtlicher Entscheidungen entzieht sich der Regelung durch einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts.