HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 854
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi
Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 206/22, Beschluss v. 15.06.2022, HRRS 2022 Nr. 854
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Schwerin vom 15. Dezember 2021 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in sechs Fällen und wegen vorsätzlichen Handeltreibens mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und acht Monaten verurteilt und eine Einziehungsentscheidung getroffen. Die auf Verfahrensbeanstandungen und die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten ist unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
1. Der Erörterung bedarf nur der von dem Beschwerdeführer geltend gemachte Verstoß gegen § 243 Abs. 5 Satz 1 StPO. Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
Nach der Verlesung des Anklagesatzes teilte der Vorsitzende mit, dass Erörterungen zur Verfahrensbeendigung nach den §§ 202a, 212, 257c StPO stattgefunden hatten. In diesem Zusammenhang verlas er verschiedene Aktenvermerke und wies darauf hin, dass aufgrund der bisher durchgeführten Erörterungen Zeugen abgeladen worden seien. Im Anschluss daran widersprach ein Verteidiger der Erhebung und Verwertung verfahrensgegenständlicher „Encrochat-Daten“; außerdem stellte er „weitere Anträge“. Der Vorsitzende erklärte, dass eine Entscheidung über die Anträge zurückgestellt und die Sache „heute durch einen weiteren Verständigungsversuch vorangebracht werden“ solle, worauf beide Verteidiger und der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft sich zu einem „Erörterungsgespräch gemäß §§ 212, 202a, 257c StPO“ bereit erklärten. Die Hauptverhandlung wurde von 11:50 Uhr bis 14:10 Uhr unterbrochen. Der Vorsitzende teilte den Inhalt des in der Zwischenzeit geführten Erörterungsgesprächs mit. Danach hatte das Gericht eine Verständigung auf der Grundlage eines Vorschlags angeregt, den es bereits vor Beginn der Hauptverhandlung gemacht hatte. Der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft und die Verteidiger hatten zum Ausdruck gebracht, einer Verständigung auf dieser Grundlage nähertreten zu können. Die Verteidiger hatten dieses vorläufige Ergebnis mit dem Angeklagten erörtert und anschließend erklärt, dass dieser sich die vom Gericht vorgeschlagene Verständigung ebenfalls vorstellen könne, aber noch eine Nacht „über diesen Vorschlag schlafen“ wolle. Die Hauptverhandlung wurde unterbrochen.
Am nächsten Sitzungstag erklärten die Verteidiger, dass der Angeklagte die Verständigung mittragen werde, was dieser auf Nachfrage des Vorsitzenden bestätigte. Der Vorsitzende unterbreitete dem Angeklagten, den Verteidigern und der Staatsanwaltschaft einen entsprechenden Verständigungsvorschlag und belehrte den Angeklagten gemäß § 257c Abs. 4 und 5 StPO über Voraussetzungen und Folgen einer Abweichung von der Verständigung sowie darüber, dass es ihm in jedem Fall freistehe, ein Rechtsmittel gegen das Urteil einzulegen. Der Angeklagte erklärte, den Verständigungsvorschlag und die Belehrungen verstanden zu haben. Der Vorsitzende gab sodann Gelegenheit, zu dem gerichtlichen Verständigungsvorschlag Stellung zu nehmen. Der Angeklagte, seine beiden Verteidiger und der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft stimmten dem Vorschlag zu. Der Vorsitzende stellte fest, dass die vom Gericht vorgeschlagene Verständigung damit zustande gekommen sei. Nach einer Unterbrechung der Hauptverhandlung wies er den Angeklagten gemäß § 243 Abs. 5 Satz 1 StPO darauf hin, dass es ihm freistehe, sich zur Sache und zu seinen persönlichen Verhältnissen zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen. Der Angeklagte war zur Äußerung bereit. Einer seiner Verteidiger trug eine „verschriftete Einlassung“ des Angeklagten vor, die dieser sich zu eigen machte.
Die Revision sieht eine Verletzung des § 243 Abs. 5 Satz 1 StPO darin, dass der Angeklagte nicht unmittelbar nach der Mitteilung gemäß § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO, sondern erst nach dem Zustandekommen der Verständigung aufgrund der weiteren Erörterungen in der Hauptverhandlung über sein Schweigerecht belehrt wurde.
2. Die Rüge ist unbegründet.
Soll - wie hier - im Zusammenhang mit der Mitteilung gemäß § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO (erneut) in Erörterungen mit dem Ziel einer Verständigung (§ 257c StPO) eingetreten werden, ist der Vorsitzende nicht verpflichtet, den Angeklagten zunächst über sein Schweigerecht zu belehren (§ 243 Abs. 5 Satz 1 StPO).
Den Regelungen des § 243 StPO über den Gang der Hauptverhandlung lässt sich eine solche Verpflichtung nicht entnehmen. Daraus ergibt sich nur, dass der Angeklagte nach der Mitteilung gemäß Abs. 4 Satz 1 und vor seiner Vernehmung zur Sache (Abs. 5 Satz 2) darauf hinzuweisen ist, dass es ihm freistehe, sich zu der Anklage zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen (Abs. 5 Satz 1). Für den Fall, dass bereits vor der Vernehmung des Angeklagten zur Sache Erörterungen über eine mögliche Verständigung geführt werden sollen, sieht die Vorschrift eine Belehrung des Angeklagten über sein Schweigerecht demgegenüber nicht vor.
Das entspricht der Intention des Gesetzgebers. Durch das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29. Juli 2009 (BGBl. I S. 2353) sollte unter anderem klargestellt werden, dass eine Verständigung zu jedem Zeitpunkt nach der Eröffnung des Hauptverfahrens, also auch in der Hauptverhandlung getroffen werden kann (vgl. BT-Drucks. 16/13095, S. 2). Der Gesetzgeber hatte mithin im Blick, dass es im Anschluss an die Mitteilung gemäß § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO und vor der Vernehmung des Angeklagten zur Sache zu einer Verständigung kommen kann, zumal diese gerade dazu dient, die Beweisaufnahme abzukürzen bzw. überflüssig zu machen, und deshalb regelmäßig zu Beginn der Hauptverhandlung - nicht unbedingt erst im Zusammenhang mit der Vernehmung des Angeklagten zur Sache oder nach Eintritt in die Beweisaufnahme - getroffen wird (vgl. LR-StPO/Stuckenberg, 27. Aufl., § 257c Rn. 29). Er hat sich gleichwohl nicht veranlasst gesehen, für diesen Fall eine Belehrung des Angeklagten über sein Schweigerecht vorzuschreiben.
Dies trägt Sinn und Zweck des § 243 Abs. 5 Satz 1 StPO Rechnung. Die Belehrung des Angeklagten über sein Schweigerecht soll ihm seine Selbstbelastungsfreiheit vor Augen führen, bevor er zur Sache vernommen und in die Beweisaufnahme eingetreten wird. Ihm soll bewusst sein, dass die Angaben, die er im Rahmen der Vernehmung macht, unter Umständen zu seinem Nachteil gewertet werden können und er deshalb die Möglichkeit hat, sich nicht zur Sache einzulassen, ohne dass dies für ihn nachteilig ist. Die Selbstbelastungsfreiheit des Angeklagten wird demgegenüber nicht berührt, falls im Anschluss an die Mitteilung gemäß § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO Erörterungen stattfinden, die in eine Verständigung münden. Denn dabei geht es naturgemäß nur um hypothetische Erwägungen. Der Angeklagte macht in diesem Zusammenhang ebenso wenig Angaben zur Sache wie im Rahmen entsprechender Erörterungen nach den §§ 202a, 212 StPO vor der Hauptverhandlung. Das gilt insbesondere dann, wenn ihm - wie hier - für den Fall eines Geständnisses die Verhängung einer Strafe unter Angabe einer Ober- und Untergrenze in Aussicht gestellt wird. Das Einverständnis des Angeklagten mit dem Verständigungsvorschlag stellt noch keine Einlassung zur Sache dar, insbesondere kein Geständnis und noch nicht einmal ein Indiz für seine Schuld. Entgegen der von der Revision vertretenen Auffassung entfaltet der Angeklagte in Fällen wie dem hier in Rede stehenden durch seine Zustimmung zu der Verständigung mithin keine „massiven Selbstbelastungsaktivitäten“. Seine Selbstbelastungsfreiheit wird dadurch gewahrt, dass er stets vor seiner Vernehmung zur Sache über sein Schweigerecht zu belehren ist.
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 854
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi