HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 509
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 599/15, Beschluss v. 15.02.2016, HRRS 2016 Nr. 509
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Dresden vom 8. September 2015 gemäß § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen in 17 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts nahm der Angeklagte an nicht mehr feststellbaren Zeitpunkten zwischen dem 26. Juli 2006 und dem 31. Juli 2012 sexuelle Handlungen an der am 29. Oktober 1996 geborenen Nebenklägerin S. I. vor, bei der es sich um die Tochter seiner jetzigen Verlobten handelt. Das Landgericht sieht den insgesamt von seinem Schweigerecht Gebrauch machenden Angeklagten ausschließlich aufgrund der Angaben der Nebenklägerin als überführt an.
2. Die der Verurteilung zugrundeliegende Beweiswürdigung hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand (§ 261 StPO). Die Würdigung der Aussage der Nebenklägerin als einziger Belastungszeugin erfüllt die strengen Anforderungen in Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen nicht (vgl. etwa BGH, Urteile vom 29. Juli 1998 - 1 StR 94/98, BGHSt 44, 153, 158 f.; vom 12. Dezember 2012 - 5 StR 544/12, NStZ-RR 2013, 119; vom 10. Oktober 2012 - 5 StR 316/12, NStZ 2013, 57).
a) Die Urteilsgründe enthalten schon keine hinreichende Darstellung der Aussage der Nebenklägerin mit den zugehörigen Details, die dem Revisionsgericht eine Überprüfung der Aussagequalität und -konstanz ermöglichen würde. Auch mit Blick auf die detailarmen Sachverhaltsfeststellungen hätte es zumindest einer inhaltlichen Darlegung der Aussage der Nebenklägerin vor der Staatsanwaltschaft bedurft, zumal die Nebenklägerin nach zwei vorangegangenen polizeilichen Vernehmungen und schriftlichen Ausführungen gegenüber der Polizeibeamtin „erstmals in ihrer staatsanwaltschaftlichen Zeugenvernehmung und dann bei der Befragung durch die Sachverständige in der Lage“ war, konkret über die Vorfälle zu sprechen (UA S. 11). Entgegen den Ausführungen des Generalbundesanwalts ist dem Urteil auch nicht hinreichend zu entnehmen, dass jene früheren Angaben der Nebenklägerin mit denjenigen übereingestimmt haben, die sie im Rahmen ihrer Exploration vor der zur Beurteilung ihrer Glaubwürdigkeit beauftragten Sachverständigen gemacht hat.
b) Hinzu kommt, dass die vor der Erstattung der Strafanzeige durch die Nebenklägerin erfolgten Offenbarungen gegenüber ihrer jüngeren Schwester C. sowie gegenüber einer Mitarbeiterin des Kinder- und Jugendnotdienstes nicht genügend in Bezug auf die Anzeigemotivation erörtert werden, um mögliche Falschbelastungsmotive nachvollziehbar ausschließen zu können.
Folgende besondere Umstände hätten mit Blick auf etwaige suggestive Einflüsse, aber auch auf eine denkbare Motivation der Nebenklägerin, den Angeklagten aus der Wohnung der Mutter zu verdrängen, einer eingehenderen Darstellung und beweisrechtlichen Würdigung bedurft:
aa) Das Urteil teilt mit, dass die ältere Schwester der Nebenklägerin, die Zeugin S. I., bereits im Jahr 2009 - nachdem sie sich zunächst an den Kinder- und Jugendnotdienst gewandt hatte - aus der Wohnung ihrer Mutter ausgezogen sei. Hierzu hat sie in der Hauptverhandlung als Grund benannt, den Angeklagten als aggressiv und gewalttätig empfunden zu haben. Demgegenüber hat die Mitarbeiterin des Jugendamtes bekundet, S. habe damals einen sexuellen Missbrauch angedeutet, ohne jedoch konkret zu werden. Aus den letzten Therapieunterlagen ergebe sich, dass sie „nunmehr klar benenne“, von dem Angeklagten sexuell belästigt worden zu sein. Nach Aussage der polizeilichen Ermittlungsführerin wiederum ist S. I. bei ihren polizeilichen Vernehmungen zunächst kaum in der Lage gewesen, Angaben zu machen, hat „bei der Konfrontation mit den Tatvorwürfen“ geweint und schließlich sexuelle Handlungen seitens des Angeklagten ihr gegenüber verneint. Das Urteil verhält sich nicht dazu, ob und gegebenenfalls welche Angaben die Zeugin hierzu in der Hauptverhandlung gemacht hat.
bb) Nach Aussage der Jugendamtsmitarbeiterin haben die Nebenklägerin und ihre jüngere Schwester C. am 22. März 2012 beim Kinder- und Jugendnotdienst ohne Konkretisierungen angegeben, sie seien beide durch den Angeklagten sexuell belästigt worden. Unter Einbeziehung ihrer Mutter seien die Mädchen zunächst in Obhut genommen worden. Es sei vereinbart worden, dass der Angeklagte aus der Wohnung ausziehe; er habe sich aber dennoch zumindest zeitweise weiterhin in der Wohnung aufgehalten. Die Nebenklägerin sei am 4. April 2012 wieder in die mütterliche Wohnung zurückgekehrt und schließlich zum 1. August 2012 endgültig ausgezogen. Nachdem ihre Mutter in der Folgezeit zum Angeklagten gehalten habe, habe sie am 23. April 2013 im Rahmen eines Nothilfegesprächs angekündigt, den Angeklagten wegen der sexuellen Übergriffe anzuzeigen. In der Hauptverhandlung hat sich die zu diesem Zeitpunkt 19 Jahre alte Nebenklägerin „nicht mehr genau erinnern“ können, ob die letzte Tat vor oder nach ihrer Inobhutnahme vorgefallen sei, wie sie auch insgesamt nicht in der Lage war, die Tatzeiten näher als vom Landgericht festgestellt (Tatzeitraum zwischen dem 26. Juli 2006 und dem 31. Juli 2012) zu konkretisieren.
cc) Die jüngere Schwester der Nebenklägerin, die Zeugin C. I., hat den Angaben der polizeilichen Ermittlungsführerin zufolge bei ihrer polizeilichen Vernehmung verneint, dass der Angeklagte ihr gegenüber sexuelle Handlungen vorgenommen habe. Welche Angaben sie hierzu in der Hauptverhandlung gemacht hat, wird im Urteil nicht wiedergegeben.
c) Das Landgericht hat suggestive Einflüsse auf die Nebenklägerin lediglich im Zusammenhang mit einem sexuellen Missbrauch einer weiteren Schwester der Nebenklägerin durch einen Nachbarn im Jahr 2002 erörtert und verneint. Etwaige gegenseitige suggestive Beeinflussungen der Nebenklägerin sowie ihrer Schwestern C. und S. hat es jedoch nicht in den Blick genommen.
d) Schließlich teilt das Urteil nicht mit, welche Angaben die in der Hauptverhandlung vernommene Mutter zu den von der Nebenklägerin geschilderten Rahmenbedingungen bei den Taten 1 bis 4 gemacht hat und wie diese zu würdigen sind. Danach habe der sexuelle Missbrauch auf dem „nachtfertig“ bereiteten Schlafsofa im Wohnzimmer stattgefunden, wobei die Nebenklägerin zwischen ihrer Mutter und dem Angeklagten unter dessen Decke gelegen habe. Ihre Mutter habe dabei häufig mit ihrem Laptop gespielt oder Fernsehen geschaut und sei zum Teil „weggedöst“.
3. Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung.
HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 509
Externe Fundstellen: StV 2017, 5
Bearbeiter: Christian Becker