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HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 715

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 107/14, Beschluss v. 25.05.2016, HRRS 2016 Nr. 715


BGH 5 StR 107/14 - Beschluss vom 25. Mai 2016 (LG Itzehoe)

Keine Arzneimitteleigenschaft bei gesundheitsschädlichen Stoffen (synthetische Cannabinoide); Wegfall der Strafbarkeit beim Inverkehrbringen von pflanzlichen Raucherzeugnissen unter Verwendung nicht zugelassener Stoffe.

§ 2 Abs. 1 AMG; § 52 Abs. 2 Nr. 1 VTabakG

Leitsätze des Bearbeiters

1. Synthetische Cannabinoide ohne therapeutischen oder prophylaktischen Nutzen können im Lichte der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht als Arzneimittel im Sinne des § 2 Abs. 1 AMG angesehen werden, weil bzw. soweit sie in ihren Wirkungen der menschlichen Gesundheit nicht zuträglich, sondern im Gegenteil gesundheitsschädlich sind. Der Senat ist im Rahmen der richtlinienkonformen Auslegung des Arzneimittelbegriffs nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AMG an die im Vorabentscheidungsverfahren durch den Gerichtshof der Europäischen Union vorgenommene Auslegung der Humanarzneimittel-Richtlinie gebunden (vgl. bereits BGH HRRS 2016 Nr. 248).

2. Soweit der Senat zuvor vertreten hat, dass eine Strafbarkeit wegen gewerbsmäßigen Inverkehrbringens von Tabakerzeugnissen unter Verwendung nicht zugelassener Stoffe in Betracht gekommen wäre (§ 52 Abs. 2 Nr. 1, § 20 Abs. 1 Nr. 1, 2 VTabakG, vgl. BGH HRRS 2015 Nr. 23), ist das Vorläufige Tabakgesetz nach Art. 8 Abs. 3 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie über Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse vom 4. April 2016 am 20. Mai 2016 außer Kraft getreten. Das mit diesem Artikelgesetz neu eingeführte, im Wesentlichen gleichfalls am 20. Mai 2016 in Kraft getretene Gesetz über Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse (Tabakerzeugnisgesetz - TabakerzG) vom 4. April 2016 enthält keine Strafbestimmungen, die den § 52 Abs. 2 Nr. 1, § 20 Abs. 1 Nr. 1, 2 VTabakG inhaltlich entsprechen, also das Inverkehrbringen von pflanzlichen Raucherzeugnissen unter Verwendung nicht zugelassener Stoffe pönalisieren.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Itzehoe vom 15. November 2013 nach § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen vorsätzlichen Inverkehrbringens bedenklicher Arzneimittel in 87 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt und Wertersatzverfall in Höhe von 200.000 € angeordnet. Die hiergegen gerichtete und auf die allgemeine Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat - nach Erledigung eines Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof der Europäischen Union (vgl. BGH, Beschluss vom 8. April 2014 - 5 StR 107/14, PharmR 2014, 296) sowie eines Anfrageverfahrens nach § 132 Abs. 3 Satz 1 GVG (vgl. BGH, Beschlüsse vom 5. November 2014 - 5 StR 107/14, PharmR 2015, 33; vom 20. Januar 2015 - 3 ARs 28/14, PharmR 2015, 239; vom 23. Dezember 2015 - 2 ARs 434/14, PharmR 2016, 84) - Erfolg.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts bestellte und verkaufte der Angeklagte von Mai 2010 bis Mai 2011 zunächst allein über seinen Onlineshop und nach dessen Aufgabe im Oktober und November 2012 mit einem Mittäter fertig verpackte Tüten mit bis zu 3 g Kräutermischungen aus getrocknetem Pflanzenmaterial, dem verschiedene, dem Betäubungsmittelgesetz zum damaligen Zeitpunkt weitgehend noch nicht unterfallende synthetische Cannabinoide zugesetzt waren. Der Verkauf erfolgte mit der Bestimmung, dass die Mischungen von den Kunden „durch Rauchen (z.B. in Form von Joints)“ zur Erzielung einer Rauschwirkung konsumiert werden sollten (UA S. 4, 227). Der Angeklagte informierte sich über die Rechtslage und gelangte zu der Erkenntnis, dass es einen illegalen Bereich gebe. Er vertraute jedoch auf die Angaben der Hersteller, wonach der Vertrieb der Mischungen legal sei. Behördliche Auskünfte oder anderweitigen Rechtsrat holte er nicht ein (UA S. 5).

Eine positive Wirkung, etwa einen therapeutischen oder prophylaktischen Nutzen, hatte das Rauchen der Kräutermischungen nicht. Vielmehr war es gesundheitsgefährdend. Nach Auffassung des Landgerichts handelte es sich bei den Kräutermischungen im Hinblick auf deren physiologische Funktionen durch pharmakologische Wirkung um Funktionsarzneimittel im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AMG; ein therapeutischer Nutzen oder eine positive Beeinflussung sei nicht erforderlich (vgl. UA S. 225).

2. Der Schuldspruch hat keinen Bestand.

Die vom Angeklagten vertriebenen Kräutermischungen können im Lichte der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Urteil vom 10. Juli 2014 - C-358/13; C-181/14, NStZ 2014, 461) nicht als Arzneimittel im Sinne des § 2 Abs. 1 AMG angesehen werden, weil sie in ihren Wirkungen der menschlichen Gesundheit nicht zuträglich, sondern im Gegenteil gesundheitsschädlich sind. Der Senat ist im Rahmen der richtlinienkonformen Auslegung des Arzneimittelbegriffs nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AMG an die im Vorabentscheidungsverfahren durch den Gerichtshof der Europäischen Union vorgenommene Auslegung der Humanarzneimittel-Richtlinie gebunden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 13. August 2014 - 2 StR 22/13 Rn. 3 f.; vom 4. November 2015 - 4 StR 403/14, PharmR 2016, 13; Urteile vom 4. September 2014 - 3 StR 437/12, PharmR 2015, 264 Rn. 15 f.; vom 23. Dezember 2015 - 2 StR 525/13, NJW 2016, 1251 Rn. 21 f. [zum Abdruck in BGHSt vorgesehen]; Grabitz/Hilf/Nettesheim, 58. EL, Art. 267 AEUV Rn. 102). Danach ist sowohl der Arzneimittelbegriff in Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der genannten Richtlinie als auch der nahezu wortgleiche § 2 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AMG dahin auszulegen, dass keine Stoffe erfasst werden, deren Wirkungen sich - wie hier - auf eine schlichte Beeinflussung der physiologischen Funktionen beschränken, ohne dass sie geeignet wären, der menschlichen Gesundheit zuträglich zu sein, und die nur ihrer Rauschwirkung wegen konsumiert werden und dabei gar gesundheitsschädlich sind (vgl. EuGH, aaO sowie BGH, Beschluss vom 13. August 2014 - 2 StR 22/13, aaO; Urteile vom 4. September 2014 - 3 StR 437/12, aaO Rn. 10 ff.; vom 23. Dezember 2015 - 2 StR 525/13, aaO, jeweils mwN).

3. Der Senat sieht sich jedoch an einem Freispruch des Angeklagten gehindert.

a) Ausweislich der - insoweit unklaren - Urteilsgründe waren in den Kräutermischungen möglicherweise („oder“; z.B. UA S. 7, 8, 9) und „teilweise zusätzlich“ (z.B. UA S. 8, 9, 10) auch solche Cannabinoide enthalten, die zur Tatzeit schon der Anlage 2 zu § 1 Abs. 1 BtMG in der ab 22. Januar 2010 geltenden Fassung vom 18. Dezember 2009 (BGBl. I S. 3944) unterfielen (JWH 018, JWH 019, JWH 073 und CP 47, [CP] 497). Gegebenenfalls kommt eine Strafbarkeit wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln nach § 29 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 BtMG in Betracht (vgl. auch BGH, Beschluss vom 13. August 2014 - 2 StR 22/13, aaO; Urteile vom 14. Januar 2015 - 1 StR 302/13, BGHSt 60, 134; vom 15. Oktober 2015 - 1 StR 317/15).

b) Soweit die verwendeten Cannabinoide zur Tatzeit nicht als Betäubungsmittel definiert waren, wäre nach der durch den Senat vertretenen Auffassung - an der festgehalten wird -, eine Strafbarkeit wegen gewerbsmäßigen Inverkehrbringens von Tabakerzeugnissen unter Verwendung nicht zugelassener Stoffe in Betracht gekommen (§ 52 Abs. 2 Nr. 1, § 20 Abs. 1 Nr. 1, 2 VTabakG). Jedoch ist das Vorläufige Tabakgesetz nach Art. 8 Abs. 3 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie über Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse vom 4. April 2016 (BGBl. I S. 569, 584) am 20. Mai 2016 außer Kraft getreten. Das mit diesem Artikelgesetz neu eingeführte, im Wesentlichen gleichfalls am 20. Mai 2016 in Kraft getretene Gesetz über Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse (Tabakerzeugnisgesetz - TabakerzG) vom 4. April 2016 (BGBl. I S. 569) enthält keine Strafbestimmungen, die den § 52 Abs. 2 Nr. 1, § 20 Abs. 1 Nr. 1, 2 VTabakG inhaltlich entsprechen, also das Inverkehrbringen von pflanzlichen Raucherzeugnissen unter Verwendung nicht zugelassener Stoffe pönalisieren. Die in § 34 Abs. 1 Nr. 9 und 10 TabakerzG aufgenommenen Strafvorschriften betreffen vielmehr den - hier nicht einschlägigen - Schutz vor irreführenden Vertriebsformen (§ 18 Abs. 2 Satz 1, Abs. 5 Satz 1, 2 TabakerzG). Entsprechendes gilt für die Verordnung über Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse (Tabakerzeugnisverordnung - TabakerzV) vom 27. April 2016 (BGBl. I S. 980). Mangels Unrechtskontinuität können die Taten des Angeklagten damit nicht mehr unter dem Aspekt des verbotenen Inverkehrbringens von Tabakerzeugnissen ähnlichen Waren bzw. nach neuer Terminologie (vgl. § 2 Nr. 1, 2 TabakerzG) von verwandten Erzeugnissen strafrechtlich geahndet werden (§ 2 Abs. 3 StGB).

4. Der Senat hebt mit der Verurteilung die im vorgenannten Sinn lückenhaften Feststellungen insgesamt auf, um dem neuen Tatgericht in sich stimmige Feststellungen zu ermöglichen. Dieses wird sich mit der Zusammensetzung der durch den Angeklagten vertriebenen Kräutermischungen und deren Strafbarkeit nach § 29 BtMG im Zeitpunkt der Tat im Einzelnen auseinanderzusetzen haben. Als einheitliche Taten des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln kommen dabei die im angefochtenen Urteil bezeichneten Einkaufshandlungen des Angeklagten (UA S. 12 bis 16) in Betracht, wohingegen die Verkaufshandlungen aus den so beschafften Vorräten lediglich unselbständige Teilakte in Bezug auf den Handel mit der jeweiligen Gesamtmenge darstellen (st. Rspr., vgl. etwa BGH, Beschluss vom 7. Januar 1981 - 2 StR 618/80, BGHSt 30, 28, 31 mwN).

HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 715

Externe Fundstellen: StV 2017, 325

Bearbeiter: Christian Becker