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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 1222

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 244/21, Beschluss v. 13.10.2021, HRRS 2021 Nr. 1222


BGH 4 StR 244/21 - Beschluss vom 13. Oktober 2021 (LG Dortmund)

Mord (Eventualvorsatz: Abgrenzung zur bewussten Fahrlässigkeit, Gesamtschau, vorschnell bejahte Indizwirkung der objektiven Gefährlichkeit der Tathandlung; Rücktritt); gefährliche Eingriffe in den Straßenverkehr (bedingter Schädigungsvorsatz).

§ 211 StGB; § 315b StGB; § 15 StGB

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Dortmund vom 12. März 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit vorsätzlichem gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr, tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte und vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis zu der Freiheitsstrafe von fünf Jahren und neun Monaten verurteilt und eine Sperre für die Erteilung der Fahrerlaubnis verhängt. Hiergegen richtet sich die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts fuhr der mehrfach wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis vorbestrafte Angeklagte am 5. Dezember 2019 gegen 15.30 Uhr mit einem nicht auf ihn zugelassenen Pkw VW Touran innerorts in H., ohne über eine Fahrerlaubnis zu verfügen. Während der Fahrt telefonierte er mit einem Mobiltelefon. Wegen dieses Verstoßes wollte der beim Verkehrsdienst als Kraftradfahrer eingesetzte Polizeibeamte POK B. den Angeklagten kontrollieren. Der Angeklagte erkannte das polizeiliche Haltezeichen, setzte seine Fahrt jedoch gleichwohl fort, um nicht identifiziert und erneut wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis belangt zu werden. Der Polizeibeamte folgte unter Einsatz von Sonderzeichen dem Angeklagten, der diverse Fahrzeuge überholte, ohne dass es zu Unfällen kam und hierbei trotz des nicht unerheblichen Verkehrsaufkommens Geschwindigkeiten von bis zu 100 km/h bei weiterhin innerorts zulässigen 50 km/h erzielte.

Um 15.35 Uhr überholte POK B. das Fahrzeug des Angeklagten, indem er links auf die Gegenspur und um eine zwischen den Fahrspuren befindliche Verkehrsinsel herumfuhr. Nachdem sich der Polizeibeamte vor das Fahrzeug des Angeklagten gesetzt hatte, scherte dieser ruckartig knapp hinter dem Motorrad nach links aus und überholte es seinerseits. Kurz darauf kam es zu einem Rotlichtverstoß des Angeklagten, der schließlich den Ortsbereich verließ und die Fahrt auf einer Bundesstraße fortsetzte. Auch hier überholte er fortlaufend Fahrzeuge und beschleunigte über die erlaubten 70 km/h hinaus auf bis zu 130-150 km/h.

Um 15.36 Uhr setzte der Geschädigte POK B. erneut dazu an, den Angeklagten zu überholen. Dies wollte der Angeklagte verhindern. Als sich der Vorderreifen des Kraftrades nahezu auf der Höhe des Hinterreifens des Pkw des Angeklagten befand, zog dieser daher mit seinem Fahrzeug ohne verkehrsbedingten Anlass ebenfalls nach links auf die Gegenfahrbahn. Beide Fahrzeuge bewegten sich zu diesem Zeitpunkt mit ca. 130 km/h. Der Angeklagte lenkte seinen Pkw so weit nach links, bis er sich mit allen vier Reifen auf der Gegenspur befand. Der dadurch immer weiter nach links abgedrängte Geschädigte wich bis an den Außenrand der Gegenspur aus und bremste zugleich ab. Aufgrund seines fahrerischen Könnens gelang es ihm so, eine Kollision mit dem Pkw zu vermeiden, der sich ihm bis auf etwa einen Meter angenähert hatte.

Als der Angeklagte nach links ausscherte, erkannte er die Möglichkeit, dass es zu einer Kollision der beiden Fahrzeuge und infolgedessen oder im Zuge eines erzwungenen Ausweichversuchs des Geschädigten zu dessen Sturz mit tödlichen Folgen kommen könnte. Dies nahm er billigend in Kauf.

2. Die Verurteilung des Angeklagten wegen tateinheitlich begangenen versuchten Mordes hat keinen Bestand. Denn die Beweiserwägungen, mit denen das Landgericht einen bedingten Tötungsvorsatz bejaht hat, halten - unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs (vgl. BGH, Urteil vom 1. März 2018 ? 4 StR 399/17, BGHSt 63, 88, 93 mwN) - der rechtlichen Überprüfung nicht stand.

a) Bedingter Tötungsvorsatz ist gegeben, wenn der Täter den Tod als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und dies billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen zumindest mit dem Eintritt des Todes eines anderen Menschen abfindet, mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgültig oder an sich unerwünscht sein (Willenselement). Bewusste Fahrlässigkeit liegt dagegen vor, wenn der Täter mit der als möglich erkannten Tatbestandsverwirklichung nicht einverstanden ist und er ernsthaft und nicht nur vage darauf vertraut, der tatbestandliche Erfolg werde nicht eintreten (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 18. Juni 2020 ? 4 StR 482/19 Rn. 22 und vom 1. März 2018 ? 4 StR 399/17, BGHSt 63, 88, 93).

Ob der Täter nach diesen rechtlichen Maßstäben bedingt vorsätzlich gehandelt hat, ist in Bezug auf beide Vorsatzelemente in jedem Einzelfall umfassend zu prüfen und gegebenenfalls durch tatsächliche Feststellungen zu belegen. Die Prüfung, ob Vorsatz oder bewusste Fahrlässigkeit vorliegt, erfordert eine Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Umstände, wobei es vor allem bei der Würdigung des voluntativen Vorsatzelements regelmäßig erforderlich ist, dass sich das Tatgericht mit der Persönlichkeit des Täters auseinandersetzt und dessen psychische Verfassung bei der Tatbegehung, seine Motivlage und die für das Tatgeschehen bedeutsamen Umstände ? insbesondere die konkrete Angriffsweise ? mit in Betracht zieht. Im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtschau stellt die auf der Grundlage der dem Täter bekannten Umstände zu bestimmende objektive Gefährlichkeit der Tathandlung zwar einen wesentlichen Indikator sowohl für das kognitive als auch für das voluntative Vorsatzelement dar. Die Gefährlichkeit ist aber kein allein maßgebliches Kriterium für die Entscheidung, ob ein Täter mit bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt hat. Maßgeblich sind auch bei gefährlichen Handlungen stets die Umstände des Einzelfalles (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 18. Juni 2020 ? 4 StR 482/19 Rn. 23; Beschluss vom 18. Februar 2021 - 4 StR 266/20 Rn. 10).

b) Diesen Anforderungen werden die Ausführungen des Landgerichts zumindest zum Willenselement des bedingten Tötungsvorsatzes nicht gerecht. Das Landgericht hat wesentliche vorsatzkritische Umstände nicht in seine Betrachtung der subjektiven Tatseite eingestellt.

aa) Das voluntative Vorsatzelement hat die Strafkammer mit dem pauschalen Hinweis auf die „offensichtliche Lebensgefährlichkeit“ des Fahrverhaltens des Angeklagten bejaht. Dies genügt unter den festgestellten weiteren Umständen nicht, auch wenn das Landgericht rechtsfehlerfrei davon ausgegangen ist, der Angeklagte habe den Geschädigten abzudrängen versucht. Es hat jedoch nicht in den Blick genommen, dass der Geschädigte dem Angeklagten trotz des Verkehrsaufkommens bereits einige Zeit mit hoher Geschwindigkeit folgte und ihn erst etwa eine Minute zuvor innerorts mit einem schwierigen Fahrmanöver zu überholen vermochte. Durch die Verfolgung mit hoher Geschwindigkeit und insbesondere durch das gelungene Fahrmanöver kann jedoch das Vorstellungsbild des Angeklagten hinsichtlich des fahrerischen Könnens des Berufskraftradfahrers auch bei dem Abdrängversuch beeinflusst worden sein. Darin lag hier mit Blick auf die konkrete Angriffsweise ein erörterungsbedürftiger vorsatzkritischer Umstand.

bb) Bei der Würdigung der konkreten Angriffsweise hätte sich das Landgericht ferner damit auseinandersetzen müssen, weshalb der vom Angeklagten erkannte und gewahrt gebliebene Abstand von einem Meter zwischen den versetzt fahrenden Fahrzeugen der billigenden Inkaufnahme des Todes nicht entgegensteht. Insoweit ist die Beweiswürdigung jedenfalls deshalb lückenhaft, weil den Feststellungen kein Spurwechsel des Angeklagten etwa durch eine für den Geschädigten überraschende abrupte Lenkbewegung nach links, weiterhin kein auf ein Rammen angelegtes Fahrverhalten zu entnehmen ist.

cc) Es kommt daher nicht mehr entscheidungserheblich darauf an, dass das Landgericht zum Fahrverhalten des Angeklagten rechtsfehlerhaft auf einen elektronisch gespeicherten Videofilm (vgl. BGH, Urteil vom 2. November 2011 - 2 StR 332/11 Rn. 14 ff.) verwiesen hat.

3. Der aufgezeigte Rechtsfehler entzieht zugleich dem bedingten Schädigungsvorsatz des Angeklagten im Rahmen von § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB (vgl. hierzu allgemein BGH, Beschluss vom 19. November 2020 - 4 StR 240/20 Rn. 26 mwN) die Grundlage. Die tateinheitlich ausgeurteilten Delikte waren allerdings ohnehin mitaufzuheben (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Juni 2021 - 4 StR 312/20 Rn. 10). Der Senat hebt ferner alle Feststellungen auf (§ 353 Abs. 2 StPO), um insgesamt widerspruchsfreie neue Feststellungen zu ermöglichen.

4. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass das nunmehr zur Entscheidung berufene Tatgericht - sollte es erneut ein versuchtes Tötungsdelikt bejahen - auch einen Rücktritt des Angeklagten zu prüfen haben wird. Hierfür ist dessen Vorstellungsbild nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung maßgeblich (vgl. BGH, Beschluss vom 3. März 2021 - 4 StR 514/20 Rn. 7 mwN).

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 1222

Externe Fundstellen: StV 2022, 161

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß