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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 863

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 353/20, Urteil v. 24.06.2021, HRRS 2021 Nr. 863


BGH 4 StR 353/20 - Urteil vom 24. Juni 2021 (LG Bochum)

Grenzen der Revisibilität (beschränkte Revisibilität der Beweiswürdigung); Zweifelssatz; Beweiswürdigung (umfassende Gesamtwürdigung einzelner Beweisergebnisse; Vergewaltigung; Körperverletzung).

§ 261 StPO; § 337 StPO

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Nebenklägerin wird das Urteil des Landgerichts Bochum vom 27. Februar 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagten vom Vorwurf der Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung freigesprochen. Die hiergegen gerichtete, auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision der Nebenklägerin hat Erfolg.

I.

Die unverändert zur Hauptverhandlung zugelassene Anklage legt den Angeklagten zur Last, am 15. Juli 2018 die Nebenklägerin im Zimmer des Angeklagten S. gemeinsam gegen ihren ausdrücklich geäußerten Willen ausgezogen und mehrfach ins Gesicht geschlagen zu haben. Anschließend sollen beide Angeklagte in abwechselnden Positionen den Vaginal- und Oralverkehr gegen den Willen der Nebenklägerin durchgeführt haben.

II.

Das Landgericht hat die Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Es hat folgende Feststellungen getroffen:

Die Angeklagten lernten die Nebenklägerin sowie deren Freundin, die Zeugin O., in einer Nacht im Juli 2018 in einer Diskothek kennen. Anschließend fuhren sie gemeinsam zur Wohnung des Angeklagten S., wo es in dessen Bett zwischen ihm und der Nebenklägerin wie schon zuvor in der Diskothek zum Austausch von Küssen kam. Als sich die Zeugin O. in das Badezimmer begab, folgte ihr der Angeklagte B. Während eines einverständlichen Kusses fasste ihr der Angeklagte B. an den Hals und gab ihr deutlich zu erkennen, dass er sexuellen Verkehr mit ihr wünsche. Dies lehnte die Zeugin ab, woraufhin der Angeklagte B. sie losließ. Er erklärte ihr sodann, die Nebenklägerin müsse aber bleiben, wenn die Zeugin gehe, „entweder du oder sie“. Die Zeugin verließ sodann die Wohnung.

Die Nebenklägerin verblieb in der Wohnung. In der Folge kam es zu sexuellen Handlungen, jedenfalls zur wechselseitigen Durchführung des Oralverkehrs zwischen den Angeklagten und der Nebenklägerin.

Das Landgericht hat sich aufgrund nicht zu überwindender Zweifel an der Zuverlässigkeit der Aussage der Nebenklägerin nicht davon zu überzeugen vermocht, dass die Angeklagten die Nebenklägerin gegen ihren Willen entkleideten, sie schlugen und unter Anwendung von Gewalt zu sexuellen Handlungen zwangen. Es sei vielmehr nicht auszuschließen, dass sie den Angeklagten gegenüber ihre eigentlich ablehnende Haltung, soweit es diese gegeben habe, nicht ausreichend erkennbar gemacht habe, so dass diese von einem Einverständnis der Nebenklägerin mit sexuellen Handlungen hätten ausgehen dürfen.

III.

Das Rechtsmittel der Nebenklägerin hat Erfolg. Die Beweiswürdigung des Landgerichts hält revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand.

1. Das Revisionsgericht muss es grundsätzlich hinnehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters (§ 261 StPO). Ihm obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 18. März 2021 - 4 StR 480/20; Urteil vom 1. Februar 2017 ? 2 StR 78/16 mwN). Es kommt nicht darauf an, ob das Revisionsgericht angefallene Erkenntnisse anders gewürdigt oder Zweifel überwunden hätte. Vielmehr hat es die tatrichterliche Überzeugungsbildung selbst dann hinzunehmen, wenn eine andere Beurteilung nähergelegen hätte oder überzeugender gewesen wäre (vgl. BGH, Urteil vom 24. März 2015 ? 5 StR 521/14, NStZ-RR 2015, 178, 179). Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich allein darauf, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Das Urteil muss erkennen lassen, dass der Tatrichter solche Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat. Aus den Urteilsgründen muss sich ferner ergeben, dass die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteile vom 30. Juli 2019 - 4 StR 603/19; vom 23. Juli 2008 ? 2 StR 150/08, NJW 2008, 2792, 2793 mwN).

2. Gemessen daran begegnet die Beweiswürdigung durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Sie weist Erörterungsmängel bei der Würdigung der Aussage der Nebenklägerin auf und erweist sich deshalb als lückenhaft.

a) Das Landgericht hat die polizeiliche Aussage des Angeklagten B., der sich ebenso wie der Mitangeklagte in der Hauptverhandlung zur Sache nicht eingelassen hat, nicht ausreichend in die Beweiswürdigung einbezogen. Eine Würdigung dieser Aussage in Bezug auf den Wahrheitsgehalt der Aussage der Nebenklägerin hat es nicht vorgenommen. Dies wäre jedoch erforderlich gewesen, da die polizeiliche Aussage des Angeklagten B. in mehrfacher Hinsicht mit den Angaben der Nebenklägerin übereinstimmt. So räumte der Angeklagte in objektiver Hinsicht ein, seinen Finger in die Vagina der Nebenklägerin eingeführt zu haben, während sie den Oralverkehr an dem Angeklagten S. ausgeführt habe. Sodann hätten sich die Angeklagten „ein paar Mal“ abgewechselt. Insbesondere stellte der Angeklagte B. nicht grundsätzlich in Abrede, dass es auch zu Schlägen gekommen sei, wenngleich er sich hieran nicht erinnere; jedenfalls sei dies dann nur so gewesen „wie man das beim Sex macht“. Insoweit deckt sich die Schilderung zum äußeren Geschehen in wesentlichen Teilen mit den Angaben der Nebenklägerin. Die Einlassung des Angeklagten B. bei der Polizei ist aber darüber hinaus auch deshalb für die Glaubhaftigkeitsbeurteilung der Aussage der Nebenklägerin von Bedeutung, weil sie zudem von den polizeilichen Angaben des Angeklagten S. abweicht, der nur von - einvernehmlichem - abwechselndem Oralverkehr mit der Nebenklägerin berichtete. Auch wenn sich aus der teilweise bestehenden Übereinstimmung der Aussagen des Angeklagten B. und der Nebenklägerin zum objektiven Geschehen nicht unmittelbar ergibt, dass die Angeklagten die sexuellen Handlungen gegen den geäußerten Willen der Nebenklägerin ausübten, hätte das Landgericht diesen Umstand insbesondere vor dem Hintergrund der vom Angeklagten B. nicht in Abrede gestellten Verabreichung von Schlägen in den Blick nehmen und in die Glaubhaftigkeitsbeurteilung der Aussage der Nebenklägerin, die sexuellen Handlungen seien auch durch Schläge erzwungen worden, einstellen müssen. Dies ist nicht geschehen.

Hinzu kommt, dass die Schilderung von Schlägen der Angeklagten durch die Nebenklägerin mit einer von der Strafkammer allein als möglich erachteten unbewussten Falschbelastung der Angeklagten seitens der Nebenklägerin auf der Grundlage einer unrichtigen Erinnerung des eigenen Verhaltens nicht plausibel erklärt werden kann.

b) Das Landgericht hat außerdem ein wesentliches - mit Umständen außerhalb der Aussage übereinstimmendes - Realkennzeichen der Aussage der Nebenklägerin verkürzt gewürdigt. Die Nebenklägerin gab bereits bei ihrer ergänzenden Vernehmung bei der Polizei am 17. Juli 2018 an, dass der Angeklagte B., nachdem die Angeklagten von ihr abgelassen hatten, gesagt habe, „er werde ‚wieder im Knast‘ landen, wenn das alles rauskäme“. Diese Aussage, die sie in der Hauptverhandlung wiederholte, stimmt mit dem Umstand überein, dass der Angeklagte B. im Jahr 2015 zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt worden war und diese Strafe teilweise verbüßt hatte. Das Landgericht hat diesen Teil der Aussage der Nebenklägerin jedoch lediglich insoweit gewürdigt, als sie mit Ausnahme dieses angeblich geäußerten Satzes keine konkreten Gesprächsanteile habe wiedergeben können, ihre Aussage deshalb Detailreichtum vermissen lasse. Auch dies greift zu kurz. Das Landgericht hat nicht bedacht, dass die auf einem realen Hintergrund basierende Äußerung des Angeklagten in Verknüpfung mit der konkreten Situation einem Schuldeingeständnis gleichkommen und die Aussage der Nebenklägerin stützen könnte.

c) Das vom Landgericht festgestellte Verhalten des Angeklagten B. im Badezimmer gegenüber der Zeugin O. („entweder du oder sie“) hat das Landgericht ebenfalls nicht erschöpfend gewürdigt. Vielmehr lassen die Ausführungen des Landgerichts besorgen, dass es dieses Verhalten maßgeblich unter dem Gesichtspunkt erörtert hat, wie die Zeugin O. dieses Verhalten „interpretierte“. Die Zeugin habe der Bemerkung keine große Bedeutung beigemessen und sei nicht davon ausgegangen, dass „die Angeklagten zur Durchführung des Geschlechtsverkehrs auch gegen den Willen der Zeuginnen entschlossen gewesen seien und wenn sie - die Zeugin O. - nicht selbst zum Opfer werden solle, dann müsse die Nebenklägerin bei den Angeklagten verbleiben.“ Auch diese Würdigung verkürzt den Indizwert der Äußerung, weil es nicht darauf ankommt, wie die Zeugin das Verhalten des Angeklagten B. verstand. Vielmehr hätte das Landgericht seinen Blick darauf richten müssen, was der Angeklagte B. in der konkreten Situation, der nach der Aussage der Zeugin eine grobe Ansprache und ein Griff an den Hals der Zeugin vorausging, mit dieser Äußerung zum Ausdruck bringen wollte.

d) Das Landgericht hat sich auch nicht erschöpfend mit der von der Nebenklägerin geschilderten Brandverletzung auseinandergesetzt. Nach den Feststellungen entdeckte die Mutter der Nebenklägerin kurze Zeit nach dem Vorfall eine Brandwunde auf deren Rücken, worauf die Nebenklägerin erklärte, die Angeklagten hätten dort eine Zigarette ausgedrückt. Bei der Polizei gab sie hierzu an, dass ein Angeklagter sie festgehalten habe, der andere habe sie ausgezogen, während sie immer wieder widersprochen habe. Daraufhin sei sie geschlagen worden und man habe eine Zigarette auf ihrem Rücken ausgedrückt. Das Landgericht hat auch diese Angaben der Nebenklägerin lediglich unter dem Gesichtspunkt der Detailliertheit der Aussage gewürdigt. Es ist aber bereits unklar geblieben, ob das Landgericht davon ausgegangen ist, dass der Nebenklägerin während des Vorfalls in der Wohnung tatsächlich eine Brandverletzung zugefügt wurde. Wäre dies der Fall gewesen, hätte das Landgericht auch diesen Umstand in die Würdigung der Aussage der Nebenklägerin einstellen müssen.

e) Es kommt angesichts der dargestellten Mängel in der Beweiswürdigung nicht mehr entscheidungserheblich darauf an, dass in dem Urteil Plausibilitätserwägungen breiten Raum einnehmen, die sich jedenfalls teilweise als spekulativ und nicht hinreichend tatsachengestützt erweisen.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 863

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß