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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 898

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 597/19, Beschluss v. 09.11.2020, HRRS 2021 Nr. 898


BGH 4 StR 597/19 - Beschluss vom 9. November 2020 (LG Detmold)

Durchbrechung der Rechtskraft (keine Aufhebung eines lediglich versehentlich auf einer unzutreffenden tatsächlichen Grundlage ergangenen Senatsbeschlusses).

§ 349 Abs. 2, 4 und 5 StPO; § 356a StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Zur Ablehnung einer ausnahmsweisen Durchbrechung der formellen bzw. materiellen Rechtskraft einer Revisionsentscheidung, wenn eine Senatsentscheidung zwar auf einer tatsächlich falschen Grundlage ergangen ist, dies aber nicht Folge einer unvollständigen oder falschen Aktenlage war, sondern auf einem Versehen beruhte.

2. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs können Entscheidungen des Revisionsgerichts grundsätzlich weder aufgehoben noch abgeändert werden. Das gilt nicht nur für nach § 349 Abs. 2 StPO ergangene Beschlüsse über die Verwerfung der Revision, durch die das Verfahren wie durch ein Verwerfungsurteil nach § 349 Abs. 5 StPO rechtskräftig abgeschlossen wird, sondern auch für einen nach § 349 Abs. 4 StPO gefassten Beschluss, mit dem die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Tatgericht zurückverwiesen wird und der deshalb lediglich formelle Rechtskraft erlangt. Ein Bedürfnis der Rechtspflege und der Allgemeinheit nach Rechtssicherheit verbietet es auch im Revisionsverfahren, einen Eingriff in die Rechtskraft einer gerichtlichen Sachentscheidung zuzulassen, es sei denn, die Voraussetzungen der speziell für diesen Verfahrensabschnitt geltenden Ausnahmevorschrift des § 356a StPO wären erfüllt, wonach die Entscheidung des Revisionsgerichts unter Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör zustande gekommen ist.

3. Die Rechtsprechung hat eine Korrektur einer formell bzw. materiell rechtskräftigen Revisionsentscheidung nur in eng begrenzten Ausnahmefällen zugelassen (bei irrtümlicher Annahme der Mitwirkung eines funktionell unzuständigen Urkundsbeamten bei Anbringung der Revisionsanträge; bei fehlender Kenntnis des Revisionsgerichts von der Revisionsrücknahme und der Entscheidung des Landgerichts über die Kostenfolge, die den dem Revisionssenat vorgelegten Akten nicht beigefügt waren; bei Verursachung des Irrtums des Revisionsgerichts über ein Verfahrenshindernis durch eine dem Angeklagten zuzurechnende Täuschung; zur Verfahrenseinstellung nach nachträglich bekannt gewordenem Tod des Beschwerdeführers).

Entscheidungstenor

Der Antrag des Generalbundesanwalts vom 15. Oktober 2020, den Beschluss des Senats vom 5. Mai 2020 aufzuheben und das Verfahren fortzusetzen, wird abgelehnt. Es verbleibt bei der Entscheidung des Senats vom 5. Mai 2020.

Gründe

Das Landgericht Detmold hatte den Angeklagten am 9. Juli 2019 wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Auf die Revision des Angeklagten hob der Senat mit Beschluss vom 5. Mai 2020 das Urteil im Strafausspruch gemäß § 349 Abs. 4 StPO auf und verwies die Sache insoweit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurück; die weiter gehende Revision des Angeklagten wurde gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.

I.

Eine erneute Hauptverhandlung hat bislang noch nicht stattgefunden. Vielmehr sind die Akten über den Generalbundesanwalt erneut dem Bundesgerichtshof vorgelegt worden mit dem Antrag, den Senatsbeschluss vom 5. Mai 2020 aufzuheben und das Verfahren fortzusetzen.

Dem Antrag liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

Die von der Strafkammer des Landgerichts auf der Grundlage der Beratung verfasste, 16 Seiten umfassende, ordnungsgemäß unterschriebene und zur Zustellung an die Verfahrensbeteiligten bestimmte Urteilsurkunde ging am 9. August 2019 auf der Geschäftsstelle des Landgerichts ein. Aus nicht mehr aufklärbaren Gründen gelangte neben dem Original der Urteilsurkunde auch eine 18 Seiten umfassende „beglaubigte Abschrift“ eines Urteilsentwurfs zu den Gerichtsakten, die mit der Urschrift nicht übereinstimmte, vielmehr in der Beweiswürdigung und bei der Strafzumessung von der Originalurkunde abwich. Entgegen der Zustellungsverfügung des Vorsitzenden der Strafkammer vom 9. August 2019, die sich auf die Originalurkunde des Urteils bezog, wurde den Verteidigern versehentlich eine Ausfertigung der Entwurfsfassung zugestellt, die nicht als Urteilsentwurf erkennbar war. Nach Eingang der Revisionsbegründung, mit der die Verteidiger sachlich-rechtliche Fehler des ihnen zugestellten „Urteils“ beanstandeten, wurde - aus ebenfalls nicht mehr aufklärbaren Gründen - auch nur der 18-seitige Urteilsentwurf als „beglaubigte Abschrift“ zu den Handakten des Generalbundesanwalts und sodann zu dem für die Revisionsinstanz zusammengestellten sogenannten Senatsheft genommen. Auf dieser Grundlage erstellte der Generalbundesanwalt seinen auf § 349 Abs. 2 StPO gestützten Verwerfungsantrag und fasste der Senat seinen Beschluss vom 5. Mai 2020. Zum Zeitpunkt der Beschlussfassung befand sich die Originalurkunde des Urteils in den dem Senat ebenfalls vorgelegten Gerichtsakten.

II.

Eine Aufhebung des Senatsbeschlusses vom 5. Mai 2020 kommt in der hier vorliegenden Fallkonstellation nicht in Betracht. Es verbleibt bei der teilaufhebenden Entscheidung.

1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs können Entscheidungen des Revisionsgerichts grundsätzlich weder aufgehoben noch abgeändert werden. Das gilt nicht nur für nach § 349 Abs. 2 StPO ergangene Beschlüsse über die Verwerfung der Revision, durch die das Verfahren wie durch ein Verwerfungsurteil nach § 349 Abs. 5 StPO rechtskräftig abgeschlossen wird (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. Januar 1962 - 4 StR 392/61, BGHSt 17, 94, und vom 24. März 2011 - 4 StR 637/10), sondern auch für einen nach § 349 Abs. 4 StPO gefassten Beschluss, mit dem die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Tatgericht zurückverwiesen wird und der deshalb lediglich formelle Rechtskraft erlangt (vgl. BGH, Beschluss vom 10. September 2015 ? 4 StR 24/15 Rn. 8 mwN; vgl. auch Beschluss vom 4. April 2006 ? 5 StR 514/04 für Entscheidungen nach § 349 Abs. 2 i.V.m. Abs. 4 StPO). Ein Bedürfnis der Rechtspflege und der Allgemeinheit nach Rechtssicherheit verbietet es auch im Revisionsverfahren, einen Eingriff in die Rechtskraft einer gerichtlichen Sachentscheidung zuzulassen, es sei denn, die Voraussetzungen der speziell für diesen Verfahrensabschnitt geltenden Ausnahmevorschrift des § 356a StPO wären erfüllt, wonach die Entscheidung des Revisionsgerichts unter Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör zustande gekommen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 10. September 2015 - 4 StR 24/15 mwN; Beschluss vom 14. November 2019 - 1 StR 62/19).

2. Zwar hat die Rechtsprechung eine Korrektur einer formell bzw. materiell rechtskräftigen Revisionsentscheidung in eng begrenzten Ausnahmefällen zugelassen (vgl. RG, Beschluss vom 13. November 1925 - I 512/25, RGSt 59, 419 bei irrtümlicher Annahme der Mitwirkung eines funktionell unzuständigen Urkundsbeamten bei Anbringung der Revisionsanträge; BGH, Beschluss vom 28. Januar 1997 - 1 StR 456/96 bei fehlender Kenntnis des Revisionsgerichts von der Revisionsrücknahme und der Entscheidung des Landgerichts über die Kostenfolge, die den dem Revisionssenat vorgelegten Akten nicht beigefügt waren; BGH, Beschluss vom 21. Dezember 2007 - 2 StR 485/06 bei Verursachung des Irrtums des Revisionsgerichts über ein Verfahrenshindernis durch eine dem Angeklagten zuzurechnende Täuschung; BGH, Beschluss vom 27. Oktober 2015 - 1 StR 162/15 zur Verfahrenseinstellung nach nachträglich bekannt gewordenem Tod des Beschwerdeführers).

Ein solcher Ausnahmefall, der eine Durchbrechung der formellen bzw. materiellen Rechtskraft einer Revisionsentscheidung rechtfertigen könnte, liegt aber jedenfalls unter den hier gegebenen Umständen nicht vor.

a) Den den vorgenannten Ausnahmeentscheidungen zugrundeliegenden Fallkonstellationen ist - soweit ersichtlich - gemein, dass die jeweiligen Revisionsentscheidungen auf einer - nicht erkennbar - unvollständigen oder falschen Aktenlage getroffen wurden und dem Revisionsgericht infolgedessen für das Revisionsverfahren erhebliche prozessuale Tatsachen verborgen blieben oder ihm für die Revisionsentscheidung maßgebliche verfahrensverändernde Entscheidungen nicht bekannt wurden.

Von dieser engen Begrenzung einer Rechtskraftdurchbrechung ist auch der 1. Strafsenat in seiner Entscheidung vom 14. November 2019 (1 StR 62/19) ausgegangen und hat die Aufhebung eines lediglich versehentlich auf einer unzutreffenden tatsächlichen Grundlage ergangenen Senatsbeschlusses abgelehnt. Der Entscheidung lag ein Fall zugrunde, in welchem statt des nach Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 267 Abs. 4 Satz 4 StPO ergänzten, zugestellten und vom Angeklagten mit der Revision angegriffenen Urteils aufgrund eines Versehens lediglich die Ausfertigung der Fassung des ursprünglich gemäß § 267 Abs. 4 StPO abgekürzten Urteils zum Senatsheft gelangte, auf dessen Grundlage sodann ein Senatsbeschluss gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO erging. Zur Begründung hat der 1. Strafsenat darauf verwiesen, dass der von der Tatsacheninstanz vollständig vorgelegte Akteninhalt lediglich nicht vollständig - soweit für die Revisionsentscheidung erforderlich - zum Inhalt des Senatshefts gelangte. Ein solches Versehen könne jedoch einen Eingriff in die formelle bzw. materielle Rechtskraft einer Entscheidung im Revisionsverfahren nicht rechtfertigen.

b) So liegt der Fall auch hier.

Dem Senat lagen bei seiner Beschlussfassung die vollständigen Akten der Tatsacheninstanz einschließlich der Urteilsurkunde im Original vor. Auch im vorliegenden Fall war es einem Versehen geschuldet, dass bei der Zusammenstellung des lediglich für den internen Gebrauch bestimmten Senatshefts (vgl. dazu BGH, Urteil vom 18. Juni 2009 - 3 StR 89/09 [unter dem Gesichtspunkt des Akteneinsichtsrechts]) nicht eine Kopie oder eine Ausfertigung der Urschrift des Urteils, sondern eine „Ausfertigung“ des Urteilsentwurfs zu den senatsinternen Akten gelangte, auf dessen Grundlage die Beschlussfassung erfolgte. Die Aktenvorlage war indes vollständig erfolgt. Die Senatsentscheidung ist deshalb zwar auf einer tatsächlich falschen Grundlage ergangen; dies war aber nicht Folge einer unvollständigen oder falschen Aktenlage, sondern beruhte auf einem Versehen.

Der Senat folgt daher für den vorliegenden Fall der Rechtsauffassung des 1. Strafsenats, zumal sich auch in Ansehung des Originalurteils die auf falscher Tatsachengrundlage getroffene teilaufhebende Senatsentscheidung zum Vorteil des Angeklagten auswirkt. Soweit sich aus der Entscheidung des Senats vom 10. September 2015 (4 StR 24/15) etwas anderes ergibt, hält der Senat hieran nicht fest.

Es verbleibt nach alledem bei der Senatsentscheidung vom 5. Mai 2020.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 898

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2021, 255

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner