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HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 328

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 287/17, Beschluss v. 07.12.2017, HRRS 2018 Nr. 328


BGH 4 StR 287/17 - Beschluss vom 7. Dezember 2017 (LG Essen)

Lückenhafte Beweiswürdigung.

§ 261 StPO

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Essen vom 9. Februar 2017 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen Person (§ 179 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 Nr. 1 StGB aF) in zwei Fällen unter Einbeziehung einer anderen Strafe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision. Die Verfahrensbeanstandung ist aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts unzulässig; das Rechtsmittel hat jedoch mit der Sachrüge Erfolg.

1. Nach den Feststellungen verbrachte die Nebenklägerin den späten Abend des 22. August 2015 gemeinsam mit dem Angeklagten und der Zeugin J. ; die beiden Frauen tranken Mischgetränke aus Wodka und Eistee. Gegen Mitternacht brachen der Angeklagte und die Nebenklägerin auf, um gemeinsam den Zeugen W. zu besuchen. Zu diesem Zeitpunkt war die Nebenklägerin aufgrund ihres Alkoholkonsums „deutlich angeheitert“, wies aber keine sonstigen Ausfallerscheinungen auf. Bei dem Zeugen W. trank sie weniger als ein Glas Bier oder Wein. Auf der Rückfahrt vom Wohnort des Zeugen W. beschloss der Angeklagte, mit der Nebenklägerin, die während der Autofahrt eingeschlafen war, zu sich nach Hause zu fahren. Dort angekommen, befand sich die Nebenklägerin aufgrund ihrer Alkoholisierung in einem „nahezu lethargischen Zustand“; ihr war es nur noch in geringem Maße möglich, sich zu bewegen, und sie vermochte nicht mehr ihrem Willen entsprechend zu handeln. Sie ließ sich von dem Angeklagten zu dessen im zweiten Obergeschoss liegender Wohnung und dort in das Schlafzimmer führen, wo sie sich auf das Bett legte. Der Angeklagte schenkte ihr ein Glas Rotwein ein, das sie jedoch nicht mehr halten konnte und dessen Inhalt verschüttet wurde. Spätestens zu diesem Zeitpunkt erkannte der Angeklagte, dass sich die Nebenklägerin gegen die Vornahme sexueller Handlungen durch ihn nicht würde wehren können. Er beschloss, dies auszunutzen, und führte den vaginalen Geschlechtsverkehr mit ihr durch. Anschließend schlief sie ein. Im weiteren Verlauf der Nacht vollzog der Angeklagte ein weiteres Mal den vaginalen Geschlechtsverkehr mit ihr.

2. Das angefochtene Urteil kann nicht bestehen bleiben, da die Beweiswürdigung des Landgerichts - auch unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsumfangs (vgl. BGH, Urteile vom 12. Januar 2017 - 1 StR 360/16, NStZ-RR 2017, 185 [Ls]; vom 18. September 2008 - 5 StR 224/08, NStZ 2009, 401, 402; vom 20. Juni 2013 - 4 StR 159/13, juris Rn. 19) - rechtlicher Überprüfung nicht standhält. Sie erweist sich als lückenhaft.

a) Das Landgericht hat angenommen, dass sich die Nebenklägerin sowohl während des erstmaligen als auch noch zum Zeitpunkt des späteren zweiten Geschlechtsverkehrs infolge einer akuten Alkoholintoxikation in einem Zustand tiefgreifender Bewusstseinsstörung befand und sie aufgrund dessen widerstandsunfähig im Sinne des § 179 Abs. 1 Nr. 1 StGB aF war. Seine Überzeugung, dass die Alkoholisierung der Nebenklägerin dieses Ausmaß erreichte, hat die Strafkammer maßgeblich auf die Angaben der von ihr gehörten psychiatrischen Sachverständigen gestützt. Die Sachverständige hat ausgeführt, bei einer nicht trinkgewohnten Person von zierlicher Statur - wie dies auf die Nebenklägerin zutreffe - seien „deutliche Veränderungen“ nach Alkoholkonsum „durchaus häufig“. Diese müssten nicht zwangsläufig motorischer Natur sein, sondern könnten auch zu dem von der Nebenklägerin beschriebenen apathischen, schläfrigen Zustand führen, und zwar bereits ab einem Blutalkoholgehalt von etwa 2,3 bis 2,5 Promille. Allerdings sei eine Bestimmung der Blutalkoholkonzentration der Nebenklägerin „aufgrund der Unklarheiten zu den Trinkmengen, der Trinkdauer und des Trinkzeitendes“ nicht möglich gewesen (UA 24). Das Landgericht ist den Angaben der Sachverständigen gefolgt und hat das Vorliegen einer akuten Alkoholintoxikation der Nebenklägerin zum Zeitpunkt der Taten bejaht. Feststellungen zur Höhe der Blutalkoholkonzentration der Nebenklägerin hat es nicht getroffen.

b) Damit weist die Beweiswürdigung des angefochtenen Urteils im Hinblick auf das Ausmaß der Alkoholisierung der Nebenklägerin zum Zeitpunkt der Taten eine Lücke auf. Da das Landgericht im Anschluss an die Ausführungen der Sachverständigen davon ausgegangen ist, dass der „apathische“, zur Widerstandsunfähigkeit im Sinne des § 179 Abs. 1 Nr. 1 StGB aF führende Zustand der Nebenklägerin zumindest eine Blutalkoholkonzentration von etwa 2,3 Promille voraussetzte, durfte es jedenfalls hier nicht offen lassen, ob die Alkoholisierung der Nebenklägerin diesen Wert auch tatsächlich erreichte, sondern hätte ihre Blutalkoholkonzentration für die beiden Tatzeitpunkte bestimmen müssen (vgl. für die Errechnung der Blutalkoholkonzentration des Angeklagten BGH, Urteil vom 13. Mai 1993 - 4 StR 183/93, StV 1993, 519; Beschlüsse vom 28. April 2010 - 5 StR 135/10, NStZ-RR 2010, 257, 258; vom 20. November 1990 - 2 StR 424/90, BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 23). Angesichts der relativ genauen Angaben im Urteil sowohl zu den Trinkmengen als auch zu den Trinkzeiten der Nebenklägerin - hiernach trank sie etwa zwischen 22 und 24 Uhr drei oder vier Wodka-Eistee-Mischgetränke, wobei die Wodkamenge den Angaben der Zeugin J. zufolge jeweils anderthalb bis zwei „Daumenbreit“ betrug und jedenfalls das erste Getränk deutlich mehr Eistee als Wodka enthielt (UA 18), und während des anschließenden Aufenthalts beim Zeugen W. weniger als ein Glas Bier oder Wein (UA 20) - ist auch nicht ersichtlich, dass eine Errechnung der Blutalkoholkonzentration vorliegend nicht möglich gewesen wäre.

Die lückenhafte Beweiswürdigung, auf der die Verurteilung insgesamt beruht, führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils einschließlich der getroffenen Feststellungen.

3. Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung. Das neue Tatgericht wird Gelegenheit haben, zur Ermittlung der Alkoholisierung der Nebenklägerin einen rechtsmedizinischen Sachverständigen hinzuzuziehen.

HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 328

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2018, 150; StV 2019, 547; StV 2019, 547

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede