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HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 1069

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 190/17, Beschluss v. 02.08.2017, HRRS 2017 Nr. 1069


BGH 4 StR 190/17 - Beschluss vom 2. August 2017 (LG Baden-Baden)

Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen; verminderte Schuldfähigkeit (gerichtliche Nachforschungen zu altersbedingten psychischen Veränderungen).

§ 20 StGB; § 21 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Zwar besteht nach der Rechtsprechung nicht bei jedem Täter, der jenseits einer bestimmten Altersgrenze erstmals Sexualstraftaten begeht, Anlass, der Frage einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit oder gar einer Schuldunfähigkeit nachzugehen.

2. Jedoch sind die Prüfung dieser Frage und ihre Erörterung im Urteil jedenfalls dann veranlasst, wenn neben der erstmaligen Sexualdelinquenz in hohem Alter weitere Besonderheiten in der Person des Täters bestehen, die geeignet sind, auf die Möglichkeit einer durch Altersabbau bedingten Enthemmtheit hinzudeuten.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Baden-Baden vom 16. Dezember 2016 mit den Feststellungen aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen bestehen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in zwei Fällen bei Freisprechung im Übrigen zu einer unbedingten Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner allgemein auf die Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

1. Bereits der Schuldspruch des angefochtenen Urteils begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Das Landgericht hat seinem Urteil ohne jegliche Erörterung die Annahme uneingeschränkter Schuldfähigkeit des Angeklagten bei Begehung der Taten zugrunde gelegt, ohne die Möglichkeit eines Ausschlusses oder einer erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB zu prüfen. Dies ist ein auf die Sachrüge zu prüfender sachlich-rechtlicher Mangel, da sich die maßgeblichen Umstände aus dem Urteil selbst ergeben (vgl. BGH, Beschlüsse vom 12. Juli 1995 - 5 StR 297/95, StV 1995, 633; vom 24. August 1993 - 4 StR 452/93, StV 1994, 14; vom 6. November 1992 - 2 StR 480/92, NStZ 1993, 332).

a) Zwar besteht nach der Rechtsprechung nicht bei jedem Täter, der jenseits einer bestimmten Altersgrenze erstmals Sexualstraftaten begeht, Anlass, der Frage einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit oder gar einer Schuldunfähigkeit nachzugehen (vgl. BGH, Urteil vom 11. August 1998 - 1 StR 338/98, NStZ 1999, 297 f.; Beschluss vom 11. Januar 2005 - 3 StR 450/04, NStZ-RR 2005, 167 f.). Jedoch sind die Prüfung dieser Frage und ihre Erörterung im Urteil jedenfalls dann veranlasst, wenn neben der erstmaligen Sexualdelinquenz in hohem Alter weitere Besonderheiten in der Person des Täters bestehen, die geeignet sind, auf die Möglichkeit einer durch Altersabbau bedingten Enthemmtheit hinzudeuten (vgl. BGH, Urteil vom 13. Oktober 2005 - 5 StR 347/05, NStZ-RR 2006, 38; Beschlüsse vom 6. November 1992 - 2 StR 480/92, aaO; vom 25. November 1988 - 4 StR 523/88, BGHR StGB § 21 Sachverständiger 5).

b) So verhält es sich hier. Nach den Feststellungen der Strafkammer ist der zum Zeitpunkt der Taten 94-jährige Angeklagte zuvor weder durch Sexualstraftaten noch sonst strafrechtlich in Erscheinung getreten. Hinzu kommt, dass der Angeklagte eine Vielzahl auch altersbedingter gesundheitlicher Leiden hat (UA S. 4). So leidet er an Diabetes, Herzrhythmusstörungen, Osteochrondose und den Folgen eines Schlaganfalls; auch kann er sich aufgrund altersbedingter Mobilitätseinschränkungen nur noch mit Hilfe eines Rollators oder eines Gehstocks fortbewegen; das Landgericht beschreibt seinen Zustand insgesamt als „hochbetagt“ (UA S. 12). Der Senat kann vor diesem Hintergrund nicht ausschließen, dass die Schuldfähigkeit des Angeklagten bei Begehung der Taten infolge altersbedingter auch psychischer Veränderungen erheblich vermindert gemäß § 21 StGB oder aufgehoben im Sinne des § 20 StGB war.

2. Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung. Von dem aufgezeigten Rechtsfehler sind die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen, die auch im Übrigen rechtsfehlerfrei getroffen sind, nicht berührt. Sie können deshalb bestehen bleiben.

3. Das neue Tatgericht wird zu bedenken haben, ob zur Beurteilung der Frage einer erheblichen Verminderung oder Aufhebung der Schuldfähigkeit des Angeklagten ein Sachverständiger mit besonderer Erfahrung auf dem Gebiet des Altersabbaus in Anspruch zu nehmen sein wird (vgl. BGH, Urteil vom 13. Oktober 2005 - 5 StR 347/05, aaO; Beschlüsse vom 11. Januar 2005 - 3 StR 450/04, aaO; vom 25. November 1988 - 4 StR 523/88, aaO; Kröber, NStZ 1999, 298 f.). Sollte auch das neue Tatgericht die Verhängung einer Freiheitsstrafe für erforderlich erachten, wird es bei der Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung zu erwägen haben, ob anstelle einer Bewährungsversagung andere geeignete Maßnahmen zur Verfügung stehen, um einer erneuten Straffälligkeit des Angeklagten entgegen zu wirken.

HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 1069

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2018, 24 ; StV 2018, 211

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner